Schadensersatz, Klagechancen, Verjährung Was VW-Dieselkunden jetzt wissen müssen

Rund 7000 Klagen von VW-Kunden liegen bei deutschen Gerichten. Wer jetzt noch Schadensersatz einfordern will, muss sich beeilen: Ende des Jahres droht die Verjährung. Doch eine Klagestrategie verspricht neue Chancen.

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Die Klagechancen für VW-Kunden stehen gut. Quelle: Reuters

Düsseldorf Der Endspurt hat begonnen. Tausende Besitzer von Dieselautos der Marken des VW-Konzerns haben bereits Klage auf Schadensersatz eingereicht. In den letzten Monaten des Jahres hat sich wegen der drohenden Verjährung zum Jahresende der Run auf die Gerichte nochmals verstärkt. Nach Auskunft von Anwälten wächst die Zahl der Klagen täglich. Schätzungen zufolge sind derzeit rund 7000 anhängig – Tendenz stark steigend.

Allein rund 15.000 Autofahrer hatten am vergangenen Montag beim Landgericht Braunschweig eine gemeinsame Klage eingereicht. Allerdings ist noch offen, ob die Richter dieses Verfahren überhaupt eröffnen werden. Volkswagen hat rechtliche Zweifel daran geäußert, dass eine Sammelklage in Deutschland überhaupt möglich ist.

Der Grund für die jüngste Klagewelle: VW hat nur bis Ende des Jahres darauf verzichtet, sich auf die Verjährung von Käuferrechten zu berufen. Gewährleistungsansprüche verjähren grundsätzlich zwei Jahre nach Bekanntwerden eines Mangels. Weil der Dieselskandal am 19. September 2015 durch US-amerikanische Umweltbehörden publik gemacht wurde, wirkt der um gut drei Monate verlängerte Verjährungsverzicht von Volkswagen auf den ersten Blick großzügig.

Doch VW lenkt mit dem Manöver von einem anderen Weg ab, der für potenziell Geschädigte weiterhin offensteht und für den Autobauer viel bedrohlicher ist. Denn es geht um den Vorwurf, dass der Konzern seine Kunden betrogen hat.

Immer häufiger bauen Diesel-Besitzer ihre Klagen darauf auf: Die Gerichte werden zunehmend mit Verfahren konfrontiert, die sich nicht nur auf Mängel der manipulierten Autos stützen, sondern ausdrücklich auch auf den Vorwurf, der Volkswagenkonzern habe seine Kunden bewusst hinters Licht geführt.

Das hat massive Folgen: Sollte sich herausstellen, dass die Abgas-Manipulationen als Betrug zu werten sind, würde die Verjährung erst Ende nächsten Jahres einsetzen, wie Martin Fries, Privatdozent an der Universität München, bestätigt. „Der Abgasskandal ging im Herbst 2015 erstmals durch die Presse, daher nimmt man gemeinhin an, dass die drei Jahre mit Ablauf des Jahres 2015 beginnen und die Verjährung mit Ablauf des Jahres 2018 eintritt“, sagt Fries.

Selbst ein späterer Fristablauf sei sogar denkbar. Dann müssten Autokäufer das Gericht davon überzeugen, betrogen worden zu sein und dass sie das Auto ohne die Schummelsoftware nie gekauft hätten. In diesem Fall könne eine Rückzahlung des Kaufpreises noch bis zehn Jahre nach der ursprünglichen Zahlung verlangt werden. „Wer also sein Auto 2014 gekauft und bezahlt hat, könnte dann noch bis 2024 die Rückzahlung fordern“, so Fries.

Die aktuelle Entwicklung gibt den Klägern dabei Anlass zur Hoffnung. Mittlerweile ermitteln zwei Staatsanwaltschaften im Skandal um manipulierte Abgaswerte im VW-Konzern. Die in Braunschweig verdächtigt fast 40 Personen aus dem VW-Konzern, an den Betrügereien mitgewirkt zu haben, unter ihnen Ex-Vorstandschef Martin Winterkorn. In München verdächtigen die Ermittler Audi-Mitarbeiter, betrogen und die Autos in strafbarer Weise vertrieben zu haben.

Der Verdacht ist offenbar so stark, dass es erst vor kurzem zur zweiten Verhaftung kam. Anwälte wie Ralf Stoll von der Kanzlei Dr. Stoll & Sauer halten das für ein Signal, dass nun auch die Zivilgerichte geneigter sein dürften, Schadensersatzansprüche wegen Betrugs ins Auge zu fassen.


