Fast wäre Bill Andersons erster Arbeitstag bei Bayer unbemerkt geblieben. Noch spannender als dessen Aufschlag in Leverkusen erschien die Reise von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in die Ukraine – und Bayers Versprechen, dort 60 Millionen Euro in die Saatgutproduktion zu investieren; mit dem Geld soll auch der Bau von zwei Luftschutzbunkern finanziert werden.
Der Antritt von Anderson wird Bayer allerdings stärker prägen als der Ausbau einer Saatgut-Aufbereitungsanlage. Dem Amerikaner, zuvor in Diensten des Schweizer Pharmakonzerns Roche, eilt der Ruf eines Kulturrevolutionärs voraus, der Gewohntes aufbricht, Abläufe infrage stellt und Mitarbeiter stark fordert. Und womöglich wird er Bayer auch in Teilen neu aufstellen. Zwei Monate wird sich Anderson einarbeiten, zum 1. Juni übernimmt er von Werner Baumann den CEO-Posten.
Dem deutschen Weltkonzern mit 50 Milliarden Euro Jahresumsatz, der Pflanzenschutzmittel und Saatgut, verschreibungspflichtige und rezeptfreie Arzneien („Aspirin“) verkauft und dessen Aktie durch das Monsanto-Glyphosat-Klagen-Debakel stark malträtiert wurde, stehen große Veränderungen bevor.
Daran gemessen verlief Andersons erster Arbeitstag am Montag dieser Woche eher unspektakulär. Nachdem Laptop, iPhone und iPad eingerichtet waren, stand ein Gespräch mit Noch-Bayer-CEO Baumann an. Später traf Anderson eine Handvoll weiterer Führungskräfte zu Einzelgesprächen. Es ging unter anderem um Strategie und Finanzen.
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Am späten Nachmittag seines zweiten Arbeitstages stellt er sich in Leverkusen einem Kreis von Journalisten. Lockere Atmosphäre, keine lange Konferenztafel, eher Café-Atmosphäre, runde Tische. Anderson steht vorne, kombiniert lässig T-Shirt und Sakko und will erklären, wer er ist und – zumindest ansatzweise – was er vorhat.
Er schwärmt natürlich erst einmal von Bayer („amazing“), preist Erfindungen wie Aspirin und zitiert seinen Sohn, der es einfach cool findet, dass Bayer über einen angeschlossenen Fußball-Klub verfügt.
Erst am Wochenende ist Anderson mit Ehefrau Kathy in Leverkusen angekommen. In seinem Rücken ist ein Regal mit allerlei Bayer-Devotionalien aufgebaut. Die Gründer Friedrich Bayer und Friedrich Weskott, die den späteren Weltkonzern 1863 schufen, blicken von einem Porträtfoto hinab. Ebenso der spätere Generaldirektor Carl Duisberg. Eine historische Aspirin-Packung ist ebenso zu sehen wie ein Foto vom Uefa-Cup-Sieg von Bayer 04 in der Saison 1987/88.
Dann wird es doch etwas grundsätzlicher, als Anderson erklärt, wovon er sich leiten lässt. Drei Prinzipien sind es vor allem, die sich etwa so beschreiben lassen. Erstens: Mache nicht bloß nur einen Job, sondern schaffe etwas Großes! Etwa neue Medikamente, die einen Unterschied machen.
Zweitens: Übernimm Verantwortung für deine Arbeit! „Ownership“ heißt das bei Anderson, der auf Englisch redet. Das Prinzip habe er selbst schon früh beherzigt, erklärt er noch, als er in seiner texanischen Heimat den Nachbarn die Tomaten aus Vaters Garten verkaufte.
Und drittens: Es gibt immer einen besseren Weg. Der designierte Bayer-CEO berichtet an der Stelle davon, wie er zuvor etwa an der Entwicklung immer besserer Medikamente gegen Multiple Sklerose mitgearbeitet hat.
Andersons forscher Kurs hatte bei Roche nicht nur Fans
Der Mann verströmt Energie pur. Anderson ist irgendwie ständig in Bewegung. Er federt in den Knien, wippt mit dem Oberkörper, gestikuliert mit den Armen. „Mein Energie-Level wächst“, sagt er.
