Siemens blickt nach unerwartet starkem Wachstum im abgelaufenen Quartal ein wenig optimistischer auf das Gesamtjahr, das bis zum 30. September läuft. Trotz Belastungen durch die jüngst abgeschlossenen Übernahmen im Windkraft- und Softwaregeschäft bestätigte der Technologiekonzern am Donnerstag seine Wachstumsprognose für das Gesamtjahr.
Das Ergebnis je Aktie werde sich zwischen 7,20 und 7,70 Euro bewegen, bekräftigte Siemens. In diesen Zahlen sei jetzt aber auch berücksichtigt, dass die beiden Transaktionen das Ergebnis je Aktie mit 40 bis 60 Cent belasten dürften. Das Industriegeschäft solle eine Umsatzrendite von elf bis zwölf Prozent abwerfen – obwohl die beiden Transaktionen hier mit einer Belastung von 0,3 bis 0,5 Prozentpunkten zu Buche schlagen dürften.
Im nun abgeschlossenen zweiten Geschäftsquartal legte der Umsatz um sechs Prozent auf 20,22 Milliarden Euro zu, der Überschuss nach Anteilen Dritter stagnierte bei 1,45 Milliarden Euro. Von Reuters befragte Analysten hatten einen Umsatz von 19,89 Milliarden Euro und einen Überschuss von 1,41 Milliarden Euro erwartet. Der Auftragseingang kletterte um zwei Prozent auf 22,63 Milliarden Euro. Branchenexperten hatten lediglich mit 21,06 Milliarden Euro gerechnet.
Chinesische Zug-Fusion erhöht den Druck
Wie sich die Zahlen künftig entwickeln, hängt auch von der Zukunft einzelner Sparten ab. So werden etwa Siemens und dem kanadischen Bombardier-Konzern weit gediehene Gespräche über die Zusammenlegung ihrer Zugsparten nachgesagt – als Reaktion auf den Zusammenschluss der beiden größten chinesischen Zughersteller zum neuen Giganten CRRC.
Siemens-Finanzchef Ralf Thomas wollte Berichte dazu nicht kommentieren, warb aber für eine weniger straffe Aufsicht von Wettbewerbswächtern – in Europa wird der Markt bisher schon von nur drei Anbietern bestimmt, eine weitere Fusion dürfte bei den Behörden auf wenig Gegenliebe stoßen. „Ich glaube, dass die Kartellbehörden sich den weltweiten Wettbewerb in der Branche ansehen sollten“, sagte Thomas am Donnerstag in einem Fernsehinterview mit dem Finanzsender „Bloomberg TV“. Nach der Fusion der Nummer eins und zwei in China sei offensichtlich ein Konsolidierungsprozess in der Branche in Gang.
Seit Monaten wird spekuliert, dass sich Siemens-Chef Joe Kaeser nach Umstrukturierung und Verschlankung nun weitere Sparten vorknöpfen, abspalten und zumindest teilweise an die Börse bringen könnte – so wie es für die Medizintechnik bereits in der Mache ist. Wird aus dem integrierten Industriekonzern bald ein Verbund von weitgehend eigenständigen Einzelunternehmen unter dem Dach einer Holding?
Ist die Marke Siemens in Gefahr?
Kaeser selbst hatte die Spekulationen rund um einen losen Holdingverbund in einem Interview der Wirtschaftszeitung „Euro am Sonntag“ im Februar angeheizt. Investoren würden es sehr schätzen, nicht nur in einen breit aufgestellten Mischkonzern zu investieren, sondern auch gezielter in einzelne Siemens-Geschäfte, sagte der Siemens-Lenker damals. Vor allem mit Blick auf die Zeit nach 2025 müsse man sich Gedanken machen, wie groß und wie breit aufgestellt ein Unternehmen künftig noch sein müsse, um erfolgreich zu sein. „Heute sind wir ein einzelner Tanker, wir müssen zu einem koordinierten und leistungsfähigen Flottenverband werden.“
Wie weit die Gedankenspiele bereits gediehen sind, ist zwar unklar. Schon jetzt aber sorgen sie für reichlich Unruhe in der Belegschaft. Der integrierte Stammhaus-Konzern müsse bleiben, forderten Gesamtbetriebsratschefin Birgit Steinborn und IG-Metall-Vorstand Jürgen Kerner damals in einer Betriebsräte-Info. „Den Konzern weiter zu zergliedern, würde die Marke Siemens und das Unternehmen gefährden“, hieß es darin.
Die wichtigsten Antworten zur möglichen Zug-Fusion
Nach Problemen in den vergangenen Jahren, etwa durch die verspätete Auslieferung von ICE-Zügen an die Deutsche Bahn, ist das Zuggeschäft von Siemens inzwischen wieder in der Spur. Heute kommt die Sparte mit Standorten unter anderem in Krefeld, Erlangen, Berlin, München und Wien auf einen Jahresumsatz von fast acht Milliarden Euro und eine Rendite von knapp 9 Prozent.
Die Bahnsparte des kanadischen Anbieters, der auch Flugzeuge baut, ist zwar ähnlich groß. Aber der Konzern steckt in den roten Zahlen und hatte im Bahngeschäft den Abbau von weltweit rund 5000 Jobs angekündigt. Unklar ist, wie stark dies die deutschen Standorte mit 8500 Beschäftigten treffen wird, darunter Hennigsdorf, Görlitz, Bautzen, Kassel, Mannheim, Braunschweig und Siegen. Das Management will seine Pläne im Juli vorstellen. Bombardier hatte erst vergangenes Jahr 1430 Arbeitsplätze in Deutschland gestrichen, um die Standorte profitabel zu machen.
