Sensorenhersteller Sick Gisela Sick und die Kunst des Loslassens

Sick ist eine Perle der deutschen Industrie. Der Sensorenhersteller floriert, ohne dass Eigentümer an entscheidenden Hebeln der Macht sitzen. Wie das funktioniert, zeigen die 94-jährige Gründergattin und ihre Töchter.

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Mit Haltung: Gisela Sick führt seit mehr als zwei Jahrzehnten das ihr anvertraute Unternehmen – durch konsequentes Heraushalten. Quelle: Angelika Zinzow für WirtschaftsWoche

Gisela Sick erlebt in ihrem Unternehmen in aller Regel nur die besten Seiten ihrer Mitarbeiter. Wenn sie in ihrer Firma erscheint etwa, säuseln Bürodamen und -herren in einem Ton, der einen Knicks oder Diener erwarten ließe, Freundlichkeiten entgegen. Hat die 94-Jährige bei einer Aufsichtsratssitzung wie üblich ihren Ehrenplatz eingenommen und spricht sich etwa dagegen aus, dass das Unternehmen seine Sensoren für die Rüstungsindustrie produziere, nicken die Vorstände und Aufsichtsräte brav. Das, da sind sie sich im Management des gleichnamigen Herstellers intelligenter Sensoren einig, gebührt eben der Respekt vor der Lebensleistung der Dame.

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Formell müssen sich die Chefs im Tagesgeschäft dagegen nicht zwingend nach den Vorstellungen der Seniorin richten. Denn Gisela Sick ging, als sie vor 27 Jahren die Sick AG im badischen Waldkirch von ihrem verstorbenen Gatten erbte, einen seltenen Schritt in der deutschen Familienunternehmer-Landschaft: Sie verzichtete auf jede aktive operative Rolle für sich und ihre Familie. Stattdessen übt sich die zierliche Greisin, die noch immer bis zu zweimal die Woche am Steuer ihres BMW in die Firma fährt, in Zurückhaltung. Ihr reicht es, den Aufsichtratssitzungen beizuwohnen und als Ehrenvorsitzende das Wort ergreifen zu können. „Ich will keine Übermutter sein“, sagt sie.

Mit ihrer Selbstbeschränkung repräsentiert die Mittneunzigerin eine Sorte Familienunternehmer, die die Lenkung ihres Unternehmens konsequent und mit großem Erfolg auf Stammesfremde übertragen. Von Ehemann Erwin vor 70 Jahren in einer Nachkriegsbaracke bei München gegründet, ist Sick unter externer Leitung und Aufsicht aufgeblüht; eine verborgene Perle der deutschen Industrie, die es mit ihrem Namen bis auf den Prototyp des selbstfahrenden Autos von Google schaffte. Mit seiner Sensortechnik für Lichtsignale jeder Art gilt das Unternehmen heute weltweit als einer der führenden Produzenten in der Automatisierungstechnik und als Wegbereiter der Digitalisierung der Fertigung.

Die zehn größten Familienunternehmen Deutschlands
Bertelsmann-Logo Quelle: dpa
Logo von Phoenix Pharmahandel Quelle: dpa
Logo von Fresenius Quelle: dpa
Ein Reifen von Continental Quelle: dpa
Dunkle Wolken über Bosch Quelle: dpa
Ein Mann mit Aldi-Tüten in der Hand Quelle: dpa
Kunden vor einer Metro-Filiale Quelle: dapd

Der Umsatz der 7400-Mitarbeiter-Firma mit Dependancen etwa in Japan, den USA und Singapur hat sich seit dem Tod des Gründers 1988 auf fast 1,3 Milliarden Euro etwas mehr als verzehnfacht. Das entspricht einem jährlichen Wachstum von durchschnittlich neun Prozent. Auf Messen sollen Chinesen schon angeboten haben, das Unternehmen „für jeden Preis“ zu übernehmen. Doch einen Verkauf, das steht für die Erbin unerschütterlich fest, den will und wollte nie jemand bei Sick – weder sie noch sonst einer ihrer Angehörigen, die inzwischen Miteigentümer des Unternehmens sind.

