
Heinrich Hiesinger wunderte sich. Stieg der ThyssenKrupp-Chef in einen der gläsernen Aufzüge in der Konzernzentrale am Essener Berthold-Beitz-Boulevard, blieben andere Manager stets wie auf Kommando davor stehen. Erst wenn Hiesinger nach oben enteilt war, trauten sich die Subalternen in den Lift.
Ob das immer so sei, dass andere Manager nicht mit dem Vorstandschef Aufzug fahren, fragte Hiesinger irgendwann einmal einen der Wartenden. "Ja, Herr Dr. Hiesinger", gab der Angesprochene zurück. Jahrelang hätten Hiesingers Vorgänger Ekkehard Schulz und dessen Oberaufseher Gerhard Cromme darauf bestanden.
Die Mischung aus Majestätischem und Barockem bei dem Ruhrgiganten (40 Milliarden Euro Umsatz, 150 000 Mitarbeiter, fünf Milliarden Euro Verlust) zerbricht gerade an dem württembergischen Bauernsohn im Chefsessel und an dem schlimmen Missmanagement des Gespanns Schultz/Cromme in der Vergangenheit. Denn das Konglomerat aus Stahlerzeugung, Autoteilefertigung sowie Anlagen-, U-Boot- und Aufzugsbau steht vor der Zerreißprobe. Während die überbordende Bürokratie aus früheren Zeiten den Konzern lähmt und nur durch Massenentlassungen zu beseitigen ist, ficht Hiesinger an anderer Stelle um die Befreiung von einer mindestens ebenso großen Bedrohung: den hoch defizitären Stahlwerken in Amerika.
Schwierige Verhandlungen um Stahlwerke
Hier liegen die Dinge ebenfalls nicht so, dass Hiesinger entspannt einer Lösung des Problems entgegensehen könnte. Denn die Verkaufsverhandlungen der neuen Stahlwerke in Brasilien und den USA, die sich wegen gigantischer Kostenüberschreitungen als Fehlinvestitionen herausstellten, scheinen zurzeit nur noch auf einen Kaufinteressenten zuzulaufen: den brasilianischen Stahlunternehmer Benjamin Steinbruch. Der indische Stahltycoon Lakshmi Mittal, Mehrheitsaktionär des luxemburgischen Stahlkonzerns ArcelorMittal, interessierte sich auch für die ThyssenKrupp-Werke in Übersee, steht aber inzwischen abseits. US-Unterhändler anderer Stahlkonzerne haben die Gespräche mit den Essenern wegen zu langer Abstimmungsprozeduren abgebrochen. "Vor Angst, Fehler zu begehen, nehmen Manager kaum Fühlung zu anderen Interessenten wie japanischen oder russischen Stahlunternehmen auf", kritisiert ein Kruppianer.





Verhandlungen mit Steinbruch sind für Hiesinger jedoch eine besondere Qual. Der Brasilianer gilt in der Stahlbranche als streitsüchtig und sprunghaft. Zwischen ThyssenKrupp und Steinbruch hat es in der Vergangenheit bereits jede Menge Krach gegeben. Beide Parteien waren vor fast zehn Jahren am brasilianischen Stahlverarbeiter Galvasud beteiligt, konnten sich aber über die Führung nicht einigen. In das von den Essenern 1998 gegründete Unternehmen stieg später Steinbruchs Erz- und Stahlunternehmen CSN mit einem Anteil von 49 Prozent ein. Nach Aussagen von ThyssenKrupp-Managern hatte sich Steinbruch mit seiner CSN aber geweigert, wichtige Rohstoffe wie zum Beispiel Erz an das Gemeinschaftsunternehmen zu liefern. Schließlich entschied ein Schiedsgericht in New York zugunsten Steinbruchs, der die Deutschen dann aus dem Unternehmen herausdrängte.
Komplizierte Verträge
Ausgerechnet mit diesem Mann soll Hiesinger nun ein Verkaufsmodell vereinbaren, sickert es aus brasilianischen Verhandlungskreisen, das überaus kompliziert ist. ThyssenKrupp, so die Überlegungen, behält ein Drittel der Aktien an dem Stahlwerk in Brasilien; der ThyssenKrupp-Partner Vale, ein brasilianischer Erzlieferant, stockt seinen Anteil von bisher 27 Prozent auf 33 Prozent auf. In das restliche Drittel würde Steinbruchs Stahlkonzern CSN einsteigen und die Führung übernehmen. Das Stahlwerk in Alabama würde Steinbruch ganz übernehmen.
