Industrie 4.0 Schöne neue Arbeitsteilung

"Industrie 4.0" war das Schlagwort der diesjährigen Hannover-Messe. Doch die Faszination täuscht: Wettbewerbskonzentration und vermeintlich innovative Geschäftsmodelle sorgen dafür, dass der Kunde immer öfter selbst mit ran muss. Ein Plädoyer für eine kritische Betrachtung des 4.0-Hypes.

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Kollege Roboter lässt grüßen
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schäkert bei der Eröffnung der Hannover Messe in Hannover mit indischen Maskottchen. Schon vor der Eröffnung hat sich Merkel für intensivere Handelsbeziehungen zum diesjährigen Messepartnerland Indien ausgesprochen. „Der Handel zwischen Deutschland und Indien kann noch verbessert werden, obwohl Deutschland schon der größte europäische Handelspartner Indiens ist“, sagte Merkel am Sonntagabend. Quelle: dpa
Merkel eröffnete die Messe am Abend gemeinsam mit dem indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi. Dabei mahnte sie zur Wachsamkeit: „Wir müssen in Europa einfach einen Zahn zulegen, genauso wie wir auch in Deutschland einen Zahn zulegen müssen“, sagte sie am Sonntag zur Eröffnung der weltgrößten Industrieschau . „Wir müssen uns jeden Tag ändern“, forderte Merkel mit Blick auf das Zukunftsthema vernetzte Produktion. Auch Modis Land will sich in Hannover als fortschrittliches Technologieland präsentieren. Modi versprach Reformen in seinem Land, um Handel zu erleichtern. „Für uns hat es außerdem höchste Priorität, eine Weltklasse-Infrastruktur zu schaffen“, sagte er. Quelle: dpa
Obwohl beide Länder ihre Beziehungen seit der Öffnung Indiens für Europa durch diverse Reformen ab 1991 intensivieren wollen, hat der bilaterale Handel wegen der Wachstumsschwäche der indischen Wirtschaft zuletzt abgenommen. So schrumpfte das Handelsvolumen in der Saison 2013 -2014 im Vergleich zur Vorperiode um 7,4 Prozent auf 16,1 Milliarden Euro. In der Rangfolge der deutschen Handelspartner steht Indien auf Platz 24, bei Ein- und Ausfuhren auf Platz 25. Umgekehrt steht Deutschland in Indien als Lieferant an 9. Stelle und als Abnehmer indischer Waren an 8. Stelle. In Indien werden vor allem Investitionsgüter nachgefragt, also Maschinen, die etwa ein Drittel am Gesamtexport nach Indien ausmachen, sowie Elektrotechnologie, Metallwaren, Chemie, Automobile. Nun will Indien wieder in di Offensive gehen und selbst als Handelspartner attraktiver werden. Mit seiner Milliardenbevölkerung will in diesem Jahr China als wachstumstärkstes Schwellenland überholen. Quelle: dpa
Nach Dampfmaschine, Fließband und Elektronik soll der Wirtschaft nun die vierte Revolution bevorstehen: die Vernetzung von Produkt, Maschine und Werkzeug in der Industrie 4.0. Quelle: dpa
Doch nur schleppend nimmt die nächste Entwicklungsstufe der Produktion in Deutschland Fahrt auf: Nur etwa die Hälfte der großen Unternehmen und 43 Prozent der Mittelständler messen der Industrie 4.0 eine hohe Bedeutung bei, ergab eine aktuelle Umfrage des Digitalverbands Bitkom. Quelle: dpa
Ein Grund ist laut Bitkom, dass viele Unternehmen die Chancen der Industrie 4.0 unterschätzen. Bei der Hannover Messe sollen ihre Möglichkeiten Gestalt annehmen. Schon zum dritten mal verschreibt sich die Hannover Messe damit demselben Thema, dieses Mal unter dem Titel „Integrated Industries – Join the Network“. Quelle: dpa
Mensch-Maschine-Kooperation ist ein zentrales Thema bei der diesjährigen Ausgabe der Messe. Die nächste Generation Roboter soll nicht mehr hinter Gittern, sondern Seite an Seite mit dem Facharbeiter werken. Ein Beispiel ist das Greifsystem des Herstellers Schunk. Quelle: dpa

Die ökonomische Literatur ist voll von Artikeln, die der Digitalisierung enorme Produktivitätssteigerungen für alle erdenklichen Bereiche nachsagen. Immer intelligentere Roboter und Algorithmen übernähmen künftig Hand-, Kopf- und Beinarbeit in den Betrieben, Büros und Servicebereichen. Die Folge: Bis zu 40 Prozent der heute existierenden Arbeitsplätze könnten wegfallen, warnten bereits 2013 die beiden Oxford-Wissenschaftler Carl Frey und Michael Osborne in ihrer Studie „Future of Employment“.