Hausfrau, Mutter - Unternehmerin

Gisela Sick verließ einst die Rolle der Hausfrau und Mutter nur zögerlich. Erst als ihr Gatte sich zunehmend in seinen Tüfteleien verkroch, löste sie sich langsam von Haus und Herd. Nicht ihr Mann, sondern sie war es, die in die USA und nach Japan reiste, um die Gründung von Tochterunternehmen vorzubereiten. Deswegen wäre die Gründergattin aber nie auf die Idee gekommen, für sich oder ihre Töchter eine operative Stellung in der Firma anzustreben. „Bei uns hat niemand den Anspruch, dass Familienmitglieder im Unternehmen etwas werden“, sagt sie.

Die Zurückhaltung hat jedoch nichts zu tun mit mangelndem Führungswillen: Um Kampfabstimmungen unter den Aktionären zu verhindern, hat die ursprüngliche Alleinerbin durchgesetzt, dass die 95 Prozent der Aktien am Unternehmen, die insgesamt einer Handvoll Familienmitgliedern gehört, gepoolt sind. Die Familie kann also in der Hauptversammlung nur mit einer Stimme reden. Zudem sind wechselnde Mehrheiten unter den Anteilseignern ausgeschlossen, weil die meisten Aktien, 52,6 Prozent, in einer Dachgesellschaft liegen, der Sick Holding GmbH in Freiburg. Das sorgt für Stabilität.

Gesellschafter dieser Holding sind Renate Sick-Glaser, mit 68 Jahren die älteste Tochter der Gründergattin, und deren Sohn Sebastian Glaser, 38. Aber auch Sick-Glaser, die ursprünglich als Krankengymnastin arbeitete, hatte nie größere Ambitionen im Unternehmen. Seit zehn Jahren sitzt sie als einfaches Mitglied im Aufsichtsrat und empfindet sich vor allem als eine, „die bei Sick die Fäden zusammenhält und dazu beitragen will, dass es der Sick AG gut geht“.

Das eigentliche Sagen bei Sick überlassen die Endsechzigerin und ihre betagte Mutter schon seit Jahren einer Gruppe Hochkaräter. Zum Chefaufseher haben sie Klaus Bukenberger gemacht, einen der wenigen Berufsaufsichtsräte in Deutschland. Der Wirtschaftsingenieur kapriziert sich von Stuttgart aus auf den gehobenen deutschen Mittelstand mit 200 Millionen bis zwei Milliarden Euro Umsatz und technologischer Ausrichtung, darunter der Messtechniker Mahr in Göttingen und der Verpackungsspezialist Tricor im bayrischen Bad Wörishofen.

Die Trennung von Kompetenz und Eigentum bei Sick sei vorbildlich, sagt Bukenberger. Von der Unternehmensverfassung des Familienunternehmens könnten sich „so manche börsennotierten Konzerne eine Scheibe abschneiden“. Ebenfalls zu den Großkalibern im Aufsichtsrat gehört der Stuttgarter Rechtsanwalt Mark Binz. Der gebürtige Hesse gilt als hartgesottener Vertreter all jener Familiengesellschafter in Deutschland, die zum Äußersten bereit sind, um ihre Interessen als Miteigentümer zu wahren. Bei Sick vertritt der 67-Jährige vor allem die Interessen der zweiten Tochter des Gründers, Dorothea Sick-Thies, von Beruf ebenfalls Krankengymnastin und nebenbei Umweltaktivistin.

Sich auf andere zu verlassen mussten die Gründergattin und ihre Töchter schon in den letzten Lebensjahren des Gründers lernen. Weil ihn alles Kaufmännische anwiderte, wie er einmal bemerkte, hatte er sich zwei Geschäftsführer zur Seite gestellt. Die kümmerten sich um die Betriebswirtschaft. Er selbst vergrub sich in seinen Erfindungen oder verrannte sich in aussichtslose Projekte, zuletzt in eine Solaranlage zur Entsalzung von Meerwasser auf Fuerteventura. Als er 1988 im Alter von 79 Jahren auf der Kanareninsel wegen Überarbeitung an einem Herzinfarkt starb, eröffneten die beiden Geschäftsführer den Erbinnen: Sick war ein Sanierungsfall.

