Der Oberarm schwoll an und begann zu schmerzen. Theresa Müller, Mitte 50, wohnhaft in einer Kreisstadt im südlichen Sauerland, spritzt sich seit Jahren das Mittel Pegasys gegen Hepatitis C, eine Virusinfektion der Leber. Doch dieses Mal schlägt das Präparat des Schweizer Pharmakonzerns Roche nicht so an wie sonst. „Lokale Reaktion an der Einstichstelle mit Eibildung“, vermerkt ihr Apotheker in einem Meldebogen. Ursache unbekannt.
Einen Tag später, am 7. November 2013, bringt Müller die Spritze in die Apotheke. Der Pharmazeut stutzt. Statt einer Glasspritze, wie sie Roche normalerweise verwendet, enthält die Packung Pegasys Plastikspritzen; nicht wie üblich mit grauen, sondern mit schwarzen Schutzkappen und mit weißen statt mit roten Kolben. Zudem fehlt auf der Faltschachtel der Barcode. Der Apotheker fotografiert das ungewohnte Set, schickt die Spritze sowie das Präparat an Roche.
Wenig später kommt das Ergebnis: Die Packung Pegasys, 180 Mikrogramm/0,5 Milliliter, enthielt statt des Wirkstoffs gegen Hepatitis nur schnödes Wasser mit Kochsalz.
Horror für Patienten und Pharmaunternehmen
Theresa Müller aus Westfalen, die in Wirklichkeit anders heißt, ihren Namen aber nicht in der Presse lesen möchte, ist das Opfer krimineller Machenschaften, die für Patienten wie für Pharmaunternehmen den Horror bedeuten: gefälschte Arzneimittel, nicht aus dunklen Kanälen im anonymen unkontrollierbaren Internet, sondern aus dem Herzen des Gesundheitssystems, der Apotheke.
Nahezu jeden Monat werden neue Fälle bekannt, in denen Verdünntes und Verfälschtes in den Verkauf kommt – unter dem Siegel des Arzneikelches mit der Schlange, das für die Apotheken hierzulande steht. Die meisten Fälschungen dürften überhaupt niemandem auffallen. Viele Patienten und Ärzte kommen gar nicht auf die Idee, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes von einer gefälschten Medizin herrühren könnte, die sie am Ort ihres Vertrauens, in der Apotheke, erstanden haben.
„Dass gefälschte Medikamente vermehrt in Apotheken gelangen, ist der pharmazeutische Super-GAU“, sagt der Essener Zollermittler Jürgen R., „das ist Körperverletzung mit Todesgefahr.“
Zahlen zu gefälschten Medikamenten
Weltweit stehen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO etwa 15 Prozent der Arzneimittel unter Fälschungsverdacht. Die Fakes kursieren in 123 Ländern.
Besonders schlimm ist die Entwicklung in etlichen Regionen Afrikas und Asiens, dort wird die Einnahme von Medikamenten fast zum Glücksspiel. Bis zu 30 Prozent der Tabletten und Ampullen enthalten in Asien keinen oder einen falschen Wirkstoff, in Afrika zuweilen bis zu 50 Prozent.
In den westlichen Industrieländern sowie in Japan dürfte bis zu ein Prozent der Medikamente gefälscht sein. Die Bedrohung hat zugenommen, seit aus italienischen Kliniken zunehmend Medikamente gestohlen wurden und über Osteuropa vorwiegend nach Deutschland gelangten. Die Apennin-Halbinsel gilt wegen der Mafia als das Herkunftsland für gefälschte Arzneimittel hierzulande.
Insgesamt, so schätzt die Beratung Deloitte, dürften die organisierten Kriminellen mit Medikamenten-Fälschungen jährlich und weltweit zwischen 75 und 200 Milliarden Dollar einnehmen.
Alarmierte Behörden
Deutschlands Behörden sind alarmiert. Auf „noch unter ein Prozent“ schätzt Walter Schwerdtfeger, bis Ende Juli Deutschlands oberster Arzneiprüfer beim Bonner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), den Anteil gefälschter Präparate in deutschen Apotheken und Kliniken. Im Klartext: Nahezu jedes 100. Medikament von hier könnte manipuliert sein. Und die Liste der bisher erkannten Fälle wird immer länger:
- Im August und September 2013 tauchten Fälschungen des Pfizer-Krebsmittels Sutent in deutschen Apotheken auf. Das Präparat enthielt keinen Wirkstoff; es war ursprünglich für den rumänischen Markt produziert und vom Importeur CC Pharma aus der Eifel auf den Markt gebracht worden. Einem Patienten war aufgefallen, dass Kapseln und Pulver eine andere Farbe hatten als sonst.
