Hoffnung für Gasturbinen-Werk Siemens-Chef will Görlitz am Leben erhalten

Siemens-Mitarbeiter von bedrohten Standorten sind hunderte Kilometer mit dem Rad zum Aktionärstreffen in München gefahren. Die Aktion beeindruckt selbst Konzernchef Joe Kaeser – der überraschend Hilfe verspricht.

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Joe Kaeser will Siemens-Werk Görlitz am Leben erhalten Quelle: Jakob Blume

München Für diesen Moment ist Steffen Bachran 600 Kilometer geradelt. Nun steigt er vor der Münchner Olympia-Halle vom Rennrad und hält einen Umschlag mit der Aufschrift „Zukunftspapier für Görlitz“ in die Kameras. Über seinem Radler-Trikot trägt er eine Weste, auf der „Keep Görlitz alive“ steht. 

Den Umschlag will Bachran Siemens-Chef Joe Kaeser persönlich überreichen. Bachran ist Konstrukteur im von der Schließung bedrohten Siemens-Werk in Görlitz – und hat mit drei Dutzend Kollegen den Weg aus Ostsachsen zur Hauptversammlung des Industriekonzerns nach München mit dem Fahrrad zurückgelegt. „Wir geben alles für unsere Arbeitsplätze“, sagt er. Die Ankunft der Fahrradfahrer beklatschen Siemensianer aus Görlitz, Erfurt, Offenbach und anderen Standorten. Sie schwenken IG-Metall-Fahnen und halten Transparente hoch, wie „Wir halten Siemens zusammen“ oder „Mensch statt Marge“.

Das Engagement der Radler verfehlte seinen Eindruck nicht – selbst beim Siemens-Chef. Als er zuerst von der Aktion erfahren habe, dachte er: „Man könnte ja auch bequemer nach München kommen“, sagte Kaeser vor der Hauptversammlung. Doch die Organisatoren hätten ihm in einer Mail ihre Motive erklärt: „Sie wollten ihre Bereitschaft zeigen, das Beste für unser Unternehmen zu geben“, so Kaeser. „Deshalb habe ich um 23.59 Uhr geantwortet: Ich werde sie empfangen. Ich bin bereit, direkt mit ihnen zu reden.“

Dann ist es soweit: Die Görlitzer Radler um Konstrukteur Bachran steuern einen Versorgungstunnel der Olympia-Halle an. Am Ende des Tunnels – im Bauch der Olympia-Halle – erwartet der Siemens-Chef die Görlitzer mit Schnittchen und Kaffee. Kaeser nimmt das „Zukunftspapier“ von Bachran entgegen, öffnet es und hält es in die Kameras. Und er hat eine gute Nachricht für die Siemensianer.

Er bringt einen Erhalt des von der Schließung bedrohten Gasturbinen-Werks ins Spiel. „Als Bestandteil eines weiterführenden Industriekonzepts Oberlausitz“ und in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und der sächsischen Regierung sei ein Fortbestand des Werks unter dem Dach von Siemens möglich, sagt Kaeser. „Da werden wir in Gottes Namen für diese 600 bis 700 Leute eine Perspektive finden.“

Bereits die jüngsten Äußerungen des Siemens-Chefs in Davos hatten bei den betroffenen Mitarbeitern für Optimismus gesorgt. Auf dem Weltwirtschaftsforum hatte Kaeser erstmals Hilfen für den Standort in Aussicht gestellt: „Wir werden diese Menschen nicht fallen lassen“, sagte er. Bei den Beschäftigten kam das gut an: „Das ist ein Funke Hoffnung“, sagt ein Siemens-Mitarbeiter aus Görlitz, der mit seinen Kollegen vor dem Eingang zur Hauptversammlung Spalier steht. Das zeige, dass die Proteste der Belegschaft Wirkung zeigen. „Es ist gut, dass sich Kaeser vor der Weltelite zu diesem Thema äußern muss.“

Wenig später tritt Kaeser vor die Aktionäre. In seiner Rede auf der Hauptversammlung kommt er noch einmal auf Görlitz zurück: Die Region werde gemeinhin als strukturschwach bezeichnet, sagt er. „Aber gehen Sie nach Görlitz, schauen Sie, wie ideenreich die Menschen dort sind.“ Siemens werde Verantwortung übernehmen und in Ostsachsen Perspektiven schaffen.

Dabei schien am Morgen noch alles anders: Auf der Pressekonferenz zum Quartalsergebnis hatte Kaeser noch deutlich gemacht, dass er die Einschnitte in der Gas-und-Power-Sparte, zu der auch das Görlitzer Turbinenwerk gehört, für unumgänglich hält. „Behauptungen, dass unsere Werke in Offenbach, Erfurt, Mülheim oder auch Görlitz voll ausgelastet und sogar profitabel seien, sind ein Mythos oder Stimmen aus der Vergangenheit“, sagt Kaeser. „Mit der Realität heute haben sie jedenfalls nichts zu tun.“ Görlitz und Leipzig sollten ursprünglich geschlossen, Erfurt nach Möglichkeit verkauft werden. Weltweit streicht Siemens in dem Bereich 6900 Stellen, 1800 davon in Deutschland.

Der Handlungsbedarf sei „sogar dringlicher geworden“. Der Umsatz in der Sparte war im ersten Quartal um 15 Prozent, der operative Gewinn sogar um die Hälfte zurückgegangen. Der Einbruch im Markt für konventionelle Kraftwerke, für die Siemens große Gas- und Dampfturbinen liefert, sei nicht nur eine vorübergehende Eintrübung. Dennoch sehe er ein: In einem Jahr, in dem Siemens Rekordumsätze und -gewinne einfahre, seien solche Einschnitte schwer zu vermitteln.

Wie sehr Kaeser die öffentliche Kritik an seiner Person getroffen hat, lässt er vor den Aktionären durchblicken: Auf der Präsentation im Hintergrund des Podiums erscheint eine Collage, mit Fotos von Gewerkschafts-Protesten, dem SPD-Kanzler-Kandidaten Martin Schulz, der Kaeser heftig angegangen hatte, sowie ein Ausschnitt aus der Satire-Sendung „Heute Show“, in der Hans-Joachim Heist alias Gernot Hassknecht auf Kaeser eingeprügelt hatte. „Das wird der Situation nicht gerecht und das ist vor allem keine Hilfe“, sagt Kaeser zu den Angriffen auf seine Person. „Aber wir werden uns nicht davon beirren lassen.“

Steffen Bachran bekommt von alldem nichts mehr mit: Nach dem Treffen mit Kaeser hat er sich schon wieder aufs Rennrad geschwungen und steuert dem Ausgang des Versorgungstunnels an, eine Hand am Lenker, die andere ein Schinkenbrötchen in der Hand. Schriftliche Zusagen habe Kaeser zwar nicht gemacht. Doch mit der Aktion ist er dennoch zufrieden. „Das ist ein gutes Gefühl.“

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