Das werden bald auch die weltweit etwa 100.000 Bayer-Mitarbeiter zu spüren bekommen. Bei seinem früheren Arbeitgeber Roche, als Leiter des Pharmageschäfts, drehte Anderson die gesamte Organisation auf links. Er forderte viel von seinen Mitarbeitern, pries Verantwortung und Autonomie. Die Mitarbeiter sollen sich als „Unternehmer im Unternehmen“ begreifen, lautet sein Credo. Anderson strich überflüssige Meetings und viele Budgetrunden. Alles was keine Verbesserungen für Patienten brachte, sollte weg. Nicht jedem bei Roche gefiel der neue, forsche Kurs.
Jeder, wie er kann: Sieben Führungsstile
Der Chef gibt den charismatischen Führer, der die Arbeit visionär auflädt. So motiviert er die Mitarbeiter ohne materielle Anreize.
Vorgesetzte bauen auf Moral und Transparenz, außerdem kümmern sie sich um die persönlichen Belange der Mitarbeiter.
Chefs geben klare Ziele vor und unterstützen die Angestellten konstruktiv auf dem Weg dorthin, aber ohne Mikromanagement.
Auch hier gibt es Ziele, dazu aber Konsequenzen. Bei Erfüllung gibt es Belohnungen etwa durch Boni, bei Verfehlung Bestrafungen.
Erfordert Vertrauen und gute Nerven, denn Chefs geben weder detaillierte Vorgaben noch Feedback, sie lassen die Mitarbeiter machen.
Chefs verteilen Aufgaben mit Anweisungen und erwarten, dass sie befolgt werden. Wie gemacht für Kontrollfreaks und Perfektionisten.
Sie verwandelt das Büro in einen Truppenübungsplatz: Der Chef übt oft und gerne öffentlich harte Kritik an seinen Mitarbeitern.
Kulturschock garantiert
So ähnlich plant er das jetzt auch wohl bei Bayer. Er wolle keine Meetings, bei denen als einziges Ergebnis herauskommt, wann das nächste Meeting stattfindet, erklärt er. Inwieweit seine hohen Erwartungen an Mitarbeiter in der Bayer-Belegschaft auf Gegenliebe stoßen, wird spannend. Ein früherer Wegefährte sieht es so: „Die Frage ist, für wen das der größere Kulturschock ist – für die Bayer-Belegschaft oder für Anderson.“ Der designierte Bayer-CEO hat zuvor viel in den USA und in der Schweiz gearbeitet, wo die Arbeitnehmerrechte weniger ausgeprägt sind. Anderson hat sich das deutsche Mitbestimmungsgesetz schon mal besorgt, aber noch nicht durchgearbeitet.
Er will zunächst einmal zuhören. Mit allen Interessengruppen ins Gespräch kommen und ihre Sicht der Dinge kennenlernen. Dazu zählen auch Investoren, von denen einige schon die Aufspaltung von Bayer fordern, die Trennung des Pharma- und Agrargeschäfts oder die Abspaltung der Sparte für rezeptfreie Medikamente. Bayer verfüge über drei großartige Geschäfte, sagt Anderson. Und natürlich wolle er, dass die 160-jährige Geschichte von Bayer fortgeschrieben wird.
Ansonsten bleibt er bei dem Thema vage und verweist darauf, dass dies erst sein zweiter Arbeitstag sei. Soviel lässt er dann allerdings doch durchblicken: Es sei eine unzulässige Verallgemeinerung, dass alle Investoren die Aufspaltung von Bayer forderten. Spätestens gegen Ende des Jahres, so die allgemeine Erwartung, werden die ungeduldigen Bayer-Investoren das Thema wieder aufbringen. Anderson wird dann entscheiden müssen.
Zuvor hat er allerdings noch ausreichend Zeit, sich mit der Bayer-Welt vertraut zu machen. An diesem Mittwoch, seinem dritten Arbeitstag, reist er nach Berlin, redet dort mit den Pharma-Führungskräften. Nächste Woche geht es in die USA, zu wichtigen Standorten in New Jersey und St. Louis. Am 28. April steht schließlich die Bayer-Hauptversammlung an. Anderson wird dann einen Vorgeschmack davon bekommen, wie die Investoren auf Bayer blicken.
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