- Im April 2014 wurde offenbar, dass Unbekannte Zehntausende Medikamente aus italienischen Kliniken gestohlen haben. Über dubiose Zwischenhändler in Osteuropa gelangten die Arzneimittel teilweise manipuliert überwiegend nach Deutschland. Insgesamt 82 verschiedene Präparate waren betroffen, darunter 2049 Packungen des Brustkrebsmittels Herceptin sowie 1670 Packungen des Darmkrebs-Präparats Avastin, beide von Roche. Auch Rheumapräparate sowie das Lungenmittel Spiriva von Boehringer Ingelheim und die Krebsarznei Erbitux von Merck gehörten dazu.
- Im Mai 2014 lieferte in Berlin ein Patient, der sich nicht zu erkennen gab, eine Fälschung des Wachstumshormons Norditropin des dänischen Herstellers Novo Nordisk in einer Apotheke ab.
- Im Juni 2014 warnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vor Fälschungen des Krebsmittels Sutent des US-Pharmakonzerns Pfizer.
- Im Oktober 2014 schließlich schlug das Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland für die Kontrolle der Impfstoffe und Biopräparate zuständig ist, wegen möglicher Manipulationen einer Charge des Darmkrebsmittels Avastin „rumänischen Ursprungs“ Alarm. Hersteller von Avastin ist Roche. Die Fläschchen hatte ein deutscher Importeur von einem rumänischen Großhändler bezogen. Auffällig war unter anderem, dass die Packungen fester verklebt waren als üblich.
Die Zahl von Fälschungen nimmt zu
Die zunehmende Zahl von Fälschungen – in Apotheken und ebenso bei dubiosen Versandhändlern im Internet – hat inzwischen auch die Politik wachgerüttelt.
Bei der Justizministerkonferenz der Länder am 6. November will die Hamburger Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD) eine Bundesratsinitiative gegen Produktpiraterie vorstellen, bei der gefälschte Arzneimittel im Mittelpunkt stehen. „Wir müssen die abschreckende Wirkung des Strafrechts erhöhen und die Ermittlungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaften verbessern“, fordert Schiedek. So sollen Fahnder auch bei Arzneimittelfälschern die Möglichkeit bekommen, Telefone anzuzapfen.
Arzneihersteller in Aufruhr
Die gefälschten Arzneien in Apotheken haben die Hersteller in helle Aufregung versetzt. Global ist keine der Branchengrößen vor den Fakes gefeit. „An einer gefälschten Handtasche ist noch niemand gestorben, an gefälschten Medikamenten jedoch schon“, wettert Karl-Ludwig Kley, Vorsitzender der Geschäftsleitung von Merck. Produkte des Darmstädter Pharma- und Chemiekonzerns wurden ebenso gefälscht wie Mittel von Bayer, Boehringer Ingelheim oder Pfizer.
Spricht sich herum, dass Patienten oder Ärzte bei einem Präparat nicht sicher sein können, dass es echt ist, drohen den Unternehmen Imageschäden und Umsatzverluste. „Ich habe schon Anrufe von Ärzten und Apothekern bekommen, die nach Bekanntwerden der Fälle lieber auf Präparate anderer Hersteller ausweichen wollten“, sagt der Chef eines großen Pharmaunternehmens.
Zwar gaben die Behörden kürzlich eine teilweise Entwarnung. Nach den Arzneimitteldiebstählen in italienischen Kliniken im Frühjahr seien Medikamente, die nach dem 1. Juli nach Deutschland exportiert wurden, vor Fälschungen sicher, erklärte die italienische Arzneimittelbehörde AIFA kürzlich.
Mafia und osteuropäische Banden
Doch beruhigend klingt das nicht. Für viele Krebsmittel, die an die Krankenhäuser der Apennin-Halbinsel geliefert wurden, empfiehlt die AIFA weiterhin die „Abklärung der Legalität“. Und das Paul-Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt rät, Ärzte, Apotheker und Patienten sollten weiterhin auf mögliche Manipulationen, etwa an der Verpackung, achten.
