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Roland-Berger-Deutschlandchef „Vor der Wahl hat niemand Interesse an einer Pleitewelle“

Sascha Haghani Quelle: Roland Berger/Jan Voth

Sascha Haghani, Deutschlandchef der Beratungsgesellschaft Roland Berger, über den Restrukturierungsbedarf der deutschen Wirtschaft – und warum Corona längst nicht mehr der einzige Belastungsfaktor für Unternehmen ist.

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Sascha Haghani ist einer der gefragtesten Restrukturierungsexperten des Landes. Seit 1992 arbeitet er bei Roland Berger und hat seither Dutzende Unternehmenssanierungen begleitet. Inzwischen leitet Haghani die globale Restrukturierungspraxis von Roland Berger und führt die Geschäfte der Beratungsgesellschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. 

WirtschaftsWoche: Herr Haghani, die globalen Lieferketten sind durch den Containermangel und Hafensperrungen gestört. Computerchips sind Mangelware. Es gibt empfindliche Preisanstiege für Holz und zahlreiche Grundstoffe. Das Zinsniveau dürfte steigen. Und die Corona-Pandemie ist auch noch nicht vorbei. Zieht da ein perfekter Sturm für die deutsche Wirtschaft auf?
Sascha Haghani: Sie können die Liste noch erweitern. Nehmen Sie Auseinandersetzung zwischen China und den USA – oder ganz aktuell: Der Umsturz in Afghanistan. Wir haben versucht, die verschiedenen Entwicklungen in drei Bereiche zu clustern, die in den nächsten Monaten erheblichen Einfluss auf die deutsche Wirtschaft haben werden. 

Nämlich?
Erstens drängen geopolitische Themen zurück auf die Agenda: Die Welt wird weiter unsicher bleiben oder sogar noch ein Stück unsicherer werden. Für alle Geschäftsmodelle, die stark auf internationaler Verflechtung beruhen, kommt damit ein zusätzlicher Risiko- und Belastungsfaktor für die Lieferketten hinzu. Zweitens sehen wir vermehrt Inflationstendenzen. Bei Rohstoffen und Vorprodukten steigen die Preise, der Transport wird teurer und viele Unternehmen stehen vor der Frage, ob und wie sie die Kostensprünge an ihre Kunden weitergeben können. Das dritte Thema sind die Bundestagswahlen im Herbst. 

Sicher, die Wahlen sind wichtig. Aber ist die Politik für die Wirtschaft wirklich noch so relevant?
Wer künftig das Land regiert, wird für viele Branchen richtungsweisend sein. Klar ist schon jetzt, dass der Klimaschutz stärkere Bedeutung bekommen wird, egal wer ins Kanzleramt einzieht. Aber die konkrete Ausgestaltung und die Umsetzungsgeschwindigkeit haben große Auswirkungen auf zahlreiche Unternehmen. Nicht nur direkte Vorgaben wie CO2-Einsparziele spielen dabei eine Rolle. Auch der Finanzsektor schaut inzwischen sehr genau auf den ökologischen Fußabdruck von Unternehmen. Bestimmte Technologien und Produktionsprozesse werden nicht mehr finanziert oder versichert. Damit ist der politische Faktor genauso relevant wie die globalen Verflechtungen und Inflationsthemen. 

Und Corona spielt keine Rolle mehr? 
Die Pandemie bleibt die große unbekannte Variable. Aber wir werden wahrscheinlich keinen klassischen Lockdown mehr erleben. Dafür ist die Impfquote mittlerweile zu hoch. Zugleich ist allen Entscheidungsträgern bewusst, welche immensen wirtschaftlichen Schäden ein nochmaliges Runterfahren der Wirtschaft hätte. 

Bedeutet die wachsende Unsicherheit mehr Arbeit für Sie und ihr Restrukturierungsteam bei Roland Berger?
Ehrlich gesagt: Ich bin jetzt 29 Jahre bei Roland Berger, aber so ein Jahr habe ich auch nicht erlebt. Die Pandemie hat den Handlungsdruck in vielen Unternehmen enorm erhöht – und damit den Beratungsbedarf.

In den Insolvenzstatistiken ist davon nichts sichtbar. Im Gegenteil: Die Pleitewelle ist ausgeblieben. Große Unternehmenshavarien sind trotz Pandemie die Ausnahme geblieben. Wie kommt’s?
Richtig, die Insolvenzzahlen liegen seit geraumer Zeit auf sehr niedrigem Niveau und ein Covid-Effekt ist in der Statistik nicht ablesbar. Dafür gibt es einige Gründe. Der wichtigste: In der Coronakrise ist sehr viel staatliches Geld ins System geflossen, sei es als Kurzarbeitergeld, Überbrückungshilfe oder KfW-Kredit.

Das heißt aber auch: Viele Unternehmen wurden künstlich über Wasser gehalten, verfügen in Wahrheit aber über kein funktionierendes Geschäftsmodell. Wie lange können solche Firmen durchhalten?
Viele Unternehmen waren schon vor Corona in Schwierigkeiten und haben in den letzten Monaten milliardenschwere staatliche Unterstützung erhalten. Die Verschuldung dieser Firmen ist sehr hoch. Momentan haben die Finanzinstitute aber kein Interesse, ihre Bilanzen mit Abschreibungen zu belasten und warten lieber, wie stark die wirtschaftliche Erholung ausfällt, bevor sie die Reißleine ziehen. Und politisch hat vor der Wahl ohnehin niemand ein Interesse an einer Pleitewelle. Vor diesem Hintergrund rechnen wir 2021 mit wenig Bewegung bei den Insolvenzzahlen. Es wird ein paar Einzelfälle geben, aber eine breite Pleitewelle sehe ich nicht.

Und danach? 
2022 wird sehr stark von der Entwicklung der Zins- und Faktorkosten abhängen und davon, wie stark sich die drei übergeordneten Themen auswirken. Das ist im Grunde wie bei einer Maschine: Wenn sich ein Zahnrad verkantet, funktioniert nichts mehr. Klar ist schon jetzt: alle Unternehmen, die mit strukturellen Problemen kämpfen und ihren Geschäftsbetrieb in den letzten Jahren nur aufrechterhalten konnten, weil die Zinsen für Finanzierungen so niedrig waren, werden massive Probleme bekommen. Die Kapitalkosten steigen. Daher versuchen etliche Player schon jetzt, ihre Finanzierungen neu zu sortieren und sich für die nächsten Jahre abzusichern.

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In welchen Branchen ist der Restrukturierungsbedarf besonders groß? 
Die Automobilbranche und der Einzelhandel befanden sich schon vor Corona im strukturellen Umbruch, hier ist der Veränderungsdruck besonders hoch. Gerade Schmuck- und Fashionanbieter müssen kämpfen. Die Probleme im Handel könnten wiederum auf die Immobilienbranche durchschlagen, zumal dort auch der Trend zum Homeoffice Folgen haben dürfte. Überkapazitäten sehen wir auch bei Reisebüros, Hotel- und Restaurantstandorten. An harten Restrukturierungen führt in vielen Fällen kein Weg mehr vorbei.

Mehr zum Thema: Seit kurzem gilt die Insolvenzantragspflicht für überschuldete oder zahlungsunfähige Unternehmen wieder ohne Ausnahmen. Trotzdem verharren die Pleitezahlen auf niedrigem Niveau, zeigt eine exklusive Datenauswertung.

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