Am Nachmittag des 31. März 2016 lenkt Huma H. ihren Honda Civic über die FM 726 in der Nähe Houstons, Texas, als sie plötzlich zwei Rücklichter rot aufleuchten sieht. Die 17-Jährige tritt auf die Bremse – doch ihr Honda prallt auf das das Auto vor ihr. Ein leichter Zusammenstoß, wie die Polizei später mitteilt, aber wenige Sekunden später ist die Schülerin tot. Ein Metallsplitter hat sie im Hals getroffen und ihre Schlagader tödlich verletzt. Abgefeuert hat das Geschoss eine Vorrichtung, die eigentlich Leben retten soll: der Airbag im Lenkrad.
Der Hersteller des Airbags heißt Takata. Ein Unternehmen aus Tokio, es entwickelt Lenkräder, Sicherheitsgurte – und Airbags. Weltweit stellen die Japaner jeden fünften Luftsack her. In Deutschland verbaut sie zum Beispiel BMW. Fast alle Airbags funktionieren einwandfrei, doch einige verwandeln sich in tödliche Waffen. Bei Unfällen explodieren die defekten Geräte zu stark und schleudern Teile der Metallverkleidung durch den Wagen. Bislang haben sie so zehn Menschen getötet, mehr als 100 wurden verletzt. Huma H. ist das elfte Opfer.
Die Skandal-Airbags aus Tokio sind in der Autobranche seit langem ein Problem. Sie haben Menschenleben ausgelöscht – und den größten Auto-Rückruf in der Geschichte der USA ausgelöst. Über 34 Millionen Fahrzeuge mit Takata-Airbags mussten Autohersteller allein dort seit 2008 zurück in die Werkstätten rufen. Weltweit sind 54 Millionen Autos von der Panne betroffen. Selbst der Zündschloss-Skandal bei General Motors oder Dieselgate bei Volkswagen wirken im Vergleich mit den Ausmaßen des Takata-Skandals schon fast überschaubar.
Takata drohen neue Milliardenverluste
Takata ist deswegen angezählt. Bislang teilen sich die Japaner die Kosten für den Rückruf mit den Autoproduzenten – dennoch reißt der Skandal gewaltige Löcher ins Ergebnis. Für 2015 vermeldete Takata einen Verlust von umgerechnet etwa 240 Millionen Euro. Der Cash Flow brach im Vergleich zum Vorjahr um 87 Prozent ein. An der Börse ist das Unternehmen derzeit nur noch knapp 260 Millionen Euro wert. Ein Verlust von mehr als 80 Prozent seit 2013.
Im März berichtete die Nachrichtenagentur Bloomberg, Takata rechne nun mit 24 statt 3,5 Milliarden Dollar Kosten für die gesamte Rückrufaktion. Prompt brach die Aktie des Konzerns um 20 Prozent ein. Takata dementierte den Bericht – doch die Horrormeldung war in der Welt. Ohnehin könnte es noch schlimmer kommen: Nach Einschätzung der US-Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA sind weiterhin 85 Millionen Fahrzeuge mit potentiell tödlichen Airbags unterwegs. Kann Takata bis Ende 2018 nicht beweisen, dass sie ungefährlich sind, müssten auch sie zurückgerufen werden – unkalkulierbare Kosten inklusive.
Warum die Branche auf Takata angewiesen ist
Paradoxerweise ist es gerade diese riesige Dimension des Skandals, die Takata noch retten könnte. „Zumindest kurzfristig wird man kaum auf Takata verzichten können“, erklärt Stefan Bratzel, der die Autobranche an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch-Gladbach analysiert. Für ihn verdeutlicht der Fall die Risiken des Plattformkonzeptes in der Autoproduktion. Dabei setzen Autohersteller in verschiedenen Modellen das immer gleiche Bauteil oder leichte Weiterentwicklungen ein. Das spart Entwicklungskosten – macht aber anfällig, falls ein Bauteil mal nicht wie gewünscht funktioniert.
Fünf Gründe für die häufigen Rückrufe
Die technische Komplexität der Fahrzeuge ist in den letzten 10 bis 15 Jahren enorm gestiegen, wodurch die Fahrzeuge zwar grundsätzlich sicherer geworden sind. Allerdings führte die technische Komplexität auch zu einem Anstieg der Fehlerhäufigkeit und Fehleranfälligkeit. Hierzu tragen unter anderem passive und aktive Sicherheitssysteme (wie ABS, ESP, Airbags; Fahrassistenzsysteme) bei, die gleichzeitig die Fahrzeugsicherheit deutlich erhöht haben. Darüber hinaus sind motortechnische Optimierungen (Start/Stopp-Systeme, Aufladung etc.) sowie zahlreiche Komfortmerkmale wie etwa Navigations-, Telefon und Internetdienste im Fahrzeuge zu nennen. Es ist zu erwarten, dass im Zuge der Entwicklung weiterer Komfort- und Sicherheitsfeatures auch künftig der Komplexitätsgrad der Fahrzeuge zunimmt.
