Naftogaz-Chef „Nord Stream 2 erhöht die Kriegsgefahr“

Naftogaz-Chef Juri Witrenko Quelle: imago images

Die Bundesnetzagentur hat das Zertifizierungsverfahren der Nord Stream 2 AG ausgesetzt. Im Interview spricht Juri Witrenko, Chef des ukrainischen Gasversorgers Naftogaz über Putins Pipeline, Kriegsgefahr in der Ukraine und seine Erwartung an Olaf Scholz.

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WirtschaftsWoche: Die Bundesnetzagentur hat das Zertifizierungsverfahren für die Nord Stream 2 AG als Unabhängigen Transportnetzbetreiber ausgesetzt. Was für ein Signal sendet diese Entscheidung?
Juri Witrenko: Ein sehr deutliches Signal, dass der russische Konzern Gazprom über seine Schweizer Tochtergesellschaft Nord Stream versucht, mit juristischen Tricks zu spielen: Statt die gesamte Pipeline von Russland bis Deutschland ordentlich zertifizieren zu lassen, wird versucht, nur den letzten Teil auf deutschem Gebiet zu zertifizieren. Für jeden normalen Menschen klingt das seltsam, denn jeder versteht, dass Nord Stream 2 eine Pipeline von Russland nach Deutschland ist. Und das war auch das Verständnis der europäischen Gesetzgeber. Als die Gas-Richtlinie verabschiedet haben, sollte die für ganz Nord Stream 2 gelten.

Wie lautet also die Botschaft der Bundesnetzagentur aus Ihrer Sicht?
Die sagen: Nun, wenn Nord Stream 2 das so machen will, dann sollen die bitte zuerst eine Gesellschaft gründen, entsprechend ausstatten und dann wiederkommen. So lesen wir die Entscheidung. Das bedeutet aber nicht, dass die Netzagentur diesen juristischen Trick von Gazprom akzeptieren wird. Ich würde sagen, das Gegenteil ist der Fall. Ich würde sogar sagen, dass es eine positive Entwicklung ist, dass die Netzagentur die Zertifizierung ausgesetzt hat.

Ist die Aussetzung ein Rückschlag für Gazprom, für den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den Kreml?
Ja, denn die wollen, dass die Pipeline so schnell wie möglich zertifiziert wird, auch wenn sie nicht alle Anforderungen der europäischen Vorschriften erfüllt.

Nord Stream 2 steht kurz davor, Gas zu liefern. Eine der beiden Pipelines ist bereits gefüllt. Das technische Zertifizierungsverfahren ist durch. Diese Verzögerung könnte auch die europäische Gaskrise verlängern. Das schafft zumindest für Europäer ein Problem.
Kommt darauf an, wie man es betrachtet. Es gibt eine viel schnellere Lösung für die europäische Gaskrise: Gazprom könnte mehr Gas durch das ukrainische Gassystem schicken. Wir haben riesige Überkapazitäten, die Gazprom zur Verfügung stehen, um über Nacht dreimal mehr Gas zu liefern. Das würde vollständig den europäischen Regeln entsprechen. Für Nord Stream 2 gilt das Gegenteil. Wenn Nord Stream 2 ohne Einhaltung der europäischen Regeln betrieben würde, würde das nur die Dominanz der Starken stärken. Und man muss sehr naiv sein zu hoffen, dass die zum Nutzen der europäischen Verbraucher handeln, nicht zu ihrem eigenen Vorteil. Aber die Deutschen sind auch nicht so naiv, das zu glauben.

Was genau würde der Betrieb von Nord Stream 2 für Ihr Geschäft bedeuten?
Es geht in erster Linie nicht um unser Geschäft, sondern um die nationale Sicherheit der Ukraine und vielleicht sogar der Region. Wir glauben, dass Nord Stream 2 die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine erhöhen würde. Dann stünde für uns weniger das Geschäft im Vordergrund als vielmehr Menschenleben.

Diesen Zusammenhang müssen Sie erklären. Was hat Nord Stream 2 mit Krieg zu tun?
Der Einsatz von Erdgas als Waffe hat viele Ausprägungen. Bislang gibt es einen physischen Gasstrom durch die Ukraine. Im Kriegsfall wird dieser Strom unterbrochen. Russland bekommt kein Geld, gleichzeitig wird Russland sofort von europäischen Politikern mit tiefer Besorgnis konfrontiert. Die europäischen Politiker werden reagieren müssen, weil die europäischen Verbraucher kein Gas mehr bekommen, gerade im Winter. Der gesamte Kontinent wird die Auswirkungen dieses Krieges spüren. Wenn dagegen Nord Stream 2 in Betrieb ist, werden die Russen alle Ströme über die Pipeline umleiten. Und wenn es eine Invasion gibt, wird das die russische Gasversorgung nach Europa nicht beeinträchtigen, weder finanziell noch politisch. So bekommen sie einfach die Hände frei für einen Krieg.