Für Fahnder ist klar, dass die Mafia und osteuropäische Banden den Handel mit gefälschten Arzneimitteln für sich entdeckt haben. Denn die Profite, die sich daraus schlagen lassen, sind gigantisch. „Die Gewinnspannen im Handel mit illegalen Arzneimitteln liegen häufig bei mehreren Hundert bis über Tausend Prozent. Sie sind ein lukratives Geschäft, das die Gewinne aus der Rauschgiftkriminalität bei Weitem übertrifft“, sagt Norbert Drude, der Präsident des Zollkriminalamtes in Köln.
Feld für das organisierte Verbrechen
„Medikamente sind leicht, sauber, gut zu transportieren und bringen eine Menge Geld“, sagt Michele Riccardi, Projektmanager bei Transcrime, einem Institut für Kriminalitätsforschung in Mailand. So kostet eine Packung mit 150 Milligramm des Brustkrebsmittels Herceptin von Roche, das in Italien gestohlen wurde und in deutschen Apotheken auftauchte, hierzulande rund 850 Euro.
Die Wirkung des verschobenen Mittels ist beeinträchtigt, weil die Hehler kaum die erforderliche Temperatur beim Transport von minus 20 Grad eingehalten haben dürften.
Dass gefälschte Arzneimittel mit dem Bestimmungsort Apotheke zum Feld für das organisierte Verbrechen geworden sind, schließen Ermittler aus Erkenntnissen über diese und andere unsaubere Importe aus Italien. Die haben eine gewaltige Dimension und liefern tiefe Einblicke in die Methoden der Verbrecher.
"Einschüchterung, Gewalt und politische Einflussnahme"
So wurden nach einer Untersuchung von Transcrime zwischen 2006 und 2013 in jedem zehnten Krankenhaus Italiens Medikamente entwendet – hauptsächlich in Regionen, in denen die Mafia stark ist. Der Großteil der Diebstähle, 51 Fälle, ereignete sich im vergangenen Jahr. Der wirtschaftliche Schaden belief sich auf knapp 19 Millionen Euro. Ermittler befürchten, dass dabei auch Medikamente manipuliert und Wirkstoffe gestreckt wurden.
Hinter den Dieben und Fälschern steht ein weitverzweigtes System. „Die kriminellen Netzwerke“, schreibt Transcrime, besäßen eine „straffe Organisation“, Kontakte zu legalen und illegalen Zwischenhändlern, über Geld, um Klinikangestellte zu bestechen, und ein hohes Potenzial, um „Einschüchterung, Gewalt und politische Einflussnahme durchzusetzen“.
Täuschend echte Lieferpapiere
So listete der italienische Pharmaverband AIFA im August ein Dutzend Scheinfirmen auf, vorwiegend aus Osteuropa, die illegale Medikamente in die Apotheken nach Westeuropa schleusten, vorzugsweise nach Deutschland. Sie tragen Namen wie Carnela Limited auf Zypern, Avimax Health and Trade KFT in Ungarn oder Piramid D.O.O in Slowenien. Die gefälschten Lieferpapiere sähen täuschend echt aus, berichtet ein Insider.
Von diesen Schleuserfirmen gelangen die gefälschten Arzneien oft zu sogenannten Parallelimporteuren, die diese dann unbeabsichtigt an deutsche Apotheken lieferten. Das Geschäft solcher Parallelimporteure beruht darauf, dass sie mit Medikamenten aus Südeuropa handeln, wo diese teilweise deutlich weniger kosten als hier. Die Apotheker in Deutschland sind per Gesetz verpflichtet, Arzneien im Wert von fünf Prozent ihres Einkaufsvolumens von solchen Parallelimporteuren zu beziehen.
Pillen-Banden
In jüngster Zeit fallen diese Unternehmen aber immer häufiger im Zusammenhang mit Medikamenten-Fälschungen auf. Einer der betroffenen Importeure, CC Pharma aus der Eifel, erklärt dazu, verdächtige Arzneien sofort zurückgerufen zu haben. Zudem sei Ware aus Italien unter Quarantäne gestellt worden, sobald Warnhinweise von Behörden vorlagen.
„Natürlich ist der Parallelhandel ein mögliches Einfallstor für Fälschungen“, sagt David Shore, Sicherheitsmanager bei Pfizer. Das sei bei allen bekannten Fälschungen von Pfizer-Medikamenten in der legalen Lieferkette in Großbritannien der Fall gewesen, so der frühere Ermittler von Scotland Yard, der nun für den US-Konzern die Spuren der Pillen-Banden verfolgt.