Quelle: "Die Rückruf-Trends der globalen Automobilhersteller im Jahr 2014 (AutomotivePeformance 2015)" des Center of Automotive Management
Die Produktentwicklungszyklen wurden in den vergangenen zehn Jahren deutlich verkürzt. Aufgrund der hohen Wettbewerbsintensität der Branche bringen die globalen Hersteller in immer kürzerer Zeit neue Modelle bzw. Derivate in Umlauf und verbreitern damit ihr Produktportfolio kontinuierlich. Wer es schafft, mit neuen Modellen beziehungsweise Modellvarianten schnell am Markt zu sein, hat im globalen Wettbewerb Vorteile. Der hohe Zeitdruck in der Produktentwicklung wirkt sich negativ auf
die Qualitätssicherung aus.
Um Kosten-, Zeit- und Innovationsvorteile zu realisieren, wurden erhebliche Teile der Wertschöpfung auf die Automobilzulieferer übertragen. Ihr Wertschöpfungsanteil ist mittlerweile auf rund 75 Prozent gestiegen. Gleichzeitig steigen mit dieser Verlagerung die Anforderungen an unternehmensübergreifendes Qualitätsmanagement, das darüber hinaus auf globaler Ebene sichergestellt werden muss. Es muss einerseits nicht nur die eigene Produktqualität, sondern auch durch geeignete Prozesse die Teilequalität der globalen Lieferanten gesichert werden. Andererseits steigt die Komplexität eines Qualitätsmanagement auch dadurch, dass die Automobilhersteller nicht nur die zugelieferten Teile, sondern meist auch die Qualität der international verteilten Produktionsanlagen ihrer Zulieferer einschätzen und durch Prozesse absichern müssen.
Die Automobilhersteller stehen aufgrund der hohen Wettbewerbsintensität auch unter enormen Kostendruck. Gleichzeitig geben die Hersteller den Kostendruck an die Automobilzulieferer weiter, die dazu angehalten sind, ihre eigene Kosten beziehungsweise die ihrer Teile- und Rohstofflieferanten zu drücken. Hier besteht die Gefahr, dass der Kostendruck auf zu Ungunsten der Produktqualität geht.
Um Kosten zu sparen und die Entwicklungsgeschwindigkeit zu erhöhen, müssen die Hersteller zunehmend auf Gleichteile- oder Baukastenstrategien setzen. Hierbei nutzen die OEM die gleichen Komponenten und Module in möglichst vielen Modellen, um von den hiermit verbundenen Mengeneffekten zu profitieren. So plant BMW etwa die Zahl der hergestellten Fahrzeuge je Plattform bis zum Jahr 2019 etwa zu verdoppeln, Volkswagen (durch die Einführung des MQB) diese sogar fast zu verdreifachen. Diese Strategie entwickelt sich zu einem wichtigen Erfolgs- und Überlebensfaktor der Hersteller, da sich aus ihr erhebliche Kostenvorteile ergeben können. Gleichzeitig steigt jedoch das Risiko, dass bei Qualitätsproblemen einzelner Teile oder Komponenten eine große Menge von Fahrzeugen über Baureihen hinweg zurückgerufen werden müssen.
Die fehlerhaften Takata-Airbags zum Beispiel haben elf Autohersteller in unterschiedlichen Modellen verbaut. Wenn die – wie derzeit der Fall – alle auf einen Schlag in die Werkstatt müssen, fehlt der Nachschub. „Die zurückgerufenen Autos müssen ja wieder bestückt werden“, sagt Auto-Experte Bratzel. Dazu kommen neue Automodelle, die ebenfalls auf den Airbag abgestimmt sind. Takata werde zumindest kurzfristig gebraucht, denn es gebe nur wenige Airbag-Hersteller am Markt. Und selbst auf die könne man nicht einfach so umstellen. Zu sehr sind die einzelnen Bauteile im Plattformkonzept aufeinander abgestimmt. Zu lange dauerte es, bis Konkurrenten eine Alternative entwickelt hätten – und diese zugelassen wäre.
Bratzel hält es deswegen für möglich, dass nun Autohersteller, die Takata-Airbags verbauen, Auftragsgarantien geben oder selbst mit Krediten einspringen – allein um ihre Wagen weiter bestücken und den Rückruf stemmen zu können. „Takata braucht Geld, sonst halten die nicht mehr lange durch“, prophezeit Bratzel. Und selbst mit neuem Geld werde es das Unternehmen in ein paar Jahren höchstens in anderer Form geben. „Der Name Takata ist auf jeden Fall verbrannt.“