Zurück zu dem Verfahren in Bonn. Die Bundesnetzagentur hat gerade auch dem Antrag von Naftogaz auf Beiladung zu dem Zertifizierungsprozess stattgegeben. Wie einige andere Unternehmen auch haben Sie jetzt die Möglichkeit, gehört zu werden. Warum war Ihnen das wichtig?
Wir sind einer der größten Gasabnehmer auf dem europäischen Markt. Als Marktteilnehmer sind wir von dem Missbrauch durch Gazprom betroffen. Und wenn sich die Konkurrenz im Markt nachteilig auswirkt, wie zum Beispiel jetzt, wie Sie an den Rekordpreisen ablesen könnte, wirkt sich das negativ auf uns aus. Es ist also unser Recht, mit der Regulierungsbehörde zu sprechen und zu erklären, dass es einen dominanten Spieler wie Gazprom gibt, der seine Dominanz missbraucht.

Sie argumentieren, dass Nord Stream 2 nur dann zertifiziert werden darf, wenn Gazprom alle Bestimmungen der EU-Gasrichtlinie einhält, die im Wesentlichen unter anderem eine Entflechtung vorschreibt. Was würde das in der Praxis bedeuten?
Beginnen wir mit der gesetzlichen Anforderung, dass es keine natürliche oder juristische Person oder Personengruppe geben darf, die sowohl die Produktions- und Handelsseite als auch die Übertragungsseite, das Netz, kontrolliert. Mit Nord Stream 2 verhält es sich so, dass die Pipeline der Kontrolle von Putin untersteht. Er behandelt sie als seine persönliche Pipeline. Jedes russische Unternehmen, jede Tochtergesellschaft eines russischen Unternehmens, würde auch von Herrn Putin kontrolliert werden. Das würde unweigerlich einen grundlegenden Verstoß gegen die europäischen Vorgaben bedeuten. Entbündelung in diesem speziellen Sinn bedeutet also, dass ein Unternehmen die Aufgabe des Betreibers übernehmen sollte, das nicht von einem russischen Unternehmen kontrolliert wird. Es sollte ein völlig unabhängiges Unternehmen sein, das diese Pipeline betreibt. Dazu muss dieses Unternehmen einen diskriminierungsfreien Zugang Dritter zu dieser Pipeline, auch von russischer Seite, gewährleisten können. Wir bauen auch darauf, dass die Regulierungsbehörden das im EU-Vertrag verankerte Solidaritätsprinzip berücksichtigt. Dieses Solidaritätsprinzip besagt, dass die deutsche Regulierungsbehörde nicht nur die Auswirkungen auf den Wettbewerb auf dem deutschen Markt, sondern auch die Auswirkungen auf den Wettbewerb auf anderen europäischen Märkten berücksichtigen sollte.

Welche anderen europäischen Märkte meinen Sie?
Die Slowakei zum Beispiel, Tschechien, Österreich, Polen. All diese Märkte, die für uns wichtig sind, weil wir dort Gas kaufen. Wir sehen das sehr pragmatisch. Wir kaufen Gas auf diesen Märkten und wissen, dass sich Nord Stream 2 negativ auf den Wettbewerb dort auswirken wird. Das ist unser Argument.

„Die deutsche Erklärung ist eher ein Ausdruck eines Wunsches“

Es gibt ein bestehendes Transitabkommen zwischen Russland und der Ukraine, das Ende 2024 ausläuft. Die Position der deutschen Regierung ist, dass ein Teil des Gastransits durch die Ukraine nach 2024 erhalten bleiben muss, wenn Nord Stream 2 in Betrieb gehen soll. Ist diese Bedingung erfüllt?
Die Deutschen äußern nur ihren Wunsch. Sie sagen: Der Transit soll weitergehen, so wie ich auch sage, dass es Frieden auf der ganzen Welt geben sollte und wir den Klimawandel bekämpfen müssen und alle Menschen im Grunde glücklich und gesund sein sollten. Aber leider ist das Leben nicht so. Garantie bedeutet: Wenn es keinen Transit gibt, dann geschieht etwas. Aber so eine Bedingung gibt es nicht. Putin und Gazprom dagegen äußern ihre Bedingungen für die Fortsetzung des Transits ausdrücklich. Die sagen: Wir werden erst darüber diskutieren, wenn 2024 näher rückt. Und dann sagen sie, dass sie den Transit nur dann fortsetzen, wenn es für sie wirtschaftlich sinnvoll ist, nur wenn es langfristige Kaufverpflichtungen gibt, wenn sie den zusätzlichen Bedarf nicht durch Nord Stream 2 decken können. Dann könnten sie eine ukrainische Route in Betracht ziehen.

Sie sagen also: Der Kreml beherrscht das Spiel mit der Macht –  und die Deutschen nicht?
Das ist Ihre Interpretation. Ich sage: Die deutsche Erklärung ist eher ein Ausdruck eines Wunsches als eine Bedingung, weil nicht klar ist, wie diese Bedingung erfüllt wird und was passiert, wenn es nach 2024 keinen Transit gibt. Gleichzeitig stellt Putin Bedingungen für die Fortsetzung des Transits. Und es ist wirklich klar, dass die Fortsetzung des Transits von seinem Gutdünken abhängen wird.

Nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, Russland dürfe Erdgaslieferungen politisch nicht gegen die Ukraine wenden. Auch US-Präsident Joe Biden hat das gesagt. Ist diese rote Linie, die die beiden gezogen haben, also nichts wert?
Die beiden sind globale Führungsfiguren. Ich habe mich persönlich mit Bundeskanzlerin Merkel getroffen. Ich glaube nicht, dass das nur leere Worte sind. Sie drücken ihre Haltung aus, ihren politischen Willen. Für die Russen übersetzt sich das aber nicht automatisch in eine Bedingung, denn sie leben nach anderen Regeln. Und in den meisten Fällen werden sie weder auf Angela Merkel noch auf Joe Biden hören.

Olaf Scholz, der mutmaßlich nächste Bundeskanzler, hat gesagt, die Ukraine solle ein Transitland bleiben. Vertrauen Sie auf sein Versprechen?
Ich vertraue darauf, dass Herr Scholz die Ukraine als Transitland unterstützen wird. Aber das alleine ist nicht genug. Das ist meine Botschaft.

Die Sozialdemokraten haben sich für Nord Stream 2 stark gemacht. Haben sich die politischen Rahmenbedingungen durch ihren Wahlsieg für Sie verändert?
Das ist eine offene Frage. Einige SPD-Politiker haben ihre Unterstützung für Nord Stream 2 zum Ausdruck gebracht. Aber wir hören auch von anderen, die Nord Stream 2 skeptisch gegenüberstehen oder zumindest darauf bestehen, dass die europäischen Regeln eingehalten werden.

Was genau erwarten Sie von der neuen Bundesregierung?
Ich erwarte, dass die deutsche Regierung die Energiesicherheit Deutschlands und der Europäischen Union im Allgemeinen ernst nimmt, dass sie den Wettbewerb auf dem europäischen Markt ernst nimmt. Das bedeutet, dass sie nicht zulassen darf, dass Nord Stream 2 in Betrieb genommen wird, weil es nicht den europäischen Regeln entspricht. Aber ich würde auch erwarten, dass die neue deutsche Regierung die Bedeutung der Integration der Ukraine in die Europäische Union versteht. Sie hat die Verantwortung, Europa zu führen. Und das bedeutet für mich im Grunde auch, die Ukraine in den europäischen Markt, in die Europäische Union, in das rechtsstaatliche System zu integrieren.

Das Bundeswirtschaftsministerium hat im Zuge des Zertifizierungsprozesses befunden, dass die Zertifizierung der Nord Stream 2 AG die Gasversorgungssicherheit Deutschlands und der EU nicht gefährden würde. Warum stimmen Sie dem nicht zu?
Weil wir aus der Vergangenheit lernen können, dass die Russen, wenn sie verstehen, dass Sie von ihren Gaslieferungen abhängig sind, diese Abhängigkeit missbrauchen und dass das die Sicherheit gefährdet.

Bisher hat sich Nord Stream 2 jedoch an deutsches Recht gehalten. Nord Stream 2 hat sogar signalisiert, dass die Pipeline ohne eine Zertifizierung nicht in Betrieb gehen würde. Bisher hat das Unternehmen also keine deutschen oder europäischen Rechtsvorschriften verletzt.
Aber sie haben zuerst darauf bestanden, dass Nord Stream 2 auch ohne Zertifizierung ein Betreiber werden sollte, dann darauf, dass die europäischen Regeln für Nord Stream 2 nicht gelten sollten, das fechten sie vor Gericht aus. Aber ja, ich würde zustimmen, dass das kein Verstoß gegen das Gesetz war, solange sie nicht in Betrieb gehen.

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Ein wichtiger Spieler sind die USA. Auf dem Capitol Hill plädieren die Republikaner weiterhin für Sanktionen gegen Nord Stream 2. Die Ukraine setzt sich dort stark für diese Sanktionen ein. Welche Rolle spielen die USA derzeit bei der Nord-Stream-2-Zertifizierung und bei der Bearbeitung von Nord Stream?
Zunächst einmal ist es nicht nur die republikanische Seite des Kongresses, sondern auch die demokratische Seite. Wir genießen parteiübergreifende Unterstützung für diese Sanktionen im US-Kongress. Es gibt also ein Gesetz. Das Problem ist, dass die Regierung diese Regelung ausgesetzt hat. Sie wendet die vom Kongress vorgeschriebenen Sanktionen nicht an. Aber um Ihre Frage nach der Rolle der USA zu beantworten. Die USA sind der Hüter der freien Welt. Deutschland führt die EU, aber wir alle verstehen, dass Deutschland Russland nicht militärisch begegnen kann. Wir verstehen, dass Deutschland die Ukraine nicht militärisch schützen kann. Und da die russische Aggression auch diese sehr klare militärische Dimension hat, ist es die Rolle der USA, die Sicherheit der freien Welt zu garantieren. Deshalb sind Sanktionen in Bezug auf Nord Stream 2 nur logisch.

Mehr zum Thema: Im Streit um die Zertifizierung der Pipeline Nord Stream 2 greift der ukrainische Gaskonzern Naftogaz die Analyse des Wirtschaftsministeriums zur Versorgungssicherheit an.

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