Gasehersteller Linde strebt Gewinnsprung an – zum letzten Mal als Dax-Konzern

Die letzten Quartalszahlen als Dax-Unternehmen: Bis März verlässt der Industriegase Hersteller die Frankfurter Börse. Quelle: dpa

Gleich drei Mal hat Linde im vergangenen Jahr die Prognose für den Gewinn erhöht. Die Erwartungen der Anleger sind hoch – am Dienstag wird sich zeigen, ob der Gasehersteller diese erfüllen kann.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Linde wird inzwischen im US-Stil geführt. Selbst die Verkündung der Jahreszahlen am Dienstagmittag verläuft amerikanisch. Punkt 15 Uhr deutscher Zeit, 9 Uhr Eastern Time werden sich Aktionäre von überall auf der Welt online zusammenschalten. Journalisten dürfen teilnehmen, aber keine Fragen stellen. Gesprochen wird auf Englisch, bilanziert in Dollar. Orientiert sich die Konferenz an den Hauptversammlungen, dürfte sie vor allem eins werden: kurz.

Seit der Fusion mit dem US-Konkurrenten Praxair im Jahr 2018 wird Linde operativ zu großen Teilen aus den USA geführt – das zeigt sich inzwischen deutlich in Führungsstil und Unternehmenskultur. Der ehemals deutsche Traditionskonzern ist der weltweit größte Lieferant von Industriegasen. Er verkauft an Unternehmen in aller Welt Sauerstoff, Wasserstoff und andere Gase.

Ein krisenresistentes Geschäftsmodell, wie sich in den vergangenen Jahren gezeigt hat. Selbst im Coronajahr 2020 erwirtschaftete Linde einen Rekordgewinn, und anders als viele andere Industrieunternehmen kann Linde von der derzeit herrschenden Energieknappheit sogar profitieren: Mit dem Einsatz von Industriegasen können Kunden ihre Effizienz verbessern und damit den Verbrauch von Erdgas reduzieren – also die Kosten senken. Preiserhöhungen konnte Linde schon vor dem Anziehen der Inflation regelmäßig durchsetzen, denn der Gasehersteller hat wenig Konkurrenz. Für Industriegase gibt es nur drei globale Anbieter.

Linde ist zusätzlich auf Projekte mit Wasserstofferzeugung und -versorgung sowie den Bau von Flüssiggasanlagen spezialisiert. Auch das kommt dem Unternehmen aktuell zugute. Weil sich Europa von Pipeline-Gas aus Russland unabhängig machen will, sind LNG-Terminals derzeit sehr gefragt. Den größten Teil seines Umsatzes erwirtschaftet der Konzern allerdings inzwischen in Amerika, nur rund 25 Prozent der Erlöse kommen aus Europa, rund ein Fünftel aus Asien.

Durch den Zusammenschluss der beiden Gasehersteller konnten Linde-Chef Sanjiv Lamba und seine Vorgänger die Effizienz und Rendite des Unternehmens deutlich erhöhen. Mit einer Marktkapitalisierung von mehr als 150 Milliarden Euro ist der Konzern der wertvollste Wert im Dax. Das Ergebnis je Aktie steigt von Jahr zu Jahr stetig und mit diesem auch die Dividende, die mittlerweile – wie in den USA so üblich – jedes Quartal ausgeschüttet wird.

Der Gewinn der Anteile nimmt auch dank milliardenschwerer Rückkaufprogramme zu, die der Konzern in den vergangenen Jahren immer wieder aufgelegt hat. Auch die sind typisch amerikanisch. Bis spätestens Juli 2024 sollen Linde-Aktien für bis zu zehn Milliarden Dollar zurückgekauft und damit überschüssiges Geld an die Aktionäre weitergereicht werden.

Russlands Krieg kostet Linde bisher knapp eine Milliarde Euro

Doch die schwächere Konjunktur in Europa sowie die Sanktionen gegen Russland sind auch an Linde nicht spurlos vorbeigegangen. Linde hat das Neugeschäft in Russland gestoppt und angekündigt, sich von Geschäftsbereichen zu trennen. Anfang 2023 ordnete das Schiedsgericht in St. Petersburg an, russische Vermögenswerte von Linde im Wert von gut 450 Millionen Euro einzufrieren.

Die Richter folgten damit einem Antrag des Gemeinschaftsunternehmens Ruskhimalyans, das zur Hälfte Gazprom gehört. Im Ostseehafen Ust-Luga wollte Linde ursprünglich einen Gasekomplex für das Unternehmen errichten, hat die Arbeit vor Ort aber aufgrund der Sanktionen abgebrochen. Bislang hat das Unternehmen im zweiten Quartal gut eine Milliarde US-Dollar als Sonderbelastung verbucht. Im dritten Quartal ist der Absatz leicht gesunken.

