Im Publikum sitzt ein Mann, der nicht eingeladen war. Der jedoch darauf bestanden hatte, zu kommen: Zuckerlobbyist Tissen. Und so tritt auch Tissen an diesem Anti-Zucker-Vormittag auf die Bühne, direkt nach dem Plädoyer der Verbraucherschützerin für bessere Zuckerkennzeichnung auf Lebensmittelverpackungen. Für die Ehrrettung seiner Branche hat er 20 Minuten Zeit; nach ihm will eine Wissenschaftlerin des Max-Planck-Instituts aufzeigen, dass Kinder dicker sind, je weniger die Eltern über den Zuckergehalt von Lebensmitteln wissen.
„Mein Name ist Günter Tissen. Ich vertrete all die, die als Zuckerhersteller den Zucker herstellen und vertreiben“, beginnt er. Und dann erzählt Tissen von Marmorkuchen. Hinter ihm erscheint eine Folie, die zeigt, was seiner Meinung nach in einen richtigen Marmorkuchen gehört: Butter, Eier, Mehl, Milch, Kakao und Zucker. „Nun kann man den Zuckeranteil reduzieren. Doch wenn wir keinen kleineren Kuchen haben möchten, müssen wir andere Zutaten erhöhen“, sagt er. Er rechnet vor: Mehl habe gleich viel Kalorien wie Zucker und Butter noch mehr. Die Zuckerreduktion führe zu einem Trugschluss: Viele Verbraucher glaubten bei den zuckerfreien Produkten mehr essen zu können, weil sie vermeintlich kalorienärmer seien. „Das führt uns zu der Frage Kann die Auslobung ‚zuckerreduziert‘ sogar zusätzlichen Schaden anrichten und zu noch mehr Übergewicht führen?“, fragt Tissen in die Runde.
Wenn man Eddy Nikolic ansieht muss man klar sagen: Nein. An diesem Nachmittag steht der 46-Jährige in der offenen Küche seines Bistros in Dortmund. Hinter der Theke lehnt sein rotes Rennrad. „Ich merkte, wie viel fitter und wacher ich war, wenn ich keinen Zucker aß“, sagt er. Vor 17 Jahren hat er den Stoff konsequent aus seiner Ernährung verbannt. Doch auf Kuchen wollte er nicht verzichten, also begann er zu experimentieren: Honig, Datteln, Bananen. „Ich halte nichts von Süßstoffen oder anderen unnatürlichen Zutaten“, sagt er. Und Zucker, das ist für ihn nichts anderes: unnatürlich, industriell hergestellt, hochverarbeitet.
„Es ist so einfach, gutes Essen auch sauber hinzubekommen“, sagt er. Und mit „sauber“ meint der Gastronom: Speisen ohne Zucker. Ohne Süßstoff. Ohne Industrie.
Die Ausweichstrategien der Zuckerchefs
Es sind genau Menschen wie Nikolic, die den Nordzucker-Chef Fuchs die Beherrschung verlieren lassen: Jede Woche werde ein anderes Lebensmittel verteufelt: mal das rote Fleisch, mal Butter und mal die Eier. Dann atmet er laut aus, macht eine dramatische Pause und sagt: „Die Politiker sollen mal aufhören, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben.“
Doch es sieht derzeit nicht aus, als ob die Politik auf ihn hört. Und an dieser Stelle bekommt das Schicksal von Fuchs und seinen Mitstreitern eine Pointe: Etwas, was sie jahrelang bekämpft haben, könnte nun zu ihrer größten Chance werden. Denn im September wird trotz jahrelangem Protest die Zuckermarktordnung wegfallen. Seit 1965 ist der Zuckermarkt ein gehütetes Territorium, das qua Gesetz Mindestpreise diktiert, Anbaumengen festlegt, Exporte beschränkt. Eine Planwirtschaft, die allen Akteuren klare Profite sicherte, planbare Absatzmengen bescherte und das Risiko aller minimierte. Nun landet die komplette Zuckerbranche in der freien Marktwirtschaft. Wie sie mit dieser Situation umgeht, wird über die weitere Existenz der Branche entscheiden.
Und so trägt Fuchs an diesem Vormittag weder Anzug noch Schlips, sondern steht mit orangenen Turnschuhen und Jeans auf einem Acker in der Nähe von Braunschweig.