Brexit Tories suchen verzweifelt nach neuem Wirtschaftsmodell

Brexit Protest Quelle: AP

Der Brexit-Streit überschattet alles, die Briten haben die Sparpolitik der Regierung satt. Da prescht die Arbeiterpartei mit Vorschlägen für die Zeit nach dem Brexit vor – und spricht vielen aus dem Herzen.

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Der Streit um den Brexit und die Zukunft Großbritanniens als Drittland dominiert den diesjährigen Parteitag der Konservativen in Birmingham. Schon der Auftakt stand unter einem schlechten Stern: kurz vor Beginn der Tagung wurde die Konferenz-App der Tories Opfer eines Hackerangriffs. Kurzfristig waren die Privatadressen und Telefonnummern von Regierungsmitgliedern für alle Teilnehmer sichtbar und ein Scherzbold erlaubte sich sogar, auf das Profil von Finanzminister Philip Hammond ein Bild des Puh-Bär-Freundes Eeyore aufzuspielen.

Für Briten ist die Kinderbuchfigur die Personifizierung des depressiven Pessimisten. Und also solcher wird Hammond gerne kritisiert: er sei gegen den Brexit und ein notorisch griesgrämiger Miesmacher, sagen seine Gegner.

Kein Wunder also, dass sich Hammond bei seiner Rede am Montag um zuversichtliche Töne bemühte. „Wir als konservative Partei müssen und werden den Kapitalismus regenerieren und dieses System, das uns 200 Jahre lang Wohlstand und Wirtschaftswachstum brachte, neu beleben“, versicherte der Finanzminister.

Die Tories unterstützen die Unternehmen als Eckpfeiler einer erfolgreichen Wirtschaft, als dauerhafte Kraft der Gesellschaft und als wesentlicher Ausdruck „unserer Werte“. Dann folgte die Warnung: die Partei müsse jetzt aktiv werden, riskiere sie doch sonst, abgestanden und alt auszusehen.

Der Finanzminister bemühte sogar den Übervater der freien Marktwirtschaft, Adam Smith – der habe schließlich demonstriert, dass allein die Macht des Marktes das gesellschaftlich Gute hervorbringe. „All denen die behaupten, dass die gemäßigte Botschaft der Evolution von den schrillen Stimmen der Populisten und Demagogen übertönt wird, möchte ich sagten: Vertraut dem gesunden Menschenverstand des britischen Volkes, dann wird das Volk auch uns vertrauen“, rief Hammond. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts müsse sich allerdings von dem des 19. Jahrhunderts unterscheiden und an die Herausforderungen der Zukunft angepasst werden.

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Die Details des neuen konservativen Wirtschaftsmodells blieb der Minister dann allerdings schuldig. Stattdessen folgte Altbekanntes: ein Bekenntnis zu niedrigen Steuern, zum Abbau des Haushaltsdefizits und die Aufforderung, Großbritannien durch Investitionen fit für die Zukunft zu machen. Und dann eine Liste von Fördermaßnahmen. 30 Millionen Pfund will Hammond etwa der Wirtschaft für Mentoring-Programme zur Verfügung stellen. Ob das genügen wird? Michael Spencer, einer der größten Tory-Spender, klagte in der BBC, die Tories hätten vor lauter Brexit-Getöse die Orientierung verloren. Zehn Jahre nach der Finanzkrise zerbröselt der marktwirtschaftliche Konsens in Großbritannien angesichts der anhaltenden Kürzungen in den Sozialetats und der strikten Sparpolitik der konservativen Regierung.

Die lange Phase stagnierender Gehälter und schrumpfender Einkommen trifft nicht nur die Armen, sondern auch Mittelstandfamilien. Die meisten Briten sind der Brexit-Debatten längst überdrüssig: „Macht doch endlich weiter, wann ist es denn endlich soweit?“, hört man, sobald man die Londoner Politikblase verlässt. Die Labour-Partei hat das längst erkannt und eine ganze Reihe radikaler Vorschläge zum Umbau des britischen Wirtschaftsmodells vorgelegt.

Theresa Mays Worten folgten keine Taten

Ihre eigene Zerstrittenheit beim Brexit versucht die Arbeiterpartei damit zu überspielen. Die Sozialisten unter Parteichef Jeremy Corbyn und Schatten-Finanzminister John McDonnell streben einen klaren Paradigmenwechsel an, vom wirtschaftsfreundlichen Kurs New Labours unter Tony Blair haben sie sich völlig losgesagt.

Erstmals seit Beginn der Thatcher-Ära im Jahr 1979 würde es unter einer Labour-Regierung eine radikale Neuorientierung in Großbritannien geben. McDonnell versucht zwar, durch ein betont seriöses Auftreten die verschreckten Unternehmen zu besänftigen. Doch politisch liegt er klar auf sozialistischem Linkskurs. So propagiert er die Verstaatlichung von Wasser, Strom- und Energiekonzernen, ebenso die privaten Eisenbahngesellschaften und die Post Royal Mail.

Die Partei verspricht zudem, den Mindestlohn branchenübergreifend auf zehn Pfund pro Stunde anzuheben. Unter Labour ginge ein Drittel aller Sitze im Aufsichtsrat an Arbeitnehmervertreter – erstmals gäbe es damit in Großbritannien eine echte betriebliche Mitbestimmung. Alle Firmen mit mehr als 250 Mitarbeitern würden ferner verpflichtet, zehn Prozent ihrer Anteile auf einen Belegschaftsfonds zu übertragen, aus dem dann die Belegschaft jedes Jahr eine Dividende von bis zu 500 Pfund je Mitarbeiter erhalten würden.

Alles was von dem zehn-Prozent-Anteil darüber hinaus an Dividendenausschüttung anfiele, ginge als Steuerzahlung an den Staat. Die zusätzlichen Mittel sollen ins staatliche Gesundheitswesen und in die Kommunen fließen und zur Finanzierung von Kindergartenplätzen verwendet werden. Letzteres dürfte bei den jüngeren Wählern ebenso populär sein wie der Vorschlag, die hohen Studiengebühren von 9250 Pfund im Jahr zu streichen.

Selbst Tory-Politiker räumen inzwischen ein, dass Labour mit seinen kontroversen Vorschlägen zur Reform des Kapitalismus wenigstens Initiative zeige. Die Konservativen dagegen wirken wie gelähmt. Dabei hatte Premierministerin Theresa May bei ihrem Amtsantritt im Juli 2016 versprochen, sie werde die Lehren aus dem Brexit-Referendum ziehen und ihre Politik künftig nicht mehr an den Eliten sondern an den Sorgen und Nöten der Briten ausrichten, die „gerade mal soeben über die Runden“ kämen.

Doch ihren Worten folgten keine Taten. So wurde einer ihrer Vorschläge, künftig Arbeitnehmervertreter und Verbraucher in die Aufsichtsräte zu schicken, stillschweigend kassiert, nachdem die Unternehmerverbände aufbegehrt hatten. Die meisten Banker und Unternehmer fürchten noch mehr als den Brexit, dass die Labour Party an die Macht kommen könnte. Zwar liegt die Arbeiterpartei in den Umfragen ein paar Prozentpunkte hinter den Tories zurück, was vermutlich an ihrem eigenen parteiinternen Streit um Antisemitismus liegt, der den ganzen Sommer tobte. Sollte May aber nach dem Parteitag gestürzt oder der Brexit-Schlamassel noch größer werden, dann sind Neuwahlen nicht ausgeschlossen.

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