Das Gewinnziel für 2022 hat Linde im Oktober dennoch ein drittes Mal erhöht. Der um Sondereffekte bereinigte Gewinn je Aktie soll im abgelaufenen Jahr auf 11,93 bis 12,03 US-Dollar zulegen, nach 10,69 Dollar ein Jahr zuvor. Zum Gewinnplus soll neben Sparmaßnahmen auch ein dickes Auftragspolster beitragen. Bei der Vorlage der Zahlen um 12 Uhr, drei Stunden vor der Pressekonferenz, wird sich zeigen, ob die Erwartungen erfüllt werden können.

Negative spätzyklische Effekte befürchtet

Insgesamt blicken Branchenexperten derzeit positiv auf Linde. Von den von der Nachrichtenagentur Bloomberg seit Januar erfassten 35 Experten empfehlen 28 die Aktie zum Kauf. Fünf Analysten raten zum Halten des Papiers, nur zwei zum Verkauf.

Einer der Skeptiker ist Markus Mayer von der Baader Bank. Negative spätzyklische Effekte seien weder in der Markteinschätzung noch in der Bewertung von Linde berücksichtigt, kritisiert der Analyst. Bei den Gasen in Amerika laufe das Geschäft noch sehr gut. In Asien und Europa funktioniere es dagegen deutlich schlechter. Mayers Prognose für 2023: Selbst in den USA werde das Geschäft vorerst schlechter laufen. „Vielen Firmen ist dort noch nicht klar, wie der Inflation Reduction Act auszulegen ist“, sagt Mayer. Einige Projekte seien deshalb zurückgezogen worden, bis genügend Planungssicherheit bestehe.

„Das Unternehmen ist jetzt ein amerikanisches“, lautet das Urteil des Branchenexperten. Linde habe „gar keinen Bock mehr, als europäische Aktie gesehen zu werden“. Daraus macht Linde kein Geheimnis: Bis Anfang März strebt das Dax-Unternehmen den Rückzug von der Deutschen Börse an. Die Aktie wird dann nur noch an der Wall Street notiert sein. Der Konzern erhofft sich davon zusätzlichen Schwung für die Aktie: Im Dax ist Linde jüngst immer wieder an die sogenannte Kappungsgrenze gestoßen – die Bedeutung der Aktie für den Index musste also künstlich begrenzt werden. Indexfonds auf den Dax mussten deshalb zuweilen Linde-Papiere verkaufen.

Für Marktbeobachter kommt der Rückzug von der Deutschen Börse auch aus einem anderen Grund nicht überraschend: Der Großteil des Handels mit Linde-Aktien findet längst an der Wall Street statt. Während nur circa acht Prozent der Linde-Aktien von deutschen Anlegern gehalten werden, befinden sich laut Bloomberg inzwischen über 70 Prozent der Stücke in der Hand amerikanischer Investoren.

Kaffee und Kram Lässt sich Tchibos Niedergang aufhalten?

75 Jahre nach der Gründung bröckelt die Geschäftsbasis von Tchibo. Konzernpatron Michael Herz stemmt sich gegen den Niedergang des Kaffeehändlers.

Eskalation der Geopolitik China bereitet sich auf künftige Sanktionen des Westens vor

China bereitet sich auf eine Eskalation der geopolitischen Konflikte vor – mit massiven Goldkäufen, neuen Handelsrouten und einer verstärkten Abkehr vom Dollar.

Ab ins Umland Die Stadtflucht erreicht eine neue Stufe

Familien und Ältere verlassen schon länger die Städte, um im Umland eine Immobilie zu erwerben. Doch jetzt greift die Stadtflucht auch auf andere Gruppen über.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Die Kritik vieler deutscher Investoren: Die Fusion mit der amerikanischen Praxair – auf Augenhöhe, wie es damals hieß – sei in Wirklichkeit eine versteckte Übernahme der Amerikaner gewesen. Fakt ist: Die Q4-Zahlen 2022 sind die letzten Quartalszahlen, die Linde als Dax-Konzern verkündet. Wer bisher zweifelt, kann sich spätestens ab März sicher sein: Die Linde als deutsches Traditionsunternehmen ist Geschichte.

Lesen Sie auch: Diese Dax-Konzerne mussten 2022 ihre Gewinnerwartungen senken

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%