100.000 gefälschte Viagra-Tabletten
Die Pharmabranche sieht in dem Einfallstor für Fälscher einen willkommenen Anlass, die Vorschrift zu kippen, dass deutsche Apotheker einen Teil ihrer Medikamente im preiswerteren Ausland kaufen müssen. „Diese Importförderklausel schafft mittlerweile einen Absatzmarkt für kriminelle Machenschaften“, ärgert sich Hagen Pfundner, Deutschland-Chef von Roche und Vorstandsvorsitzender des Pharma-Verbandes VFA. Pfundner fordert die Abschaffung der Importvorschrift – bislang ohne Erfolg. Deswegen hat er auch bereits an Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) geschrieben.
Den Pharmaherstellern bleibt im Grunde nur, selbst etwas zum Kampf gegen die Fälscher beizutragen. Wohl keiner weiß das so gut wie der US-Pharmariese Pfizer aus New York. Dessen Potenzpille Viagra ist das am häufigsten gefälschte Medikament der Welt. Allein 2012 konfiszierten die Ermittlungsbehörden weltweit über vier Millionen unechter Erektionshelfer. Im vergangenen Sommer entdeckten Fahnder in einem Container im Hamburger Hafen 100.000 gefälschte Viagra-Tabletten, versteckt in Polstermöbeln. Den Amerikanern bleibt gar nicht viel anderes übrig, als alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Schaden durch Fälscher zu minimieren.
Auf Echtheit überprüft
4500 Einwohner zählt der südostenglische Küstenort Sandwich – angeblich wurde dort tatsächlich vor gut 250 Jahren die gleichnamige belegte Stulle aus zwei Brotscheiben erfunden. Zuletzt berühmt geworden ist der Ort aber durch die flachen, braunen Laborgebäude ein wenig außerhalb des Ortskerns. Vor gut 20 Jahren entdeckten dort Pfizer-Forscher die wundersame Wirkung einer Substanz, mit der sie eigentlich ein Herzmittel gefunden zu haben glaubten. Doch als die männlichen Probe-Patienten aus dem Queen Victoria Memorial Hospital im nahe gelegenen Herne Bay die überzähligen Pillen nicht mehr zurückgeben wollten, ahnten sie, dass sie einen Coup gelandet hatten. Ein Potenzmittel war entdeckt, das später als Viagra um die Welt gehen sollte.
Die Viagra-Pillen, die heute in Sandwich durch die Labors 2–09 gehen, sind nicht für Patienten bestimmt, sondern werden auf ihre Echtheit überprüft. Wendy Greenall und ihre drei Mitarbeiterinnen überprüfen hier, im Gebäude 510, jährlich gut 1600 Pakete mit Viagra und anderen gängigen Medikamenten, die Ermittler, Zollbeamte oder hauseigene Sicherheitsexperten als verdächtig einstuften. Die Pillen stammen aus Deutschland, anderen europäischen Ländern, Afrika und dem Nahen Osten, aus Apotheken und von Online-Versendern.
„Etwa 90 Prozent der von uns untersuchten Pillen sind gefälscht“, sagt Greenall. Manchmal reicht der Chemikerin, die seit etwa zehn Jahren für Pfizer arbeitet, nur ein Blick, um eine Fälschung zu erkennen: Auf einer der Packungen des Cholesterinsenkers Lipitor – ebenfalls ein beliebtes Mittel für Fälscher – ist die Schrift verkehrt herum aufgedruckt, die Falz ist beschädigt und eine Codenummer falsch.
Meist ist jedoch eine aufwendigere Untersuchung nötig. Eine Mitarbeiterin Greenalls hat eben eine Lipitor-Pille pulverisiert. Ein Lasergerät untersucht die Substanz. Auf dem Monitor entstehen zwei Kurven, die an Aktiencharts erinnern. Die schwarze Kurve zeigt die Zusammensetzung des Originalpräparats, die rote die Mixtur der untersuchten Pille. Beide Kurven decken sich nicht, die Tablette scheint gefälscht zu sein. Genauere Ergebnisse liefern die beiden Chromatographen im Gang gegenüber. Das kühlschrankgroße Gerät kann die Bestandteile der verflüssigten Substanz erkennen. Das Ergebnis ist klar: Der vermeintliche Wirkstoff besteht aus weißem Puder.