Angeblich soll ein Gemeinschaftsunternehmen im Gespräch sein, das den Bau von Zügen und die Signaltechnik umfassen würde. Analysten sehen größere Synergie- und Einsparpotenziale etwa durch gemeinsame Forschung und Entwicklung sowie Lieferketten und die Zusammenführung der Produkte. Schon jetzt arbeiten die Zughersteller bei verschiedenen Projekten zusammen, so beim ICE 4, der neuesten Generation des Hochgeschwindigkeitszuges.
Ja. Schon beim Übernahmepoker um Alstom hatte Siemens versucht, seine Zugsparte mit der des französischen Konkurrenten zusammenzubringen. Und Mitte 2015 wurde auch schon einmal über eine Fusion der Zugsparten von Siemens und Bombardier spekuliert, doch die Kanadier hatten damals Verhandlungen dementiert.
Die europäischen Hersteller zittern vor allem vor der Konkurrenz aus China. Dort haben sich die beiden größten Zughersteller zum neuen Giganten CRRC zusammengetan, der alleine größer ist als die Sparten von Siemens, Bombardier und Alstom zusammen. Das sieht auch die Deutsche Bahn mit Interesse, die vor etwa eineinhalb Jahren demonstrativ ein Einkaufsbüro in China eröffnete, darüber Produkte der Bahntechnikhersteller aus der Volksrepublik sondiert und so den Druck auf die europäischen Hersteller erhöhte. „Wir suchen weltweit nach Lieferanten mit innovativen und qualitativ hochwertigen Produkten“, ließ Bahn-Chef-Einkäufer Uwe Günther damals wissen.
Vor allem das Kartellrecht gilt als Hindernis für eine Zug-Allianz in Europa. Denn mit Siemens, Bombardier und Alstom beherrschen nur drei Anbieter den Markt. Schlössen sich zwei von ihnen zusammen, könnte das gravierende Folgen für Kunden wie die Deutsche Bahn haben, sodass hohe Auflagen zu erwarten wären. Siemens macht keinen Hehl daraus, dass man diese Spielregeln für nicht mehr zeitgemäß hält. „Eine weitere Konsolidierung des Marktes wird seit langem erwartet und sollte auch kartellrechtlich mit einer globalen Sicht auf die Veränderungen betrachtet werden“, sagte Siemens-Finanzchef Ralf Thomas.
Bei Arbeitnehmervertretern in Deutschland dürfte eine Allianz wohl nur auf Zustimmung stoßen, wenn Siemens die Oberhand im zusammengeschlossenen Unternehmen behielte. Wie sich eine Fusion auf die Jobs auswirken würde, bliebe abzuwarten. Von offenem Widerstand der Arbeitnehmervertreter jedenfalls war in den vergangenen Wochen nichts zu spüren - was auch daran liegen dürfte, dass ein weiteres Erstarken der Chinesen deutlich schlimmere Folgen für die Belegschaft haben könnte als eine mögliche Allianz von Siemens und Bombardier.
Dahinter stehen auch Sorgen um die Mitbestimmung bei Siemens. Beunruhigt waren die Arbeitnehmervertreter unter anderem von Kaesers Überlegungen, die ertragreiche Medizintechnik mit Namen „Healthineers“ in den USA an die Börse zu bringen. Ihre Befürchtung: Das Unternehmen würde künftig aus den USA heraus gesteuert, am bisherigen Sitz der Medizintechnik in Erlangen verbliebe nur eine GmbH – und die Mitbestimmung wäre ausgehöhlt. Aus ähnlichen Gründen machen Beschäftigte und IG Metall auch Front gegen eine Fusion des Industriegase-Anbieters Linde mit dem US-Konzern Praxair.
Ein Beispiel: Das Geschäft mit mechanischen Antrieben – eine der Baustellen des Konzerns – wird eigenständig, um schneller auf den harten Preisdruck und aufkommende Konkurrenz aus Asien reagieren zu können. Wer nicht vor jeder Entscheidung in München anrufen muss, kann agiler am Markt auftreten, so Kaesers Kalkül.
Von wichtigen Investoren bekommt er Lob für seine Strategie. „Die Börse liebt keine Konglomerate, wir Investoren lieben klare Geschäftsmodelle“, sagt Fondsmanager Christoph Niesel von Union Investment. Er kann sich deshalb gut vorstellen, dass die Zugsparte, ähnlich wie zuvor auch schon das Windkraftgeschäft von Siemens, in ein Joint Venture eingebracht wird und Siemens damit wieder ein Stück flexibler wird.
Über kurz oder lang, so ist Niesel überzeugt, wird aus dem noch immer breit aufgestellten Dax-Konzern – von Gasturbinen und fossilen Kraftwerken über die Antriebstechnik bis hin zu Bahn- und Gebäudetechnik – ein auf Technologie, Digitalisierung und Software fokussiertes Unternehmen. Deshalb glaubt Niesel auch nicht, dass an Mutmaßungen um eine Abspaltung der digitalen Fabrik etwas dran ist. Gerade dieses zukunftsträchtige Geschäft dürfte der Kern des neuen Siemens sein, ist der Fondsmanager überzeugt.