
Düsseldorf „Offenheit“, „Ehrlichkeit“, „Transparenz“ – diese Werte beschwört Thyssen-Krupp-Chef Heinrich Hiesinger, wenn er über die neue Unternehmenskultur spricht. Einmal mehr ist der Manager jetzt womöglich von der Vergangenheit eingeholt worden, als Verschwiegenheit, Kungelei und Betrug für einige Mitarbeiter offensichtlich zum Geschäftsprinzip gehörten. Das Bundeskartellamt ermittelt erneut gegen Thyssen-Krupp – diesmal wegen des Verdachts illegaler Preisabsprachen bei Stahl-Lieferungen für die Automobilindustrie. Das ist ein Milliardenmarkt. Die möglichen Folgen für den ohnehin angeschlagenen Mischkonzern sind noch nicht abzuschätzen. Sie könnten aber noch dramatischer sein als die bisherigen Fälle.
Eine Stunde nachdem Thyssen-Krupp am Donnerstagnachmittag über den Verdacht berichtete, war Hiesinger bei der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung in Düsseldorf zu Gast. Er wusste, dass die Nachricht nicht nur bei den Journalisten im Industrieclub, sondern auch bei den Mitarbeitern wie eine Bombe einschlagen würde. „Wir haben im Moment noch über 150.000 Mitarbeiter. Und für die ist das morgen natürlich wieder ein Schock“, räumte er ein. Es gelte zwar die Unschuldsvermutung, sollten die Vorwürfe aber zutreffen, werde er durchgreifen. Die meisten Mitarbeiter gingen ehrlich ihrer Arbeit nach. „Aber es gibt halt einige wenige, die uns da in eine brutale Schwierigkeit bringen, meistens Fälle in der Vergangenheit.“
Das Kartellamt ging nach Angaben von Thyssen-Krupp aufgrund einer anonymen Anzeige vor und durchsuchte Geschäftsräume in Duisburg. Die Behörde ermittelt auch gegen Weltmarktführer ArcelorMittal und den österreichischen Hersteller Voestalpine. Die Größenordnung ist noch nicht absehbar. Es soll um Fälle über mehrere Jahre gehen. Stahlkunden wie Daimler, Volkswagen und BMW wollten sich nicht äußern. Thyssen-Krupp wäre aber ein Wiederholungstäter. Und dann könnte es bei einem Bußgeld teurer werden. Der Konzern hatte schon hunderte Millionen Euro wegen Preisabsprachen bei Aufzugs- und Schienenherstellern zahlen müssen. Im Fall des Kartells der „Schienenfreunde“ drohen dem Unternehmen darüber hinaus Schadenersatzforderungen der Deutschen Bahn und kommunaler Verkehrsbetriebe in dreistelliger Millionenhöhe.
„Solche Ereignisse sind immer ein Schlag gegen den Ruf des Unternehmens“, sagte Hiesinger zerknirscht. Der Fall werde vorbehaltlos aufgeklärt. Im Visier ist ausgerechnet die europäische Stahlsparte, die ohnehin wegen der schwachen Nachfrage unter Druck steht. Im ersten Quartal des Geschäftsjahres 2012/13 hat sie gerade noch einen kleinen Gewinn geschrieben. Hiesinger will über 2000 Stellen abbauen, weitere 1800 könnten durch Beteiligungsverkäufe aus dem Konzern fallen.
Mitarbeiter reagierten entsetzt. „Ich war gestern richtig geschockt“, sagte Konzernbetriebsratschef Wilhelm Segerath der Nachrichtenagentur Reuters. Er habe auf der Fahrt zu den Stahltarifverhandlungen die Nachricht erhalten. „Das ist ja der Hammer, wenn sich bestätigt, dass Manager unsere Arbeitsplätze verzocken.“ Hiesinger müsse hart durchgreifen. „Wer so mit unseren Arbeitsplätzen umgeht, hat bei Thyssen-Krupp nichts zu suchen.“ Sollte sich der Verdacht bestätigten, dürften die Mitarbeiter der Stahlsparte nicht die Zeche dafür zahlen.
Fünf Milliarden Euro Verlust hat Thyssen-Krupp im vergangenen Geschäftsjahr 2011/12 geschrieben. Vor allem wegen der verlustreichen Stahlwerke in Übersee steht der Konzern in der Kreide. Hinzu kommen Schulden von 5,2 Milliarden Euro. Bußgelder und Schadenersatzzahlungen kann sich Hiesinger nicht leisten. Viel lieber würde er in Forschung und Entwicklung oder neue Werke investieren, sagt er. „Ich hätte für jeden Euro eine andere Verwendung. Das würde ich tausendmal lieber tun.“ Eine neue Kultur in einem Unternehmen einzuführen, dauere Jahre. Aber eines sei klar: „Wir wollen solche Geschäfte nicht haben, die man nur erreicht, wenn man sich nicht an Gesetze hält.“