In Deutschland gilt nun die „Alarmstufe“ des Notfallplans Gas. Das heißt: Die Situation ist mehr als angespannt. Mit allen Mitteln muss nun Gas gespart oder beschafft werden – zur Not auch aus Deutschland. Das fordert zumindest Leonhard Birnbaum, der Chef des Energieversorgers E.On. „Wir müssen uns die Frage stellen: Können wir in Deutschland zusätzliche (Erdgas-)Felder erschließen?“, sagte Birnbaum in der aktuellen Folge des WirtschaftsWoche-Podcasts „Chefgespräch“.
„Wir haben die Erschließung von Feldern in Deutschland de facto eingestellt. Sie ist in den meisten Fällen wegen Umweltverträglichkeitsprüfungen und einem Berg rechtlicher Genehmigungen gar nicht mehr möglich.“ Aber die angespannte Versorgungssituation erlaube es nicht, die inländische Produktion außen vor zu lassen.
„Ohne Tabus nach Lösungen suchen“
„Wir müssen jetzt ohne Tabus nach allen Lösungen suchen, die uns helfen, unsere Situation besser zu gestalten, einfacher zu gestalten. Eine Erhöhung der inländischen Produktion in bescheidenem Ausmaß wäre nicht die Lösung, aber ein kleiner Baustein, der auch helfen kann.“ Zudem müsse überlegt werden, wie aus bestehenden Gasfeldern noch mehr gefördert werden könne.
Diese Länder haben einen Alarm bei der Gaslieferung ausgesprochen
In Deutschland galt seit Ende März die Frühwarnstufe und damit die erste Eskalationsstufe des Notfallplans Gas. Dieser sieht als zweiten Schritt die Alarm- und als dritten die Notfallstufe vor. Am 23. Juni wurde die Alarmstufe ausgerufen.
Würde die dritte Stufe ausgerufen, würde die Bundesnetzagentur in den Markt eingreifen und entscheiden, ob und wieviel Gas an Haushalte, Industrie und Gewerbe geliefert werden.
Österreich hat wie Deutschland die Frühwarnstufe im Gas-Notfallplan ausgerufen. Die Alarmstufe zu erhöhen ist nach Angaben des Regulators E-Control derzeit nicht notwendig. „Im Moment ist es so, dass auch mit den reduzierten Mengen der Verbrauch gedeckt werden kann und auch eingespeichert werden kann pro Tag“, sagte Carola Millgramm, die Leiterin der Gasabteilung der E-Control, am 21. Juni der Nachrichtenagentur Reuters.
Betroffen von einer Drosselung seien die Gasflüsse über die Ostsee-Pipeline Nord Stream. Die Importe über den Gashub Baumgarten in Niederösterreich seien stabil, erklärte die Austrian Gas Grid Management (AGGM), die für das Management der internationalen Gastransitleitungen zuständig ist, in ihrem Lagebericht.
Die Niederlande befindet sich in der ersten Phase einer Gaskrise, warnte Energieminister Rob Jetten am 20. Juni. Russland hatte bereits im Mai die Lieferung von Gas gestoppt. Jetzt kurbelt das Land die Produktion der Kohlekraftwerke erneut an. Es gebe zwar noch keinerlei Engpässe. Doch durch Russlands Entscheidung, die Gaslieferungen in europäische Länder zu stoppen oder stark zu reduzieren, könne sich die Lage schnell verschlechtern. Der Minister rief Bürger und Betriebe dringend auf, so viel Energie wie möglich zu sparen.
Dänemark hat am 20. Juni eine Warnung ausgesprochen. Das Land erhält bereits kein Gas mehr aus Russland.
Schweden hat am 21. Juni für Teile des Landes die erste von drei Alarmstufen wegen möglicher Probleme bei der Gasversorgung aus Russland ausgerufen. Die Stufe gilt laut Energiebehörde für Landesteile im Westen und Süden Schwedens, um sich auf potenzielle Liefer-Unterbrechungen vorzubereiten.