9,4 Millionen gefälschte Medikamente
Chemikerin Greenall sitzt auf einem Podium zum Thema Medikamenten-Fälschungen in einem Londoner Hotel und zieht ein bitteres Fazit: „In den vergangenen Jahren scheint sich bei der Bekämpfung der Arzneimittelkriminalität nichts getan zu haben“, sagt sie an die Adresse der anwesenden Sicherheitsexperten. Besonders die Strafverfolger zeigten keine wirkliche Härte gegenüber den Kriminellen.
Beispiel: die „Operation Pangea“ (altgriechisch etwa für „ganze Erde“), die vom 13. bis zum 20. Mai dieses Jahres lief. Zoll- und Polizeibehörden aus über 100 Staaten fielen, koordiniert von Interpol, bei organisierten Pillenfälschern ein. Der Erfolg der Razzien war beeindruckend: 9,4 Millionen gefälschte Medikamente und 20.000 verdächtige Sendungen wurden sichergestellt. In Deutschland konfiszierten die Strafverfolger an den Zoll-Stützpunkten Frankfurt und Niederaula in Hessen 816 fragwürdige Briefe und Pakete.
Fälschungssichere Technik hilft nur bedingt
Doch den Unternehmen reicht das nicht. In Zeiten zunehmender Bedrohung durch gefälschte Medikamente müssten die Kapazitäten der Strafverfolger eigentlich ausgebaut werden. In der Praxis klagten die Ermittlungsbehörden jedoch über zu wenig Personal. „Pangea müsste eigentlich das ganze Jahr laufen“, so ein Insider.
Auch fälschungssichere Technik hilft nur bedingt im Kampf gegen die Pillen-Mafia. Zwar soll es von 2017 an europaweit möglich sein, auf jede Packung eine eigene Seriennummer und einen eigenen Code aufzudrucken. Das Verfahren heißt „Secur Pharm“. Mit seiner Hilfe kann ein Apotheker, bevor er dem Patienten die Ware aushändigt, den Code auf der Packung einscannen und blitzschnell überprüfen, ob das Medikament tatsächlich vom angegebenen Hersteller stammt.
50 Prozent der online erworbenen Arzneimittel gefälscht
Die Idee stammt von Pharma- und Apothekenverbänden, ist aber kein Allheilmittel. Denn Manipulationen am Medikament selbst lassen sich mit „Secur Pharm“ nicht bekämpfen. Hinzu kommt, dass jeder Hersteller an eigenen technischen Lösungen arbeitet. Und gegen dubiose Pillen aus dem Internet hilft das Verfahren erst recht nicht, da niemand vor den Augen des Patienten den Code einscannt.
Pfizer versucht deshalb mit Schockvideos, die Verbraucher zumindest von dubiosen Internet-Apotheken abzuhalten. Denn nach einer Analyse der Weltgesundheitsorganisation WHO sind 50 Prozent der online erworbenen Arzneimittel gefälscht. So hat der US-Pharmariese ein Filmchen auf YouTube gestellt, dass Patienten mithilfe einer Ratte von dem Online-Erwerb von Medikamenten abschrecken soll: Gerade aufgestanden, schluckt ein attraktiver Mann, vielleicht Mitte 30, ein paar Pillen aus einer Schachtel ohne Aufdruck des Herstellers. Kurz darauf muss er würgen. Aus seinem Mund quillt eine Ratte – zuerst der Schwanz, ganz am Ende der Kopf. Grund für den Ekel-Spot: Gefälschte Medikamente enthielten laut Pfizer auch schon Rattengift.
Die Tricks der Arzneifälscher
Marcus Redanz, 42 Jahre alt, Kurzhaarschnitt, ist Spezialist für Arzneimittel beim Frankfurter Zollamt. Deshalb surft er regelmäßig auf dubiosen Internet-Seiten mit Namen wie „Medikamente ohne Rezept“ oder „Cialis 20 mg kaufen“. Redanz ist seit 20 Jahren beim Zoll und kennt die Tricks der Arzneifälscher. „Derzeit ist etwa Oral Jelly sehr gefragt“, sagt er. „Das soll flüssiges Viagra sein, erhältlich etwa in den Geschmacksrichtungen Orange und Banane.“ Redanz weiß genau: Flüssiges Viagra gibt es in der Realität so wenig wie Viagra für Frauen, was ebenfalls häufig von fragwürdigen Internet-Apotheken angeboten wird.
