Türkei, Argentinien und Co. Wie der Entzug ausländischen Kapitals Länder in die Krise stürzt

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Ein Teufelskreis?

Die günstigen Kredite nahmen vor allem die türkischen Unternehmen gerne an. „Die niedrigen Zinsen waren damals ein großes Glück für die Türkei“, sagt Necip Bağoğlu von der Germany Trade&Invest (GTAI) in Istanbul. „Es stand genug Liquidität bereit für Großprojekte. Das hat man klugerweise genutzt und günstig finanziert.“ Ihr Schuldenberg wuchs so auf rund 250 Milliarden US-Dollar 2018 an.  

Problematisch aber war, dass das Land immer mehr importierte als exportierte - auch das typisch für Schwellenländer. So wuchs das Leistungsbilanzdefizit und damit die Abhängigkeit vom globalen Kapital in den Boomjahren stetig an - eine Entwicklung, die sich später bitter rächen sollte.  

Einen Wendepunkt auszumachen, ist nicht einfach. Manche sehen ihn bei den Protesten um den Gezi-Park im Frühjahr 2013. Die türkische Polizei ging damals brutal gegen friedliche Demonstranten vor. Die Proteste machten internationale Schlagzeilen und rückten die Türkei erstmals in ein deutlich negatives Licht bei Investoren. Andere setzen ihn 2011 an, als Erdoğan das Militär entmachtete, oder 2015, als der Kurdenkonflikt wieder aufflammte. 

2016 wurde das Land von einer Serie von Terroranschlägen heimgesucht, es folgte ein Putschversuch und eine immer autoritärer agierende Regierung, die den Rechtsstaat untergrub. Die steigenden Zinsen in den USA schufen einen Abwertungsdruck auf die Lira. Doch anstatt jetzt die Zinsen kräftig zu erhöhen, entschied sich die türkische Regierung, weiter auf Wachstum zu setzen.  
„Daraus resultiert ein Teufelskreis“, sagt Petersen. „Die Abwertung der Währung führt zu höherer Inflation und die wiederum zu einem stärkeren Kapitalabfluss. Alle Schwellenländer haben das Problem, dass sie sich in harten Währungen wie US-Dollar oder Euro verschulden müssen. Wenn dann die Erwartungen der Investoren kippen, droht der Kapitalabzug.“ 

Mittlerweile hat die Krise die Türkei fest im Griff. Gerade einmal 118 Millionen Dollar investierten Ausländer dieses Jahr noch in türkische Aktien und Anleihen. 2011 waren es 15 Milliarden. 

Da durch die schwache Lira die Zinslast der Unternehmen fast um das Doppelte gestiegen ist, ringen viele ums Überleben. Die Folgen dürften in den nächsten Monaten Entlassungen und Pleiten sein - auch wenn Finanzminister Albayrak das gerade per Dekret zu verbieten versucht.  

Ohne Frage hat Erdoğan durch seine ständigen Drohungen, mehr Einfluss auf die Zentralbank nehmen zu wollen, die Krise verschlimmert. Hinzu kam der Streit um den in der Türkei inhaftierten Paster Brunson. Erst nachdem Trump vehement dessen Freilassung gefordert hatte, crashte die Lira. Brunson wurde mittlerweile freigelassen, der Lira aber konnte das kaum mehr helfen. 

Die Frage ist, ob und wann die türkische Regierung und Zentralbank die jetzige Krise noch hätten verhindern können. Wahrscheinlich hätte eine frühe, kräftige Zinserhöhung die Folgen abgeschwächt. Möglich, dass eine Politik, die mehr Wert auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gelegt hätte, auch Investoren milder gestimmt hätte.  

Ein Blick nach Argentinien ernüchtert: Die dortige Regierung steht, anders als die AKP, nicht im Verdacht, rigoros gegen Kritiker vorzugehen. Noch im August hob die Zentralbank den Leitzins von 45 auf 60 Prozent an. Geholfen hat dies bisher nichts: Der Peso verlor seit Jahresbeginn zum Dollar 54 Prozent - noch mehr als die türkische Lira. 

Ein Patentrezept für Schwellenländer gebe es nicht, sagt Ökonom Petersen. „Letztlich geht es darum, Vertrauen herzustellen, also um ein psychologisches Problem.“

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