Darüber hinaus würde es dann darum gehen, schon geplante Maßnahmen möglichst fix und wirksam umzusetzen. Einerseits müsste versucht werden, das Angebot an Gas tatsächlich zu erhöhen, um andererseits gleichzeitig die Nachfrage zu drosseln, also möglichst viel zu sparen. Der entscheidende Maßstab für den Winter sind dabei die Füllstände der deutschen Erdgasspeicher. Das neue Speichergesetz sieht vor, dass die Speicher Anfang November zu 80 Prozent, Anfang Dezember zu 90 Prozent gefüllt sein sollen. Derzeit liegt der durchschnittliche Füllstand bei 62 Prozent. Der Marktverantwortliche für den Gasmarkt in Deutschland, die Firma Trading Hub Europe (THE), hat bereits 15 Milliarden Euro bewilligt bekommen, um Gas für die Speicher einzukaufen. Aber so viel Gas muss erst einmal verfügbar sein, das Geld droht angesichts der gestiegenen Preise mittlerweile längst nicht mehr zu reichen – und Uniper hat in Aussicht gestellt, dass das Unternehmen schon in den nächsten Tagen gezwungen sein könnte, Gas aus seinen Speichern zu entnehmen.
Ob auf dem Weltmarkt überhaupt genug Gas verfügbar ist, ist umstritten, weil keiner der großen Lieferanten von Flüssiggas (LNG) – die USA oder Katar – Förderkapazitäten maßgeblich ausweiten kann. Die Norweger liefern über Pipelines deutlich mehr als im Vorjahr, zumindest nach Deutschland, versuchen alles möglich zu machen, um den Deutschen über den Winter zu helfen, aber richtig ausweiten können sie ihre Fördermengen auch erst in zwei, drei Jahren. Zudem, und das ist fast das entscheidende Nadelöhr, muss es gelingen, bis Weihnachten jene zwei schwimmenden LNG-Terminals, die die Bundesregierung teuer gechartert hat, nach Wilhelmshaven und Brunsbüttel zu bringen und vor allem in Wilhelmshaven gleichzeitig die knapp 30 Kilometer lange Pipeline-Anbindung zum nächsten Anschlusspunkt an das Fernnetz bei Etzel fertigzustellen. Das kann gelingen, weil es gelingen muss. Aber deshalb muss es auch nicht gelingen.
Und es geht doch, das Sparen
Auf der Nachfrageseite hat es zuletzt positive Signale gegeben. Tatsächlich ist der Gasverbrauch in der Wirtschaft in den ersten fünf Monaten des Jahres im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres um 14,3 Prozent gesunken. Das hat der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) herausgefunden. Wohlwollend kann man das so interpretieren, dass Verbraucher und Firmen offenbar alles daransetzen, nun angesichts der hohen Preise Gas einzusparen – und dass der hohe Preis ihnen dazu tatsächlich Anreize liefert, obwohl der gerade bei den Verbrauchern überhaupt nicht nicht voll durchgeschlagen hat. Aber kann dieser Trend sich so fortsetzen? Kann so viel Gas eingespart werden, wie es nötig wäre? In ihren Szenarien geht die Bundesnetzagentur von einer Einsparung von 20 Prozent ab Anfang Juli aus.
Die Energiewirtschaft wird zu dem Sparplan in den nächsten Wochen auch auf anderem Weg ihren Beitrag leisten. Ein ebenfalls gerade verabschiedetes Gesetzt, das Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz (EKWG) – bitte langsam sprechen – sieht vor, Gaskraftwerke mit Kohlekraftwerken zu ersetzen, die in der so genannten Reserve bereitgehalten werden oder als systemrelevant gelten. Dazu kommt, dass die THE in den nächsten Wochen ein neues „Regelenergieprodukt“ anbieten soll, nämlich eine „permanente Auktion“, wie Netzagentur-Chef Klaus Müller das genannt hat, bei der Firmen Gaskapazitäten die sie nicht brauchen oder einsparen per Versteigerung anbieten können. Auch hierdurch, so die Hoffnung und Theorie, lässt sich die Nachfrage nach Gas senken – und es ist mehr Gas verfügbar, das eingespeichert werden könnte.
„Die Uhr tickt“
Das sind also die entscheidenden Werkzeuge, um Deutschland möglichst gut auf den Winter vorzubereiten. Aber selbst wenn das alles gelänge, wenn ab Anfang Juli 20 Prozent des Gasverbrauchs eingespart werden könnte, wenn über schwimmende LNG-Terminals ab Januar 2023 rund 13 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr zusätzlich geliefert werden könnten, wird das nicht reichen, um über den Winter zu kommen, wenn über Nord Stream 1 nichts mehr geliefert wird. Laut einem Szenario der Bundesnetzagentur würde das Gas ab Januar 2023 knapp. In der Mangellange würde die Bundesnetzagentur entscheiden, welchen Unternehmen wie viel Gas abgedreht würde.