Redanz hat die Aufgabe zu verhindern, dass illegale oder gefälschte Medikamente, die häufig aus asiatischen Ländern wie China, Indien, Pakistan, Singapur oder Thailand stammen, ihre Empfänger in Deutschland erreichen. Sein Büro liegt ganz in der Nähe des Frankfurter Flughafens, im Internationalen Postzentrum. Zwei Stockwerke höher treffen gerade Luftfrachtsendungen aus aller Welt ein.
Insgesamt 84 Zöllner in drei Schichten wachen gemeinsam mit Redanz darüber, dass keine illegalen Medikamente in Deutschland in Umlauf kommen. Keine leichte Aufgabe, mehr als Stichproben sind nicht drin bei täglich gut 10.000 Luftfracht-Sendungen.
Redanz verlässt sich auf seine Erfahrung – er weiß, wie verdächtige Päckchen aussehen und auf welche Herkunftsländer er achten muss. „Pillen werden gerne in Kohlepapier, Alufolien oder Dosen versteckt, bei Ampullen sind auch ausgehöhlte Bücher sehr beliebt.“ In Zweifelsfällen lässt Redanz, wie bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen, verdächtige Päckchen durch ein Röntgengerät laufen. Etwa 150 illegale Sendungen spürt Redanz jede Woche auf – meist Potenz-, Schmerz- und Dopingmittel.
Schlankheitsmittel und Potenzpillen aus der "Männerapotheke"
400.000 Tabletten und Ampullen beschlagnahmten die Frankfurter Zöllner 2007 – inzwischen sind es jährlich mehr als eine Million.
Hinter den Empfängern der zweifelhaften Präparate aus Asien stecken häufig kriminelle Dealer, die hierzulande einen schwunghaften Handel mit den dubiosen Mitteln aufgezogen haben und sie über eigene Internet-Seiten weiterverkaufen. 2013 flog in Berlin etwa die „Männerapotheke“ auf – eine siebenköpfige Bande aus Berlin und Brandenburg mit Hunderten Helfern, die sich auf Schlankheitsmittel und Potenzpillen spezialisiert hatte.
„Das sind Netzwerke mit hoher OK-Relevanz“, sagt der Essener Zollfahnder R. OK steht für organisierte Kriminalität. Der Ermittler kennt die Mitglieder des Milieus: „Pfiffige Leute, Männer zwischen Anfang 20 und Anfang 50. Akademiker, die sich mit dem Internet auskennen. Betriebswirte sind darunter, auch mal ein Physiotherapeut.“ Die Arzneifälscher- und Schiebernetzwerke arbeiteten wie ein Konzern, so der Fahnder. Es gebe Spezialisten für Vertrieb, Logistik und Buchhaltung bis hin zu Kurieren und Grafikdesignern, die die Web-Seiten der dubiosen Anbieter gestalten. Häufig enthalten diese Internet-Seiten zu Unrecht Logos von TÜV und Stiftung Warentest, um bei den Kunden Vertrauen zu schaffen. Die Dreistigkeit, gefälschte Arzneien an die Frau und den Mann zu bringen, kennt keine Grenzen. Klaus Gritschneder ist Gründer des Internet-Versenders Europa Apotheek im holländischen Venlo, die lange Jahre mit der Drogeriekette dm kooperierte und über jeden Zweifel erhaben ist. Er fand schon eine dubiose Internet-Seite, die das Impressum seiner Europa Apotheek als ihr eigenes verwendete.
Positivliste für legale Versandapotheken gefordert
Gritschneder engagiert sich bei der europäischen Anti-Fälscher-Initiative Asop und fordert eine sogenannte Positivliste für legale Versandapotheken. Wer nicht auf der Liste steht, soll bei Google und anderen Suchmaschinen nicht mehr gefunden werden können. Über den Vorschlag wird gerade auf europäischer Ebene verhandelt. Frühestens Mitte 2015 könnte es so weit sein, hofft Gritschneder.
Um den Fälschern das Handwerk zu legen, hat sich Roche-Manager Pfundner für eine in der Branche noch eher unübliche Maßnahme entschieden. Im Fall mehrerer gefälschter Medikamente hat Pfundner Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt, direkt beim Bundeskriminalamt. „Das sind wir unseren Patienten schuldig“, sagt Pfundner, „die haben schließlich vor allem den Schaden.“