Renate Künast „Wir müssen die Lebensmittel-Multis zur Veränderung zwingen“

Renate Künast will weniger Zucker, Salz und Fett in Lebensmitteln Quelle: dpa

Renate Künast, Ernährungs-Expertin der Grünen und ehemalige Bundes-Ernährungs-Ministerin über eine völlig fehlgeleitete Nahrungsmittel-Industrie, unsere falsche Ernährung und ihre Gesetzespläne für weniger Zucker, Salz und Fett in Lebensmitteln.

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WirtschaftsWoche: Frau Künast, Nestlé sagt, ein besserer Konzern werden zu wollen. Wie glaubwürdig kann so ein Imagewandel sein?
Renate Künast: Bei Nestlé fällt mir als allererstes ein Riesenkonzern mit viel, viel Marktmacht ein. Nestlé bestimmt, was es an sogenannten Lebensmitteln auf der Welt gibt. Aber sie gehören eben auch zu denen, die dafür gesorgt haben, dass wir alle jeden Tag hochverarbeitete Lebensmittel essen, die meistens zu viel Zucker, Salz und Fett enthalten. Und sie gehören auch zu den Konzernen, die dafür möglichst billige Rohstoffe einkaufen wollen: das fängt bei Palmöl an und hört bei Wasser noch nicht auf.

Was ist daran verwerflich? Millionen Menschen auf der Welt fragen Nestlés Produkte nach. Und in den Erzeugerländern leben viele weitere Millionen Menschen von der Rohstoffproduktion dort.
Das Problem sind die versteckten Kosten für uns alle: Etwas, das im Supermarktregal ganz preiswert ist, hat ja immense Folgekosten für Volkswirtschaft, Umwelt, Gesundheit. Das fängt bei der Rodung von Regenwäldern für Palmöl an und hört bei zehn Millionen Diabetikern auf, die wir heute in Deutschland haben. 20 Millionen Menschen haben zudem eine Vorstufe der Zuckererkrankung, weil unsere industriell-hergestellten Lebensmittel eine viel zu hohe Energiedichte haben. Das haben heute schon Kinder mit zehn, elf, zwölf Jahren. Die Sozialkassen kostet das jährlich 30 Milliarden Euro – für Krankenkosten, Frühverrentung, Arbeitsunfähigkeit und so weiter.

Nestlé will nun den Zuckergehalt und die Zusammensetzung tausender Produkte ändern. Was halten Sie davon?
Nestlé bleibt doch gar nichts anderes übrig als sich zu verändern. Die Entwicklung ist unausweichlich. Auf der einen Seite haben wir den Zeitgeist. Die Menschen wollen immer mehr wissen, wo ihr Essen herkommt, was drin ist, wie es hergestellt wurde. Nehmen Sie nur das „Good Food Movement“ in Deutschland oder die neue Ernährungsstrategie unserer Hauptstadt Berlin. Darin wird festgelegt, dass künftig das Essen in den städtischen Einrichtungen, den Kindergärten, Schulen und Seniorenheimen, zu 100 Prozent Bio sein soll. Das bedeutet automatisch weniger verarbeitete Lebensmittel. Das ist eine breite Bewegung, da brennt richtig die Luft.

Andere Länder versuchen es mit Gesetzen. Im Vereinigten Königreich etwa gibt es eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es auch bei uns feste Regeln geben muss. Wir Grüne bereiten gerade einen Antrag vor, in dem wir etwa eine verbindliche nationale Reduktionsstrategie für Zucker, Salz und Fett in verarbeiteten Lebensmitteln mit konkreten zeit- und produktspezifischen Reduktionszielen fordern. Unser Ernährungssystem heute ist vollkommen gestört: wir nähren nicht mehr Körper und Geist, sondern stopfen oft nur noch Kalorien in uns rein. Das müssen wir ändern. Ich habe nichts gegen Schokolade. Aber wir müssen die gesunde Ernährung einfacher machen. Wir wollen eine einfache, farbliche Kennzeichnung wie beispielsweise die Nährwertampel oder Nutriscore. Dann soll das Lebensmittel-Marketing an Kinder unter 14 Jahren eingeschränkt werden – es sei denn, es ist Werbung für ein ausgewogenes gesundes Lebensmittel wie einen Apfel. Und dann braucht es auch bei uns steuerliche Anreize wie in Irland, Portugal, Spanien, Estland, Belgien oder Frankreich. Wenn Limonaden oder bestimmte verarbeitete Lebensmittel die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation zum Verzehr von Zucker stark überschreiten, müssen sie teurer werden oder ihren Zuckergehalt entsprechend senken, um den Preisanstieg zu vermeiden. Wir müssen die Konzerne verpflichten, diese Regeln einzuhalten. Die sind gerade vollkommen fehlgeleitet.

Daran ist die Politik nicht ganz unschuldig. Seit Jahren scheitert etwa eine einheitliche europaweite Regelung zu Zucker und Salz, obwohl die WHO schon Grenzwerte formuliert hat.
Man hätte tatsächlich früher Rahmen setzen müssen. Über die Lebensmittelampel diskutieren wir bereits, seitdem ich vor 15 Jahren Bundes-Ernährungsministerin war. Das Argument der Industrie dagegen war immer: Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie sie sich ernähren sollen. Das Gegenteil ist richtig: Wir wollen nichts vorschreiben. Aber dadurch, dass Süßigkeiten und zuckerhaltige Snacks heute so billig und überall verfügbar sind, müssen sie schon als Heldin geboren sein, um sich gut zu ernähren. Am Ende ist das auch eine soziale Frage, weil es in den unteren Gesellschaftsschichten überproportional Fettleibigkeit gibt. Wir brauchen da eine grundlegende Umstrukturierung, wir brauchen andere Produkte, wir brauchen wieder mehr Lebensmittel, die richtige Mittel zum Leben sind. Die Industrie alleine wird das nicht machen. Die denken an ihre Aktionäre. Deshalb muss man nun nachhelfen. Und dabei dürfen wir nicht auf Europa warten, da müssen die Mitgliedsstaaten anfangen.

Sie wollen die Lebensmittelmultis wie Nestlé zerstören?
Nein. Aber es ist wie im Saatgut- oder Chemiebereich: dort gibt es auch immer weniger große Konzerne, die immer mehr bestimmen und versorgen. Aber wenn irgendjemand behauptet, so große Konzerne wie Nestlé hätten etwas damit zu tun, sicher zu stellen, dass wir eine wachsende Weltbevölkerung ernähren können, dann muss ich sagen: etwas Obskureres habe ich lange nicht gehört. 80 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe auf der Welt sind Kleinbauern. Die ernähren die Welt. Da liegt der Kern. Und in einer traditionell-ökologischen Bewirtschaftung der Flächen. Diese ganzen hochverarbeiteten Sachen brauchen wir dafür nicht. Aber: man kann Rührei nicht wieder trennen. Deshalb müssen wir versuchen, die Rahmenbedingungen so umzubauen, dass die Lebensmittelmultis zur Veränderung gezwungen werden.

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