Lieferengpässe in Apotheken „Ich schätze, dass um die tausend Medikamente fehlen“

Lieferengpässe bei Medikamenten Quelle: imago images

Blutdruckmittel, Antibiotika, Fiebersäfte, Krebspräparate – etliche Arzneimittel sind derzeit schwer zu bekommen. Der Mangel ist schlimmer als bisher bekannt, sagt Thomas Preis, der in Köln eine eigene Apotheke betreibt. Im Interview spricht der Vorsitzende des Apothekerverbandes Nordrhein über die Gründe.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

WirtschaftsWoche: Herr Preis, derzeit gibt es Lieferprobleme bei über 250 Medikamenten. Welche fehlen in ihrer Apotheke besonders?
Thomas Preis: Es vergeht derzeit kein Tag, an dem nicht noch ein weiteres Medikament hinzukommt. Es fehlen alle möglichen Präparate: Blutdruckmittel, Antibiotika, Fiebersäfte für Kinder oder das Brustkrebsmittel Tamoxifen, das für die Patientinnen sehr wichtig ist, da es Rückfälle verhindern kann. Laut der Datenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte gibt es derzeit Lieferprobleme bei 269 Arzneimitteln. Das ist allerdings längst nicht die ganze Wahrheit.

Sondern? Wieviel Arzneimittel fehlen tatsächlich?
Die Liste bildet nur einen Teil der Lieferengpässe ab.  Ich schätze, dass insgesamt um die 1000 Medikamente fehlen. Die Liste des Bundesinstituts für Arzneimittel und  Medizinprodukte berücksichtigt nur einen Teil der Medikamente, die als versorgungsrelevant und unverzichtbar gelten. Rezeptfreie Mittel wie Fiebersäfte für Kinder fehlen darauf völlig. Die Liste ist auch längst nicht tagesaktuell, denn viele Hersteller melden ihre Lieferprobleme erst mit Verzögerung.

Können Sie ihre Patientinnen und Patienten denn auf andere, wirkstoffgleiche Präparate umstellen, wenn ein Medikament fehlt?
Das versuchen wir natürlich und in den meisten Fällen klappt das auch. Aber es ist sehr aufwändig. In den Apotheken wenden wir mittlerweile etwa zehn Prozent unserer Arbeitszeit auf, um die Folgen der Lieferengpässe irgendwie abzufangen. Wir müssen recherchieren, ob bei einem anderen Präparat nicht zusätzliche Nebenwirkungen auftreten. Wir halten Rücksprache mit Hausärzten und telefonieren mit Großhändlern, welche Medikamente überhaupt noch lieferbar sind. Wir müssen mehr Medikamente auf Lager halten. Diese zusätzliche Arbeit sollte uns Apothekern dann auch besonders vergütet werden. Klar ist aber auch, dass es für einige Medikamente – etwa das Brustkrebsmittel Tamoxifen – keinen gleichwertigen Ersatz gibt. Wenn wir Krebspatientinnen ohne adäquate Medikation wieder wegschicken müssen, geht es uns und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schon sehr nahe.

Können die Apotheker Medikamente nicht selbst zusammenmischen?
In einigen Fällen ja, aber das ist natürlich sehr aufwändig.  Nehmen wir mal die Fiebersäfte für Kinder. Als Paracetamol-Fiebersaft knapp wurde, sind wir auf Ibuprofen-Fiebersaft umgestiegen. Aber auch da konnten die Hersteller die gestiegene Nachfrage irgendwann nicht mehr bedienen. Als die Ibuprofen-Fiebersäfte zur Neige gingen, haben Apotheken Zäpfchen abgegeben. Als die in bestimmten Dosierungen ausverkauft waren, haben wir den Eltern geraten Zäpfchen zu teilen, um eine passende Dosis zu erreichen. Wenn das nicht mehr hilft, können wir die Fiebersäfte auch noch selbst herstellen. Das ist aber sehr personalintensiv. Wir müssen dabei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einsetzen, die dann wiederum an anderer Stelle fehlen.

Was sagen denn ihre Kunden, wenn sie so lange auf ein Medikament warten müssen?
Denen müssen wir oft sehr viel Geduld abverlangen. Einige wenige sind auch ungehalten. Die meisten haben aber sehr viel Verständnis und sind froh, dass ihnen kompetent geholfen werden kann.