Wissenswertes zur Gaspipeline Nord Stream 1
Die Pipeline besteht aus einer Doppelröhre mit einer Länge von je 1224 Kilometer Länge. Sie verbindet Wyborg in Russland mit Lubmin bei Greifswald. Baubeginn war April 2010. Die erste Röhre wurde 2011 in Betrieb genommen, die zweite 2012. Sie sollten Europa dem Betreiber zufolge mindestens 50 Jahre mit Gas versorgen. Die Investitionskosten beliefen sich auf 7,4 Milliarden Euro. Die parallel laufenden Stränge bestehen aus über 200.000 Röhren, die mit Beton ummantelt sind.
Die Pipeline gehört der Nord Stream AG mit Sitz in Zug in der Schweiz. Die Anteilseigner des Konsortiums sind zu 51 Prozent der russische Gazprom-Konzern, zu je 15,5 Prozent die deutschen Energiekonzerne E.On und Wintershall Dea und zu je neun Prozent die niederländische Gasunie und der französische Versorger Engie.
(Stand: Juli 2023, Quelle: nord-stream.com)
Die Röhren gehören zu den wichtigsten Pipelines, über die Gas aus Russland nach Deutschland und in weitere europäische Ländern transportiert wird. Zusammen haben beide Röhren eine Kapazität von jährlich 55 Milliarden Kubikmeter. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Jahresverbrauch in Deutschland lag in den vergangenen Jahren bei rund 100 Milliarden Kubikmeter.
Die Leitungen sind außer Betrieb (Stand: Juli 2023).
Entlang der Route der ersten Pipeline wurde in den vergangenen Jahren eine weitere Doppelröhre, die Nord Stream 2, errichtet. Sie war nach russischen Angaben im September 2021 fertiggestellt, bekam aber nicht die endgültige Betriebsfreigabe durch die deutschen Behörden. Wie schon bei Nord Stream 1 gab es auch gegen Nord Stream 2 Widerstand unter anderem aus den USA, Polen und der Ukraine.
Im Zuge der Sanktionen des Westens gegen Russland wegen des Einmarschs in der Ukraine kam das Aus. Ob die Pipeline je in Betrieb gehen wird, ist offen (Stand: Juli 2023).
Die Folge wären: Erhebliche soziale und wirtschaftliche Verwerfungen. Klaus Müller, der Netzagenturchef, hat im Gespräch mit der WiWo gesagt, er befürchte dann „mehr als eine Demonstration am Tulpenfeld“, also am Sitz der Netzagentur in Bonn. Und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) befürchtet bei einem Totalausfall russischer Gaslieferungen eine tiefe Rezession in Deutschland. DIHK-Präsident Peter Adrian sagte der Deutschen Presse-Agentur, der DIHK schließe nicht aus, dass die Wirtschaftsleistung in einem solchen Fall in den Wintermonaten sogar um einen zweistelligen Prozentwert abstürzen könne. Adrian forderte die Bundesregierung zu Entlastungen auf, damit Firmen schneller Alternativen zum Gas einsetzen können. Mit Blick auf Nord Stream 1 sagte Adrian: „Die Uhr tickt. Wir müssen als Unternehmer auch immer den Worst Case denken. Wir müssen leider mit dem Szenario umgehen, dass es nach der Wartung ab 21. Juli aus Nord Stream 1 erst mal kein Gas mehr gibt. Das wäre der Supergau.“
„Ich befürchte eine Rezession“
„Viele Betriebe müssten ohne Gas-Bezug ihre Produktion einstellen. Wenn dieser Fall eintritt, dann befürchte ich ganz klar eine Rezession. Dann werden wir einen wirtschaftlichen Abschwung erleben, der sich deutlich von dem unterscheidet, was wir in der Finanzkrise hatten.“ In der Finanzkrise 2009 war das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um 5,7 Prozent gesunken, 2020 coronabedingt um 4,6 Prozent.
Es ist nach dem Zweiten Weltkrieg oft von der „Stunde Null“ die Rede gewesen, jenem Moment, als das Land beginnen musste, sich nach dem Untergang des Nazi-Regimes, dem Holocaust, den Zerstörungen des Krieges, irgendwie neu zu erschaffen, aus Ruinen. Ob nach dieser „Woche Null“ die große Zerstörung erst in Gang gesetzt wird, ist offen. Sicher ist, dass die Bundesregierung in den vergangenen Monaten viel unternommen hat, um sich aus der Umklammerung Putins zu lösen, aus der verfluchten, selbst geschaffenen Energieabhängigkeit. Aber noch sitzt der Mann im Kreml am längeren Hebel, vor allem gegenüber Deutschland. Und in jüngster Zeit hat Putin jeden Hebel genutzt, den er nur erreichen konnte.
Lesen Sie auch: Dieser Mann entscheidet über unsere Gasverteilung