Hannover Messe „Unsere Wettbewerbsfähigkeit schwindet“: Vor diesen Risiken warnt die Industrie

Sieht er all die Nöte? Bundeskanzler Olaf Scholz lässt sich beim Eröffnungsrundgang der Industriemesse Hannover Messe Neuheiten zeigen, wie etwa diese Augmented-Reality-Datenbrille zur Prozessüberwachung einer Maschine. Quelle: dpa

Der Industrieverband BDI beklagt Verlagerungen ins Ausland selbst im Mittelstand. Der Grund: zu hohe Energiekosten. Der Maschinenbau leidet so stark unter dem Fachkräftemangel wie noch nie. Was die Industrie sonst noch umtreibt.

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Die Industrie in Deutschland droht nach Aussage hochrangiger Vertreter dauerhaft Schaden zu nehmen, wenn die Bundesregierung die Rahmenbedingungen nicht endlich wie versprochen verbessert. „Der Industriestandort Deutschland ist in einer kritischen Phase“, warnte Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI), auf der weltgrößten Industriemesse in Hannover. Das von der Bundesregierung propagierte „neue Wirtschaftswunder“ sei „eher Wunschdenken als Realität“. Die Realität sei vielmehr, „dass Unternehmen drei Mal überlegen, ob sie hier investieren“.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte die Hannover Messe am Sonntagabend mit viel Optimismus eröffnet. Die Transformation hin zur Klimaneutralität werde „das große Wachstumsprojekt für unser Land“ werden, erklärte Scholz. Es gehe darum, die Transformation nun wirklich anzupacken. „Dass wir vom Reden ins ‚doing‘ kommen. In den vergangenen Jahren ist zu viel liegengeblieben. Aber das holen wir jetzt auf.“

Der BDI registriert allerdings bereits jetzt, dass deutsche Unternehmen „erhebliche Investitionen außerhalb Deutschlands tätigen“. Dabei handelt es sich bei weitem nicht nur um Großunternehmen, sondern auch um Mittelständler, viele davon in Familienhand. „Sie signalisieren: ‚es geht einfach nicht‘. Die Energiekosten sind zu hoch“, erklärte BDI-Präsident Russwurm. „Wir sehen Verlagerungen insbesondere bei energieintensiven Industrien.“ Zudem mangele es an Fachkräften.

„Der Industriestandort Deutschland ist in einer kritischen Phase“, warnt Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie.

Der BDI rechnet für das Wirtschaftswachstum in Deutschland dieses Jahr mit einer „schwarzen Null“, während die Weltwirtschaft voraussichtlich um knapp drei Prozent zulegt. Die Exporte würden 2023 voraussichtlich um zwei Prozent steigen und damit schwächer als der gesamte Welthandel sowie die deutschen Ausfuhren in den vergangenen zwei Jahren. „Wir verlieren Weltmarktanteile“, sagte Russwurm. „Unsere Wettbewerbsfähigkeit schwindet.“

Die Industrie fordert unter anderem einen verlässlichen Industriestrompreis. An den politischen Diskussionen darüber „könnten wir uns vorstellen, mehr daran beteiligt zu sein“, sagte der BDI-Präsident. „Es ist kein Selbstläufer, dass die deutsche Industrie stark bleibt. Dafür muss die Bundesregierung schleunigst vom Krisen- in den Gestaltungsmodus wechseln!“

Die Verbände der Elektronik- und Digitalindustrie (ZVEI) sowie des Maschinen- und Anlagenbaus (VDMA) beklagten erneut eine überbordende Bürokratie. „Die Alltagsbürokratie wird Unternehmen wie Blei um den Hals gehängt“, kritisierte Gunther Kegel, ZVEI-Präsident und Chef des Elektronikherstellers Pepperl + Fuchs. Diese stelle gerade für viele kleinere und mittlere Unternehmen eine kaum noch zu stemmende Bürde dar.

Der BDI rechnet mit einem geringeren Wachstum der deutschen Exporte. Marktanteile würden verloren gehen. Deshalb fordert der BDI-Präsident Siegfried Russwurm zum Handeln auf. Ein Punkt steht dabei im Fokus.

Gut ausgebildete Mitarbeiter, die auch in der Entwicklung arbeiten könnten, müssten vielfältige regulatorische Anforderungen erfüllen. „Und produktiv kommt nichts raus!“, so Kegel. Um Marktkräfte für den Klimaschutz zu mobilisieren, „müssen Regulierungen ganz gestrichen, hinderliche Gesetze zumindest zeitweise ausgesetzt und das Maß neuer Regulierung auf ein absolutes Minimum reduziert werden.“

Der Maschinenbau, mit 1,02 Millionen Beschäftigten größter industrieller Arbeitgeber, leidet besonders stark unter dem Fachkräftemangel. „Der Arbeitskräftemangel ist das größte Risiko für unsere Geschäftstätigkeit im kommenden Jahr“, sagte VDMA-Präsident Karl Haeusgen. Laut einer aktuellen Umfrage des VDMA spüren 97 Prozent der Maschinenbaubetriebe Engpässe bei den Fachkräften, 85 Prozent bei Ingenieuren.

Die Situation hat sich seit 2021 kontinuierlich verschärft, und jeder zweite Betrieb geht von einer weiteren Verschärfung aus. Eine breite Verlagerungsdebatte gibt es in der Branche indes nicht, da Energiekosten für die Maschinenbauer eine untergeordnete Rolle spielen: Vier von fünf Unternehmen hegen keine Verlagerungsgedanken, ergab die Umfrage. VDMA-Präsident Haeusgen befand, Scholz‘ wichtigste Aussage sei ‚walk the talk‘ gewesen. „Wenn die Deutschland-Geschwindigkeit nicht im ersten Gang dahinrumpelt, sondern ein hochdrehender Elektro-Motor wird, sind wir in zwei bis drei Jahren ganz woanders.“

Bundeskanzler Scholz versprach, Deutschland werde sein Investitionstempo erhöhen. Dafür seien Verlässlichkeit für die Investoren, ein „Deutschland-Tempo“ bei Genehmigungen sowie die nötigen Fachkräfte wichtig. Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen, müssten in Deutschland täglich vier bis fünf Windräder, mehr als 40 Fußballfelder Photovoltaik-Anlagen, 1600 Wärmepumpen und vier Kilometer Übertragungsnetze errichtet werden. „Das wird ein Kraftakt“, sagte Scholz.

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Der Kanzler stellte zudem noch im laufenden Jahr Handelsabkommen mit Indonesien, dem Mercosur und anderen Ländern in Aussicht. Er setze sich dafür ein, das Abkommen mit Indonesien „jetzt endlich über die Ziellinie“ zu bringen. Dies gelte auch für die Verhandlungen mit dem Mercosur und anderen Ländern wie Mexiko und Indien. Die Verbände kommentierten diese Aussagen freudig überrascht. Dies klinge „sehr positiv“, sagte Russwurm. Mit Indonesien wird bereits seit 2016 verhandelt, mit dem Mercosur seit 1999.

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