„Ich habe keine Hoffnung mehr“ Innenansicht aus der Türkei: Essen wird knapp, Familien zerstreiten sich

Türkei-Krise: Eine Innenansicht Quelle: AP

Während Erdogan Deutschland besucht, ist die Lage in der Türkei angespannt: Fleisch und selbst Kartoffeln und Zwiebeln werden knapp. Und Familien zerstreiten sich über Politik. Eine Innenansicht.

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Der Autor ist Türke und lebt und studiert seit einem Dreivierteljahr in Deutschland. Geboren wurde er vor knapp 30 Jahren in Izmir, wo er jetzt noch einmal den Sommer verbrachte und beschloss, nicht dauerhaft in seine Heimat zurückzukehren. Auch deshalb möchte er lieber anonym bleiben.

Vor allem beim Fleischkonsum spürt man es: Die Finanzkrise ist in der Mitte der türkischen Gesellschaft angekommen. Ich war kürzlich zu Besuch in meiner Heimat, das erste Mal seit einem dreiviertel Jahr. So lange lebe ich jetzt in Deutschland und belege dort einen Uni-Sprachkurs, um ab Oktober einen Master in deutscher Sprache beginnen zu können. Ich war nie sonderlich politisch – bis zu den Gezi-Protesten 2013. Der Umgang mit uns Demonstranten von Seiten des Staates hat mich zum glühenden Gegner Erdogans und seiner Regierung gemacht. 

Während meiner neunmonatigen Abwesenheit ist es mit der Wirtschaft in der Türkei rapide bergab gegangen. Das Land hat nie so eine starke, stabile Ökonomie gehabt wie Deutschland. Starke Preisschwankungen waren für uns Normalität. Seit der Wirtschaftskrise 2008 haben sich Güter kontinuierlich verteuert und die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen geht immer weiter auseinander. Wegen Erdogans konfrontativer Politik erreichen wir aber gerade eine neue Dimension der Krise. Das Beispiel Fleisch zeigt das ziemlich deutlich. 

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Seitdem ich denken kann, kamen bei uns in der Familie – und auch bei den meisten meiner Bekannten – regelmäßig verschiedene Fleisch- und Wurstwaren auf den Teller. Einmal pro Woche mindestens. Inzwischen aber ist Fleischessen für einen Großteil der türkischen Familien nur noch ein ferner Traum. Die Preise für Lebensmittel sind in den letzten Monaten exorbitant gestiegen, teilweise um 200, 300 Prozent. Für viele bleibt da gezwungenermaßen nur eine vegetarische Ernährung. Aber auch die ist teuer. 

Im Juli etwa gab es in der Türkei eine regelrechte „Kartoffelkrise“: Während das Kilo jahrelang nur etwa 1,5 bis 2 Lira gekostet hat, wurde es plötzlich für 7 oder gar 8 Lira verkauft. Inzwischen hat sich der Preis bei 3,5 bis 4 Lira eingependelt. Eine ähnliche Entwicklung hat der Preis für Zwiebeln genommen. Das ist besonders problematisch, weil Kartoffeln und Zwiebeln Grundnahrungsmittel für die Türken sind. Sie waren immer die günstigsten Lebensmittel, für jeden erschwinglich. Inzwischen aber ist der tägliche Einkauf für viele Türken zum Luxus geworden. Trotzdem hamstern die Leute nicht. Das Außergewöhnliche – seien es hohe Preise oder Bombenanschläge – wird für die Menschen hier einfach viel zu schnell zur Normalität. Das Außergewöhnliche war für uns wohl immer die einzig verlässliche Konstante. 

Die Teuerung im Juli kam nicht über Nacht, aber doch sehr schnell. Es kursieren Gerüchte, dass Geschäftsleute gezielt Kartoffeln und Zwiebeln aufgekauft haben, um sie künstlich zu verknappen und die Preise hochzutreiben. Ich halte das für eine Verschwörungstheorie. Aber es ist schwer geworden, in der Türkei zwischen Legende und Wahrheit zu unterscheiden. Ich denke, dass der wahre Grund für teures Obst und Gemüse eher der drastisch gestiegene Benzinpreise ist. Die Kosten für Treibstoff ist in den vergangenen Jahren geradezu explodiert: Haben wir für einen Liter im Jahr 2008 noch knapp 2,8 Lira bezahlt, sind es nun mehr als 6. Bauern können deshalb nicht mehr all ihre Maschinen und Fahrzeuge betanken, was zu Ernteausfällen führt. Auch die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr sind extrem gestiegen. 

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