Türkei Wie Erdogan die Kontrolle über die Wirtschaft übernimmt

Im roten Bereich: Der Wechselkurs der Lira beruhigt sich nicht. Quelle: Getty Images

Recep Tayyip Erdoğan will in Deutschland für mehr freien Handel werben. In der Türkei geschieht derweil das Gegenteil: Dort zieht der Staatschef zunehmend die Zügel für die Wirtschaft an.

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Es sind nur wenige Monate, aber sie haben vieles verändert. „Noch vor einem halben Jahr sprachen wir von einem soliden, schnell wachsenden Markt“, klagt der Leiter eines deutschen Kosmetikherstellers in Istanbul. „Jetzt reden wir über ein Krisenland.“ Seinen Namen möchte der Manager nicht veröffentlicht sehen. Auch das spricht Bände: Wie fast alle Vertreter der 7000 deutschen Firmen in der Türkei ist er übervorsichtig geworden.

Seine Firma hat ein großes Vertriebsnetzwerk in der Türkei für deutsche Kosmetik- und Nahrungsmittel – Waren, an denen besonders die neue türkische Mittelschicht interessiert ist. Oder eher: war. Seit dem Einbruch der türkischen Lira ist damit Schluss. Viele der Cremes und Duschgels haben sich schlagartig um 60 bis 70 Prozent verteuert. Nur einen Teil der Mehrkosten könne er weitergeben, sagt der Manager, „aber auf dem Rest bleiben wir natürlich sitzen“.

Die türkische Wirtschaft taumelt. Auch die jüngste Zinserhöhung der türkischen Zentralbank konnte daran nichts ändern. Zwar hatte die Notenbank zuletzt entgegen den Erwartungen den Leitzins um sechs Prozentpunkte auf 24 Prozent angehoben. Doch kurz darauf konterte Präsident Recep Tayyip Erdoğan – als Feind hoher Zinsen bekannt – auf seine Weise: Irgendwann sei seine Geduld mit den Notenbankern „auch am Ende“. Umgehend war die Stabilisierung des Wechselkurses wieder perdu.

Erdoğans Attacke auf die vermeintlich unabhängige Notenbank ist kein Zufall. Unerbittlich dehnt er seine Kontrolle über die Wirtschaft aus. Vergangene Woche machte er sich kurzerhand selbst zum Chef des Nationalfonds. Im Turkey Wealth Fund (TWF) sind die Anteile mehrerer großer Unternehmen gebündelt, darunter auch Turkish Airlines. Der TWF wurde 2016 gegründet, um Unternehmen leichter mit Krediten zu versorgen und Anteile zu beleihen. Stellvertreter ist Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak, der seit Juli zudem Finanzminister ist.

Nach der Wahl im Juni hofften die Märkte noch auf den als Aushängeschild des wirtschaftlichen Sachverstands bekannten Mehmet Şimşek. Der aber ging leer aus, und soll sich mittlerweile nach London abgesetzt haben. Von der liberalen Riege, die seit 2002 eine im Großen und Ganzen kluge Wirtschaftspolitik betrieb, ist nun keiner mehr übrig. Was bleibt, ist Erdoğans Klammergriff, der eine Renationalisierung des einstigen Investoren-Lieblingslandes exekutiert.

Die macht auch vor der Ispat nicht halt. Die Agentur, bei der deutsche Expolitiker wie Rezzo Schlauch und Ole von Beust unter Vertrag standen, war lange für Investitionswerbung in Deutschland verantwortlich. Demnächst soll sie ebenfalls direkt dem Präsidenten unterstellt werden, die Unruhe intern ist groß. Ausgerechnet vor dem Staatsbesuch in Deutschland Ende kommender Woche ist sie erstaunlich inaktiv.

Beim Besuch will Erdoğan eigentlich öffentlichkeitswirksam für Investitionen und mehr Kooperation werben. Zafer Mese vom Thinktank Seta in Berlin, der der Regierungspartei AKP nahesteht, betont, die Türkei würde keine Hilfszahlungen annehmen. Aber: „Eine solidarische Erklärung der EZB zugunsten der Türkei sowie einer Kooperation mit der türkischen Zentralbank“ würde die europäischen Finanzmärkte beruhigen, meint Mese. Auch über eine Vertiefung der Zollunion sollte gesprochen werden.

Tatsächlich ist guter Willen vorhanden. An einer noch instabileren Türkei hat keine Seite Interesse. Von Fortschritten bei der Zollunion „könnten beide Seiten profitieren“, sagt auch Christoph Leitl, Präsident der Eurochambres, des Zusammenschlusses europäischer Handelskammern.

Ursprünglich sollte das Zollabkommen auf Agrarprodukte, die öffentliche Auftragsvergabe und Dienstleistungen ausgedehnt werden. Seit August 2017 aber liegen die Verhandlungen auf Eis. Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung und des Münchner ifo Instituts zufolge könnte die Türkei dadurch ihre Agrarexporte in die EU nahezu verdoppeln und viermal so viele Dienstleistungen in den EU-Staaten erbringen.

Wandel durch Handel also? Nach wie vor befürworten dies die meisten deutschen Unternehmer in der Türkei. Nur will sich der Wandel in der Realität nicht einstellen. Thilo Pfahl von der Handelskammer in Istanbul traute jedenfalls seinen Augen kaum, als er die Verordnung 2018–32/48 auf den Tisch bekam. Darin heißt es, deutsche Unternehmen müssten von nun an 80 Prozent ihrer Exporterlöse in türkische Lira zwangskonvertieren. „Das sorgt für Unruhe und Verunsicherung unter deutschen Unternehmern“, sagt Pfahl. Klingt nicht gerade nach idealen Voraussetzungen für mehr Investitionen.

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