Und was sagen die Hersteller, warum sie nicht liefern können?
Die geben eher ausweichende Antworten. Aber es gibt natürlich eine Reihe übergeordneter Gründe – die hohe Abhängigkeit bei Wirkstoffen und Vorprodukten von China und Indien, die Preispolitik in Deutschland oder Probleme in der Lieferkette. Vor einiger Zeit konnte ein Halsspray nicht ausgeliefert werden, weil es kein Papier für die Beipackzettel gab. Manchmal sind es auch profane Gründe: So hat ein großer Hersteller für den nächsten Winter die Lieferung von Nasensprays abgesagt, weil es Probleme mit dem Sprühmechanismus gibt.

Lohnt es sich für die Hersteller denn noch, Medikamente zu produzieren?
Bei Medikamenten, die schon lange auf dem Markt sind und deren Patentschutz abgelaufen ist, lässt sich die Produktion oft nicht wirtschaftlich aufrechterhalten. Bei Fiebersäften für Kinder gibt es in Deutschland nur noch zwei Hersteller, Ratiopharm und die Bene Arzneimittel GmbH. Früher waren es deutlich mehr. Doch die anderen sind ausgestiegen, weil sich die Produktion nicht mehr lohnt. Die Hersteller erhalten nur noch einen Festbetrag von etwas mehr als einem Euro pro Flasche. Da ist es schwer, die steigenden Kosten zu decken. Ein anderes Problem sind die Rabattverträge...

...die Krankenkassen mit den Herstellern abschließen. Das Unternehmen, das den höchsten Rabatt bietet, erhält von der Kasse den Zuschlag. Die Kasse bezieht dann die Medikamente für ihre Versicherten oft nur noch von diesem Hersteller. 
80 Prozent des Marktes für preisgünstige Arzneimittel sind durch solche Rabattverträge geregelt, da entsteht ein ruinöser Preiswettbewerb. Und es führt dazu, dass eine Kasse oft nur bei ein oder zwei Unternehmen ordert. Das ist dann eine gefährliche Abhängigkeit. Denn wenn es dann Probleme in der Lieferkette gibt oder zu einem Produktionsausfall kommt, ist die Versorgung schnell gefährdet. Die Zahl der Lieferausfälle, die auf Rabattverträge zurückzuführen sind, hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. So kann es nicht weitergehen. Meine Forderung ist, dass die Kassen ihre Rabattverträge nicht nur mit ein oder zwei Unternehmen, sondern zumindest mal mit einer Handvoll Herstellern abschließen.

Immobilienfinanzierung Das Haus jetzt kaufen oder warten? Diese Grafiken zeigen das Dilemma

Der Zinsdruck für Hauskäufer nimmt ab, Baugeld hat sich bereits deutlich verbilligt. Doch nun stabilisieren sich die Immobilienpreise und beenden die Zeit für Schnäppchenjäger. Was das für Käufer bedeutet.

Krankenversicherung Kann ich durch einen späten Wechsel in die KVdR Beiträge sparen?

Unsere Leserin hat festgestellt, dass sie mit Ende 80 womöglich ihren Krankenkassenbeitrag deutlich senken könnte – durch einen rückwirkenden Wechsel in die Krankenversicherung der Rentner (KVdR). Stimmt das?

F-35-Bomber in Büchel Dieser Flieger braucht ein sehr spezielles Zuhause

Die Bundeswehr beschafft F-35-Bomber – und muss eilig einen Fliegerhorst umbauen. Die Zeit dafür ist irre knapp. Zu Besuch auf einer der wichtigsten Baustellen der Zeitenwende.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Wie groß ist denn die Abhängigkeit von Medikamenten-Lieferungen aus China und Indien?
Früher war Deutschland mal die Apotheke der Welt, heute ist es China. Der zunehmende Kostendruck hat dazu geführt, dass viele Unternehmen Wirkstoffe und Vorprodukte aus China oder Indien beziehen. Zwei Drittel der Wirkstoffe für preisgünstige Medikamente, sogenannte Generika, stammen mittlerweile aus diesen Ländern. Viele davon werden in der Region Wuhan produziert, die im ersten Corona-Lockdown komplett abgeriegelt war. Wir müssen uns dringend aus der Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten befreien. Es muss sich auch in Deutschland und Europa wieder lohnen, Arzneimittel zu produzieren. Wir sehen doch gerade beim russischen Gas, wohin eine einseitige Abhängigkeit führen kann. Nicht auszudenken, was passiert, wenn China die militärische Konfrontation mit Taiwan sucht. Wenn es dann zu einem Wirtschaftskrieg zwischen China und dem Westen kommt, wäre die Medikamenten-Versorgung für Europa und damit auch Deutschland stark gefährdet.    

Lesen Sie auch: Alle reden vom Gas, doch bei Medikamenten ist Deutschland ebenfalls gefährlich abhängig

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%