Dabei sei, so Birnbaum, die geologische Ausgangssituation in Deutschland anders als etwa in den USA. „Die Gasfelder, die wir in Deutschland erschließen, sind im Allgemeinen wesentlich tiefer liegend. Der Einstieg in mehr inländische Förderung heißt nicht gleich, dass man amerikanisches Fracking in Deutschland machen muss. Das ist die falsche Gleichsetzung. Wir sollten inländische Produktion absolut maximieren. Das ist ein Teil der Lösung. Und es ist vielleicht umweltfreundlicher als viele der Alternativen“, sagte Birnbaum im „Chefgespräch“.
Atomkraftwerke? „Das Thema ist durch“
Eine Verlängerung der Laufzeiten der drei am Netz verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland ohne gesetzliche Änderung lehnt Birnbaum allerdings ab. Isar 2, das letzte Atomkraftwerk im Besitz von E.On, geht wie die anderen beiden Kraftwerke am Ende des Jahres vom Netz. „Wenn wir diese Anlagen weiterbetreiben müssen, können wir das nur, wenn es dazu einen politischen Willen gibt, der sich in einer komplett anderen gesetzlichen Basis niederschlägt. Bei der momentanen Gesetzeslage ist klar: Am 31.12., 24 Uhr, ist es vorbei – um 23.59 Uhr und 59 Sekunden ist es vorbei.“
Allerdings sieht Birnbaum eine Laufzeitverlängerung prinzipiell skeptisch. „Es ist alles möglich, wenn man bereit ist, Geld in die Hand zu nehmen, wenn man bereit ist, entsprechende Voraussetzungen zu schaffen. Aber das Thema ist durch. Und deswegen ist es für uns als E.On keine hilfreiche Diskussion. Es lenkt uns davon ab, was wir eigentlich machen müssen: Wir müssen uns auf den Rückbau der Kernkraftwerke konzentrieren.“
„Die Situation ist sehr ernst“
Birnbaum wies darauf hin, dass die derzeit aus Russland gelieferten Mengen im nächsten Winter zu einem Problem werden könnten. „Die Situation ist sehr ernst. Wir haben im Moment auf jeden Fall ein Mengenproblem.“ Mit den Mengen, die derzeit geliefert würden, sei eine Vorbereitung auf den Winter in dem Sinne, wie es das Erdgas-Speichergesetz vorsieht, „schwierig bis gar nicht möglich, so dass wir dann den Winter nicht optimal vorbereitet beginnen würden.“
Das neue Speichergesetz sieht vor, dass die deutschen Erdgasspeicher Anfang Oktober zu 80 Prozent und Anfang November zu 90 Prozent gefüllt sein müssen. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) hatte am Donnerstag von der Bundesnetzagentur erarbeitete Szenarien für den Winter vorgestellt. Demnach ist in einem Szenario eine Einsparung des Verbrauchs um 20 Prozent sowie der zusätzliche Import von Flüssigerdgas (LNG) in einer Größenordnung von etwa 13 Milliarden Kubikmeter ab Anfang 2023 nötig, um eine Mangellage im Winter zu verhindern – und das alles unter der Voraussetzung, dass die Lieferungen aus Russland durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 in etwa auf dem gegenwärtigen Niveau (40 Prozent) verbleiben.
Birnbaum sieht Einsparmöglichkeiten in der Industrie
Der gegenwärtig hohe Gaspreis, glaubt der E.On-Chef, könne gerade die Industrie dazu verleiten, Einsparungen vorzunehmen – und so zu möglichen Einsparungen beizutragen.
„Im Industriebereich haben wir natürlich einen größeren Hebel. Wenn ein Unternehmen an einem Standort etwas unternimmt, ein Stahlwerk, eine Chemiefabrik, dann kann das natürlich wesentlich größere Volumina beeinflussen (als in Privathaushalten)“, sagte Birnbaum in der Folge des Podcasts „Chefgespräch“. „Ich glaube nicht, dass die Industrie große Einsparmöglichkeiten einfach hat liegen lassen. Aber bei den jetzt höheren Preisen lohnen sich vielleicht Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren überhaupt nicht angegangen wurden, weil sie eigentlich zu teuer waren, weil sie zu viel Investitionen erfordert haben oder weil sie zum Beispiel zu viele Probleme im Produktionsprozess gemacht haben“, erläuterte Birnbaum.
Lesen Sie hier, was die Ausrufung der Alarmstufe genau bedeutet.