Riesige Verluste





Die schlechten Erfahrungen mit Steinbruch kommen Hiesinger alles andere als zupass, denn eigentlich muss er so schnell wie möglich Ballast abwerfen. Denn die beiden Stahlwerke in Brasilien und Alabama (USA), die 2010 in Betrieb gingen, produzieren monatlich 150 Millionen Euro Verlust. Die Finanzschulden des Konzerns belaufen sich aktuell auf 5,3 Milliarden Euro. Die aktuelle Geschäftslage ist düster. Allein im ersten Halbjahr des laufenden Geschäftsjahres häufte der Konzern einen Verlust in Höhe von 822 Millionen Euro an. Jeder Monat, der weitere Miese beschert, verschärft die Not bei ThyssenKrupp.
Viel mehr Verluste durch die Stahlwerke in Übersee kann Hiesinger sich deshalb nicht mehr leisten. Auf einen Wert von nur 3,4 Milliarden Euro sind beide Stahlwerke bereits abgeschrieben, bei Gesamtinvestitionen im Wert von ursprünglich zwölf Milliarden Euro. Erzielt ThyssenKrupp nicht wenigstens die 3,4 Milliarden Euro, mit denen die Anlagen in der Bilanz stehen, sind weitere Abschreibungen notwendig. In Essen wird offen von einer Kapitalerhöhung gesprochen. Doch die würde am Kern von ThyssenKrupp rühren: dem Einfluss des Ankeraktionärs, der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die eine Sperrminorität an ThyssenKrupp hält.
Ein Schatten seiner selbst
Denn sinkt deren Anteil, weil ihr die Kraft für eine Kapitalerhöhung fehlt, droht der Ruhrkonzern zum Übernahmekandidaten zu werden. Die Aufzugs- oder der Anlagenbau, Zementwerke und Chemieanlagen, ließen sich möglicherweise für viele Milliarden verkaufen. ThyssenKrupp ist insgesamt nur noch ein Schatten seiner selbst und an der Börse nur noch 7,8 Milliarden Euro wert – die Hälfte des Wertes von vor fünf Jahren. Vergleichsweise einfach wirkt dagegen Hiesingers Mission, den schwerfälligen Apparat in Essen auf Tempo und Flexibilität zu trimmen.
Entscheidungen laufen zu langsam ab. Akten würden hin- und hergeschoben und "Manager lesen sich in Besprechungen gegenseitig aus den Akten vor", sagt ein ThyssenKruppianer, "alles aus Angst, eine eigene Meinung zu vertreten".
Ende des Barocks
Hiesinger hofft auf einen Kulturwandel, indem er bis zum Sommer weltweit 3000 Manager in Verwaltungspositionen nach Hause schickt. In der Zentrale werden bis zu Beginn der Schulferien in Nordrhein-Westfalen am 20. Juli 200 von 800 Stellen gestrichen. Eine Schwachstellenanalyse, die zahlreiche Doppelfunktionen herausfiltern soll, findet zurzeit statt.
Industrie
Außerdem will Hiesinger ein Zeichen setzen, dass die Luxus-Ära im ThyssenKrupp-Imperium vorbei ist: Die unternehmenseigenen Jagdreviere, der vornehme Kieler Yachtclub im Konzernbesitz sowie der Partyveranstalter ThyssenKrupp-Delicate sollen so schnell wie möglich veräußert werden. Große Sausen, wie bisher von ThyssenKrupp-Delicate in der Villa Hügel oder im Yachtclub an der Förde veranstaltet, soll es nicht mehr geben.
Schwierig wird das Gespräch mit dem Großaktionär, der Krupp-Stiftung und ihrem Chef Berthold Beitz, 99, sollte der Verkauf der Stahlwerke weniger als die 3,4 Milliarden Euro einbringen, zu denen diese in der Bilanz stehen. Dann würde eine Kapitalerhöhung unausweichlich – und mit ihr die Entmachtung der Stiftung und Beitz’.