Pharmaindustrie Lebenswichtige Medikamente auf unbestimmte Zeit vergriffen

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Improvisations- und Organisationstalent gefragt

Roberto Frontini

Bislang ist es wohl nur dem Improvisations- und Organisationstalent von Klinikärzten und Apothekern zu verdanken, dass noch kein Patient die Lieferengpässe mit seinem Leben bezahlen musste. Walter Schwerdtfeger, Präsident der deutschen Arznei-Zulassungsbehörde BfArM in Bonn: „Murphy’s Law wird dafür sorgen, dass irgendwann ein Schaden eintritt.“

Der Leipziger Klinikapotheker Roberto Frontini hat in seiner Not schon Medikamente aus dem Ausland herbeigeschafft, selbst aus Japan. Das dauert dann schon mal eine Woche – inklusive Übersetzung der japanischen Fachinformation.

Ein nicht nur zeitaufwendiges, sondern auch teures Vorgehen: „Als Carmustin gegen schwere Krebserkrankungen nicht lieferbar war, musste ich für den zehnfachen Preis im Ausland bestellen“, sagt Frontini. So richtig wohl fühlt sich der gebürtige Italiener dabei ohnehin nicht: „Wir nehmen Spaniern und Griechen Medikamente weg, die sie dringend selber benötigen.“

Mehrere Tage dauere es, bis ein aufwendig per Einzelimport bestelltes Medikament aus Südeuropa in Deutschland ankommt, sagt Apotheker Friedemann Schmidt, zugleich Präsident der Apotheker-Vereinigung ABDA. Er führt die Seume-Apotheke am Rand von Leipzig. Seinen Kunden muss er häufiger erklären, dass sie in einigen Tagen wiederkommen müssen. „Die Patienten wollen Sicherheit und Kontinuität“, sagt Schmidt. „Viele gehen resigniert weg, und ich fürchte, dass sie die Therapie abbrechen, wenn sie ihr gewohntes Medikament länger nicht erhalten.“

Oft informieren die Hersteller anscheinend zu spät über drohende Engpässe: „In nur 20 Prozent der Fälle erhielten die Kliniken eine (schriftliche) Vorabinformation durch den Hersteller“, monierte die DKG nach ihrer Umfrage im vergangenen Herbst.

So meldete Pfizer zwar, dass wegen „Produktionsproblemen bei einem externen Hersteller in Norwegen“ das Antibiotikum Zyvoxid „auf unbestimmte Zeit“ als Spritze nicht verfügbar sei. Aber es gebe ja noch Zyvoxid-Tabletten. Doch vielen Patienten nützt das nichts: „Zyvoxid ist ein Antibiotikum für schwere Fälle, da können die Patienten oft kaum schlucken“, sagt Krankenhausapotheker Frontini. „Da macht es sich Pfizer sehr einfach.“ Statt dem intravenösen Zyvoxid setzt Frontini dann alternativ Cubicin ein, dessen Wirksamkeit jedoch nicht identisch sei.

In den Apotheken fehlt es oft auch an Alltagsarzneien wie Schilddrüsen-Präparaten, Antibiotika, Hormonpflastern oder Blutdruckmitteln. Das Schilddrüsen-Medikament L-Thyroxin von Hexal und Merck zählt zu den meistvermissten. „In Deutschland waren Patienten genötigt, auf Präparate eines anderen Herstellers umzusteigen“, sagt Harald Rimmele, Gründer des Bundesverbandes Schilddrüsenkrebs – Ohne Schilddrüse leben. „Das kann wie eine ungewollte Dosisänderung wirken und zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen.“

Je nach Ausprägung fühlten sich Patienten schlapp und träge oder fahrig und unkonzentriert. Rimmele muss seit einer Krebserkrankung vor mehr als zehn Jahren ohne Schilddrüse leben und ist auf die Hormonpräparate angewiesen.

Schwer erhältlich ist auch immer mal der Blutdrucksenker Metoprolol, was besonders AOK-Versicherte zu spüren bekamen. Bei der AOK hatte der Augsburger Generikahersteller Betapharm, Teil der indischen Dr. Reddy’s-Gruppe, zum 1. Juni 2011 den Zuschlag für einen Metoprolol-Rabattvertrag erhalten. Doch bis dato zählte das Mittel gar nicht zum Sortiment von Betapharm. Und der Zulieferer der Inder konnte erst mit vier Monaten Verspätung nach Deutschland liefern.

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