Ganz ohne Gründer geht es nicht

Die Erfolge der Familienfremden seitdem gaben der alten Dame und ihren Töchtern recht, sich auf den Sachverstand erlesener Externer zu verlassen. Mit Robert Bauer etwa hievten die Experten im Aufsichtsrat 2000 einen promovierten Elektrotechnik-Ingenieur und Fachmann auf dem Gebiet der Halbleiter-Optoelektronik in den Vorstand und 2006 an die Unternehmensspitze.

Der heute 56-Jährige erwies sich als Glücksgriff. Er steigerte die Einnahmen in den vergangenen neun Jahren um fast 80 Prozent. Allein in den zurückliegenden fünf Jahren erhöhte er das Jahresergebnis um rund 75 Prozent auf knapp 91 Millionen Euro 2015. Davon schütteten sich die Eigentümer zum 70-jährigen Firmenjubiläum 1,40 Euro pro Aktie aus, rund 35 Millionen Euro, doppelt so viel wie in gewöhnlichen Jahren.

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Platz 10: Familie RöchlingEs ist Georg Duffner zu verdanken, dass die Röchling SE & Co. KG heute so sicher und breit im globalen Markt etabliert ist. Der bis zum Mai amtierende Geschäftsführer sorgte maßgeblich für den Umbau vom Mischkonzern zum Kunststoffverarbeiter. Das Unternehmen meldete zuletzt einen Umsatz von 1,6 Milliarden Euro. Der Gewinn des Betriebs, der rund 8.400 Mitarbeiter beschäftigt, beläuft sich auf 136 Millionen Euro. Das Vermögen der Familie Röchling wird auf 3,4 Milliarden Euro geschätzt – 100 Millionen mehr als im vergangenen Jahr.Quellen: Bilanz, Unternehmen Quelle: obs
Platz 9: Familie WerhahnVom „Bilanz“-Magazin als „rheinisches Syndikat“ betitelt, befinden sich rund 200 Unternehmen im Besitz der Wilh. Werhahn KG. Zu den stärksten Mitgliedern der Gruppe zählen der Baustoffkonzern Basalt AG , der Finanzdienstleister Abcfinance und der Messerhersteller Zwilling J. A. Henckels, der auch die Hersteller für Friseurbedarf Jaguar und Tondeo in sich vereint. Mit Anton Werhahn (rechts) steht seit 2005 als Vorstandssprecher wieder ein Repräsentant der drei Werhahn-Stämme an der Spitze des Mischkonzerns. Das Vermögen der 420 Werhahns legte im Vergleich zum vergangenen Jahr (3,1 Mrd.) kräftig zu und steht nun bei circa 4,5 Milliarden Euro. Quelle: dpa - picture-alliance
Platz 8: Familie HanielNicht nur dem Aufsichtsratsvorsitzenden Franz Markus Haniel (rechts), sondern der gesamten Franz Haniel & Cie. GmbH, fehlt seit Jahren die zündende Idee. Die Investmentholding befindet sich auf dem absteigenden Ast, das Vermögen der Großfamilie schmälerte sich seit 2007 um rund 10 Milliarden Euro auf heute 5,0 Milliarden Euro. Das liegt vor allem an der geplanten Ausrichtung zum Handels- und Dienstleistungskonzern, an der bis heute festgehalten wird und durch welche man sich 2007 endgültig aus dem produzierenden Geschäftsbereich zurückzog. Quelle: dpa
Platz 7: Familie SiemensDie Großfamilie Siemens umfasst mittlerweile zwar 300 Mitglieder, sie ist trotz ihres geschätzten Vermögens von rund 6,2 Milliarden Euro (plus 0,2 Mrd. Euro im Vergleich zum Vorjahr) aber eher zurückhaltend und medienscheu. Einzig Nathalie von Siemens scheint den Weg in die Öffentlichkeit für sich entdeckt zu haben. Die Ururenkelin des Begründers der modernen Elektrotechnik und Gründers der heutigen Siemens AG, Werner von Siemens, ist seit 2015 Mitglied des Aufsichtsrates des Technologiekonzerns und wird bereits als Kandidatin für die leitende Position gehandelt. Quelle: dpa
Platz 6: Familie HeraeusDie Reorganisation der Geschäftsbereiche der Heraeus Holding im vergangenen Jahr scheint sich für den Technologiekonzern bereits ausgezahlt zu haben. Das Unternehmen mit Schwerpunkt auf den Edel- und Sondermetallen erwirtschaftete im vergangenen Jahr einen Handelsumsatz von 12,9 Milliarden Euro – ein Plus von 0,7 Milliarden Euro zum Vorjahr. An der Spitze des Konzerns steht Jan Rinnert, der Schwiegersohn vom Aufsichtsratsvorsitzenden und Unicef-Deutschland-Vorsitzenden Jürgen Heraeus (im Bild). Zusammen mit seinen beiden Geschwistern hält der 80-Jährige 25 Prozent der Anteile. Das Vermögen der 200 Köpfe umfassenden Familie beläuft sich wie schon im Vorjahr auf 6,3 Milliarden Euro. Quelle: dpa
Platz 5: Familie FreudenbergDie einstige Handelsgesellschaft und Gerberei ist heute unter dem Namen Freudenberg & Co. KG vor allem für ihre Dichtungs- und Schwingungstechnik sowie für die Produktion von Vliesstoffen und Filtrationen bekannt und beliefert vornehmlich die Automobilindustrie. Von den 8,4 Milliarden Euro Umsatz bleiben nach allen Abzügen immer noch vortreffliche 521 Millionen Euro Gewinn. Ein gutes Fünftel davon beansprucht die 320-köpfige Gesellschafterfamilie für sich, dessen Vermögen bei 7,15 Milliarden Euro steht. Quelle: picture alliance
Platz 4: Familie MerckAuch das älteste Pharmaunternehmen der Welt befindet sich im überwiegenden Familienbesitz. Die Merck KGaA konnte in ihrer 348-jährigen Geschichte noch nie einen so hohen Umsatz wie im vergangenen Jahr erwirtschaften. 12,8 Milliarden Euro bedeuten ein Plus von satten 13 Prozent zum Vorjahr. Die rund 200 Mercks sehen dem vorliegenden Wachstum mit Wohlwollen zu. Sie halten über die E. Merck KG circa 70 Prozent der Anteile am Unternehmen. Im „Bilanz“-Magazin wird das Vermögen der Familie nun erstmals auf 8,5 Milliarden Euro geschätzt. Quelle: Reuters

