
Es gibt eine Zahl aus der jüngsten Mitarbeiterumfrage, die hütet Siemens-Chef Joe Kaeser als ganz großes Geheimnis. Ob sie sich mit dem Gedanken tragen, für ein anderes Unternehmen zu arbeiten, wurden die Siemensianer unter anderem gefragt. Ein großer Teil der Befragten, heißt es in gut informierten Kreisen, hätten die Frage mit „Ja“ beantwortet.
Auf der Bilanzpressekonferenz vergangenen Monat versuchte Kaeser die Umfrageresultate herunterzuspielen. Tatsächlich sind solche Ergebnisse für Europas größten Technologiekonzern ein Desaster: Kluge oft, sehr gut ausgebildete Leute, fühlen sich bei Siemens nicht mehr richtig wohl.
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Siemens will sich entlang der Wertschöpfungsketten von Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung aufstellen. Chef Kaeser hat hierfür mehrere Wachstumsfelder mit Potenzial definiert, so etwa die Märkte für kleine Gasturbinen sowie Offshore-Windanlagen, intelligente Stromnetze, Produkte und Dienste rund um das Thema Industrie 4.0 aber auch der Markt für die Förderung von unkonventionellem Öl und Gas.
Das Sektorenkonzept wird zum Oktober komplett abgeschafft. Bisher hatten die Münchner ihr Geschäft in die Sektoren Healthcare, Energy, Industry und Infrastructure & Cities gegliedert. Künftig soll es, wie schon unter dem früheren CEO Heinrich v. Pierer, nur noch Geschäftseinheiten geben. Statt den bisher 16 Divisionen soll es nur noch 9 geben.
Das Healthcare-Geschäft wird in Zukunft eigenständig, also außerhalb der neun Divisionen geführt. Dies bedeutet, dass regionale Organisationsstrukturen
den Anforderungen des Gesundheitsmarktes angepasst werden können und nicht der Matrix der Konzernorganisation entsprechen müssen.
Das Unternehmen will seine Aktienprogramme für Mitarbeiter unterhalb der Senior-Managementebene erweitern und die Anzahl der Mitarbeiter-Aktionäre um mindestens 50 Prozent auf deutlich über 200.000 steigern. Hierzu stellt Siemens jährlich erfolgsabhängig bis zu 400 Millionen Euro zur Verfügung.
Mit der Bündelung der Divisionen und der Auflösung der Sektoren sollen Bürokratie abgebaut, Kosten gesenkt und Entscheidungen innerhalb des Unternehmens beschleunigt werden. Zudem sollen Querschnittsfunktionen wie das Personalwesen und die Kommunikation gestrafft und zentral geführt werden. Insgesamt will Kaeser so bis 2016 eine Milliarde Euro einsparen.
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Der gefährliche Trend ist in München bereits seit Jahren zu beobachten. Finanzer, kühle Rechner und Betriebswirte können bei Siemens immer noch schnell Karriere machen. Tüftler, Ingenieure oder Naturwissenschaftler dagegen kommen in München oft nicht richtig voran – und arbeiten lieber bei der Konkurrenz.
Die bei Siemens allgegenwärtige Bürokratie, nochmals ausgebaut nach dem Korruptionsskandal 2007, misst jede neue Idee anhand betriebswirtschaftlicher Kennzahlen. Vieles Gute bleibt so im Verwaltungswust stecken; ein Klima, in dem aus unkonventionellen Ideen auch mal die ganz große Erfindung entsteht, lässt sich so nicht schaffen.
Im Kampf gegen Bürokratie und Trägheit
Auch deshalb werden Joe Kaeser und sein Forschungschef Siegfried Russwurm, wenn sie am Dienstag dieser Woche im Deutschen Museum in München ihre neue Innovationsstrategie vorstellen, viel über Kooperationen mit Start-ups sprechen. Es geht den beiden Managern darum, die Kultur im Konzern zu ändern.
Genau hier muss Kaeser ansetzen, und zwar schnell, denn bis solche Maßnahmen, die Bürokratie und Trägheit beseitigen sollen, wirklich greifen, vergehen oft eher Jahre als Monate. Darüber hinaus aber wird Siemens in Zukunft deutlich mehr Geld für die Forschung aufwenden müssen. Zuletzt lagen die F+E-Ausgaben des Konzerns bei rund sechs Prozent des Umsatzes, im internationalen Vergleich eher Mittelmaß.
Noch besorgniserregender als die nackte Zahl ist aber das Ungleichgewicht. Bei der Medizintechnik etwa gibt Siemens deutlich mehr für die Forschung aus als beim Geschäft mit Anlagen und Ausrüstung zur Energieerzeugung.