Gerichte sind mehrheitlich auf Verbraucher-Seite

Bei VW hingegen hält man daran fest, im Recht zu sein. Die meisten Landgerichte seien der Auffassung, „dass den Kunden kein Recht auf Rückabwicklung des Kaufvertrages zusteht“, erklärte ein Konzernsprecher. Außerdem hätten die Gerichte „ganz überwiegend entschieden, dass auch keine Schadensersatzpflicht der Volkswagen AG besteht“.

Der Anteil der klageabweisenden Gerichtsentscheidungen bewege sich „relativ konstant auf einem Niveau zwischen 70 und 75 Prozent“.

Dem widersprechen jedoch Klägeranwälte wie der Münchner Markus Klamert von KMP3G Rechtsanwälte ganz entschieden. „Man kann mit fast hundertprozentigem Erfolg rechnen. Spätestens in der zweiten Instanz vergleicht sich VW“, sagte Klamert dem Handelsblatt.

Auch eine Statistik, die der ADAC seit Bekanntwerden des Skandals führt, spricht gegen die VW-Ausführungen. Danach sind bislang 78 Urteile bekannt, die den Kunden die Rückgabe der Fahrzeuge ermöglichten. Nur in 22 Fällen wiesen die Gerichte die Klage ab. Ähnlich beim Schadensersatz: Dort verzeichnet der ADAC 37 Urteile zugunsten der Kunden und nur 15 gegen sie.

Bei Aussagen zur Zahl der Vergleiche hält sich VW zudem mit konkreten Angaben zurück. Die Anzahl liege „in Relation zur Gesamtzahl der Verfahren auf einem niedrigen Niveau“, so das Unternehmen. Fest steht jedoch, dass es immer wieder zu Vergleichen kommt. Dem Handelsblatt liegen entsprechende Fälle vor.

Für die Verhandlungsbereitschaft von VW gibt es auch einen nachvollziehbaren Grund. Ein endgültiges Urteil des Bundesgerichtshofs dürfte dem Konzern kaum gefallen. Das Risiko, dass es zu Lasten des Unternehmens ausfällt, scheint gewachsen zu sein.


Auch im Ausland könnten Verbraucher-Klagen zunehmen

Zu den etwa 7000 deutschen Verfahren kommen noch einige Hundert aus anderen europäischen Ländern dazu. „Im Vergleich zur Situation in Deutschland ist das eine extrem niedrige Zahl“, heißt es dazu aus der Wolfsburger Konzernzentrale.

Die Umrüstung der manipulierten Dieselfahrzeuge ist nur in Deutschland, Österreich, Finnland und Portugal vorgeschrieben. In der Bundesrepublik klagen viele Autofahrer gerade deshalb, weil sie befürchten, dass ihre Fahrzeuge nach der Umrüstung Schaden nehmen würden. In den meisten anderen Ländern gibt es den rechtlichen Zwang zur Umrüstung nicht, etliche Autofahrer verzichten deshalb einfach darauf – und fallen auch als mögliche Kläger aus.

Die niedrige Zahl an Verfahren in anderen europäischen Staaten kann sich allerdings noch deutlich erhöhen. In einigen Ländern wie Italien und Großbritannien können sich vom Dieselskandal betroffene Autofahrer zu den vor allem aus den USA bekannten Sammelklagen zusammenschließen. Im Moment ist allerdings noch offen, ob es in einzelnen Ländern wirklich dazu kommt.

In den USA sind zwei große Sammelklagen mit mehr als 400.000 Dieselkunden bereits abgeschlossen worden. Volkswagen hat dafür einen Entschädigungstopf mit mehr als zehn Milliarden US-Dollar bereitgestellt. Es gibt allerdings keinen rechtlichen Zwang, sich einer solchen Sammelklage anzuschließen. Einzelne VW-Kunden können auch allein versuchen, ihre Ansprüche vor einem US-Gericht durchzusetzen. Nach VW-Angaben ist die Zahl dieser Einzelklagen allerdings extrem niedrig. Angeblich sollen es nur einige Hundert sein.

Der wichtigste Dieselmarkt für Volkswagen ist Europa. Nach dem Bekanntwerden des Abgasskandals hatte der Wolfsburger Konzern den Verkauf von Fahrzeugen mit Selbstzünder-Aggregat in Nordamerika eingestellt. In anderen Regionen der Welt spielt der Diesel bei Pkw so gut wie keine Rolle. Deshalb ist VW keinen weiteren größeren rechtlichen Risiken ausgesetzt.

Wegen der Dieselaffäre hat der VW-Konzern bislang Rückstellungen von mehr als 25 Milliarden Euro gebildet. Rechtsrisiken aus Europa sind darin kaum enthalten. Weil Volkswagen keine neuen rechtlichen Belastungen erwartet, soll es auch keine weiteren Rückstellungen geben.

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