Mehr Insolvenzen und Krisenfälle „Der Kern unserer Industrie könnte auf der Strecke bleiben“

Ein Bauarbeiter arbeitet auf einer Baustelle von einem neu gebauten Wohnhaus im Berliner Südosten. Quelle: dpa

Hohe Energiepreise, steigende Finanzierungskosten – die Lage wird brenzlig, warnen Sanierungsexperten. Auch die Bundesagentur für Arbeit stockt das Insolvenzgeldbudget für 2023 auf, erwartet aber keine Pleitewelle.

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Die Bundesagentur für Arbeit geht auch 2023 nicht von einer großen Pleitewelle aus und erwartet nur moderate Insolvenzgeldausgaben, berichtet die WirtschaftsWoche. Demnach kalkuliert die Bundesagentur für das kommende Jahr mit Ausgaben von 900 Millionen Euro für Lohn- und Gehaltszahlungen an Beschäftigte, deren Firmen Insolvenz anmelden. Nach den niedrigen Insolvenzzahlen in den vergangenen Jahren rechne die Arbeitsagentur „nicht explizit mit einer Trendwende im Sinne stark steigender Insolvenzgeldzahlungen“, teilte eine Sprecherin mit. Man sei sich aber bewusst, dass „wirtschaftlich nicht unerhebliche Risiken vorhanden sind, insbesondere, was steigende Energiekosten betrifft.“ Mit dem Budget könnten die Insolvenzgeldausgaben im mittelfristigen Durchschnitt abgedeckt werden, inklusive potenzieller ein bis drei Großinsolvenzen, so die Sprecherin. 

Ob das ausreicht? Mit den enorm gestiegenen Energiepreisen, den in der Folge der hohen Inflation kräftig steigenden Löhnen und steigenden Zinsen machen die Experten des Warenkreditversicherers Allianz Trade „gleich drei Rentabilitätsschocks“ aus, die Unternehmen derzeit zusetzen. Hinzu kommen die Folgen der hartnäckigen Störungen in den Lieferketten und die generelle Abkühlung der Wirtschaft. Für Deutschland rechnen die Experten des Kreditversicherers 2023 mit einem Anstieg der Insolvenzen um 17 Prozent auf rund 17.150 Fälle.

Prognose: viel Gegenwind

Auch die in der TMA Deutschland – Gesellschaft für Restrukturierung zusammengeschlossenen Restrukturierungsexperten sehen die Unternehmenslandschaft in Deutschland unter deutlich steigendem Anpassungsdruck. Nachwirkungen der Corona-Pandemie und gestörte Lieferketten, Krieg in der Ukraine und teils explodierende Energiekosten einerseits sowie steigende regulatorische Anforderungen würden die Wirtschaft massiv herausfordern.

„Die meisten Unternehmen werden im kommenden Jahr mit deutlichem Gegenwind zu kämpfen haben“, prognostiziert Michael Baur, TMA-Vorstand und Managing Director der Restrukturierungsberatung Alix Partners. „Wesentliche Herausforderungen werden eine sinkende Konsumnachfrage, weitere Kosteninflation und deutlich erschwerte Finanzierungsbedingungen sein“. Letzteres dürfte für finanzschwache Unternehmen problematisch werden. Zur Bekämpfung der Inflation heben Zentralbanken in der ganzen Welt ihre Leitzinsen an. Die Folge: „Insbesondere für weniger finanzstarke Schuldner wird das Marktumfeld bis auf absehbare Zeit für eine ,ordentliche‘ Refinanzierung schwierig bleiben“, sagt der Restrukturierungsexperte Max Mayer-Eming. 

Ließ sich in früheren Jahren meist eine einfache Verlängerung der Verbindlichkeiten verhandeln, erschweren die steigenden Zinsen und entsprechende Risikoaufschläge der Banken nun die Refinanzierung. Teils seien die zusätzlichen Belastungen durch einen höheren Schuldendienst in bestehenden Geschäftsmodellen nicht mehr darstellbar. Gleichzeitig wollen unverändert bestimmte Gläubiger grundsätzlich nur im Notfall Eigentümer des Unternehmens werden oder dieses direkt verwerten, sagt Mayer-Eming.

Hinzu kommt die wachsende Bedeutung von ESG-Kriterien. ESG steht dabei für die Berücksichtigung umweltbezogener, sozialer und auf eine verantwortungsvolle Unternehmensführung bezogener Aspekte. „Unternehmen, die den Anforderungen von Banken und alternativen Geldgebern hinsichtlich ESG nicht gewachsen sind, haben es zunehmend schwerer, die für einen Turnaround nötigen Finanzmittel zu bekommen“, sagt TMA-Vorstandsvorsitzender Oliver Kehren, der als Managing Director von Morgan Stanley in Deutschland direkten Markteinblick hat. Je kritischer die Situation, desto schwieriger werde es für die betroffenen Betriebe, in Sachen ESG-Konformität aufzuholen. „In der akuten Krisensituation hat das Liquiditätsmanagement Priorität; da bleibt dem Management im Regelfall keine Zeit, sich vertieft mit ESG zu befassen oder gar entsprechende Maßnahmen anzustoßen“, so Kehren. Sein TMA-Vorstandskollege Michael Baur befürchtet sogar, dass „der Kern unserer Industrie auf der Strecke bleiben könnte, wenn ESG nicht mit Augenmaß betrieben wird.“

SuperBiomarkt, Borgers und Galeria

Steigende Kosten, schwierigere Refinanzierungen - für Restrukturierungsberater und Insolvenzverwalter heißt das vor allem eines: viel Arbeit. „Die Pipeline füllt sich“, bestätigt der erfahrene Sanierer Kolja von Bismarck, Partner der Anwaltssozietät Sidley Austin. Krisenkandidaten sieht er derzeit vor allem im Einzelhandel, in der Immobilienwirtschaft, bei Autozulieferern und Krankenhäusern. 

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Schon in den vergangenen Monaten hatten einzelne Insolvenzen bekannter Unternehmen die Sorge vor einer Pleitewelle verstärkt: So hatten der Online-Babybedarfshändler windeln.de, der Schuhhändler Görtz, die Biokette Superbiomarkt, der Toilettenpapierhersteller Hakle und die Auto-Zulieferer SMA sowie Borgers Insolvenzanträge gestellt. Für Aufsehen sorgte aber vor allem das Schutzschirm-Insolvenzverfahren der Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof. 

Trotz solch prominenter Einzelfälle gab es 2022 bislang insgesamt nur wenige Insolvenzen. Prognosen gehen zwar davon aus, dass die Verfahrenszahlen im zweiten Halbjahr 2022 wieder auf das Niveau vor der Pandemie steigen. Aber angesichts der Vielzahl an Krisen hatten Wirtschaftsforscher und Experten deutlich höhere Insolvenzzahlen erwartet, darunter auch die Bundesagentur für Arbeit. Sie hatte für 2022 ursprünglich mit Insolvenzgeldausgaben von 900 Millionen Euro kalkuliert. Inzwischen geht die Bundesagentur nur noch von Insolvenzgeldzahlungen in Höhe von 520 Millionen Euro im laufenden Jahr aus, nach knapp 500 Millionen Euro im Jahr 2021. 

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