Ein vollständiges Eigenleben ohne die Eigentümer führen Vorstand und Aufsichtsrat bei Sick dennoch nicht. „Die Eigentümerrechte sind nicht verdünnt“, sagt Kontrolleur Horst Wildemann, Betriebswirtschaftsprofessor aus München und Spezialist für flexible Fertigung. An der Gründergattin sowie ihren Töchtern im Aufsichtsrat führe praktisch kein Weg vorbei.

Deren Einfluss sei durchaus stark, meint Hermann Spieß, IG Metaller und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Dieser konzentriere sich allerdings nicht auf das Tagesgeschäft, sondern auf die Unternehmenskultur. Die zeichne sich durch ein außergewöhnliches Miteinander aus.

Familienunternehmen sind eine wichtige Säule der deutschen Wirtschaft. Noch. Denn sie leiden häufig unter ihrem eigenen Erfolgsmodell. Warum Familienunternehmen mit Problemen zu kämpfen haben. Das Dilemma der Dynastien.
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Um ins Unternehmen hineinzuwirken, gehen Mutter und Töchter verschiedene Wege. Erbin Sick-Thies etwa studiert gern bis ins Detail die Lebensläufe von Bewerbern. Einmal fiel ihr auf, dass ein Kandidat für einen Topjob unter anderem an der Entwicklung von Streubomben mitgearbeitet hatte. Daraufhin intervenierte sie beim Sick-Vorstand, weil ihr Vater nach dem Krieg jedwede Produktion für die Rüstung für immer ausgeschlossen hatte. Der Bewerber blieb außen vor.

Die Gattin des Gründers hat ihren Einfluss rechtlich abgesichert. Wer im Amtsgericht Freiburg Einblick nimmt in den Gesellschaftervertrag der Sick Holding, stößt auf einen interessanten Passus. Danach hat die Gründergattin 2009 für 25 Euro einen Sonderrechtsanteil an der Holding gezeichnet. Der erlaubt ihr, alles, was ihre ältere Tochter und deren Sohn als Mehrheitsaktionäre bei Sick durchdrücken könnten, mit einem Veto zu stoppen und das, bis dass der Tod sie scheidet.

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