„Zunehmende Digitalisierung und Produktivitätszuwächse gehen Hand in Hand“, betont auch der Anfang des Jahres veröffentlichte Bericht Bericht „Innovationstreiber IKT“ (TNS Infratest in Zusammenarbeit mit dem ZEW). Und auch der Münchener Kreis analysierte kürzlich, dass es kaum noch Tätigkeiten gibt, die nicht durch Roboter oder automatisierte Systeme erledigt werden könnten.

Die Digitalisierung hat den Arbeitsmarkt bereits stark verändert

Dabei zeigt schon ein nüchterner Blick in die Vergangenheit, dass die Veränderungen, denen wir entgegensehen, so fundamental neu gar nicht sind. Schließlich wird menschliche Arbeitskraft in den Betrieben schon seit weit über 200 Jahren durch Maschinen überflüssig gemacht, und auch die Robotik hat bereits ein paar Jahre auf dem Buckel. Auf die Fortsetzung dieses Trends wird nun das Label „Industrie 4.0“ draufgeklebt. Doch uneingeschränkte Euphorie lässt sich damit nicht rechtfertigen.

Zur Autorin

Schon eher besorgniserregend ist der von Frey und Osborne prognostizierte Abbau von dienstleistungs- und servicebezogenen Tätigkeiten. Gerade hier stünden die größten Arbeitsmarktveränderungen an. Dabei ist ja gerade der Dienstleistungssektor der Bereich, dem seit Jahrzehnten eine Ersatzfunktion für die im produzierenden Gewerbe wegfallenden Tätigkeiten zugeschrieben wird.

Doch auch hier sind wir bei genauerer Betrachtung schon seit vielen Jahren damit konfrontiert, dass Beratungs-, Service- und Wartungsdienstleistungen heruntergefahren werden – und zwar fast überall. Tatsächlich verschwinden deshalb seit den Neunzigerjahren Arbeitsplätze, und ja: es besteht ein Zusammenhang mit der Digitalisierung. Doch sind es weniger die immer intelligenteren Roboter und Algorithmen, die die Hand-, Kopf- und Beinarbeit innerhalb und außerhalb der Betriebe ersetzen, sondern – die Kunden.

Der Kunde muss selbst ran

Denn die tappen im Zusammenhang mit „innovativen“ digitalen Geschäftsmodellen reihenweise in die Falle: Von Preisen, die im ersten schnellen Online-Vergleich günstig erscheinen, kombiniert mit Vorauszahlungs- oder Flatrate-Modellen sowie personell unterbesetzten Callcentern, die nur Neukunden, nicht aber Bestandskunden beraten.

Bei Lieferung oder Leistung heißt es dann regelmäßig: der Kunde muss selbst ran – beim Pakete schleppen, Geräte installieren und Produkte zusammenbauen, letzteres mit Hilfe einer im Zweifelsfall komplett digital übersetzten Gebrauchsanweisung, die kein menschliches Hirn mehr Korrektur lesen durfte.

Die Folgen von Industrie 4.0 für die Branchen in Deutschland bis 2025

Längst übernehmen die Kunden auch klassische Büro- und Servicetätigkeiten wie Rechnungen herunterladen und ausdrucken, sie führen ihre Konten online und buchen Flüge, Züge, Reisen und Kinokarten selbst. Auf diese Weise ersparen sie vor allem Großanbietern viel Personal, denn kleine Betriebe können (oder wollen) sich entsprechende Systeme nicht leisten. Das aber wiederum verursacht Wettbewerbsnachteile – so gehen weitere Arbeitsplätze verloren.

Volkswirtschaftlich bedeutet diese Entwicklung übrigens das genaue Gegenteil einer produktiven Arbeitsteilung. Denn Arbeitsteilung, das wusste bereits Adam Smith, basiert auf Spezialisierung. Indem jeder das macht, was er oder sie am besten kann, sparen alle Zeit und erzielen eine höhere Leistung.

Stattdessen erledigen nun diejenigen, die noch bezahlte Jobs haben und sich etwas leisten können, die Arbeit derjenigen mit, deren Tätigkeit im Gefolge der Digitalisierung „überflüssig“ wurde. Auch so entsteht eine gehetzte Generation.

Dass sich diese Entwicklung fortsetzt, erscheint aus vielerlei Gründen wenig sinnvoll – letztlich auch nicht für die Unternehmen. Denn überall da, wo Arbeitsleistung nicht bezahlt wird, schrumpfen auch Absatzmärkte. So entsteht eine Spirale nach unten, die keiner wollen kann. Die Kunden können diesen Zug nicht aufhalten, selbst wenn sie Geiz nicht geil finden. Hier müssen Verbraucherschutz, Wettbewerbs-, Gesellschafts- und Arbeitsmarktpolitik an einem Strang ziehen. Und wir Bürger und Wähler müssen dies einfordern.

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