Stahlbranche "Kein Anlass zur Entwarnung"

Die Stahlbranche malt das Menetekel vom Ende der Stahlproduktion in Europa an die Wand. Frank Schulz, Deutschland-Chef des Weltmarktführers ArcelorMittal, erklärt, warum die Politik den Stahlkochern ständig Erleichterungen machen soll und warum Stahlmanager zu Lobbyisten werden.

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Frank Schulz, Deutschland-Chef des Weltmarktführers ArcelorMittal. Quelle: Presse

WirtschaftsWoche: Anfang November sind in Brüssel wieder einmal die Stahlkocher auf die Straße gegangen und haben gegen den Emissionshandel protestiert. Haben Sie auch an der Demonstration teilgenommen?
Frank Schulz: Ich war an diesem Tag zwar in Brüssel, aber nicht auf der Demonstration. Ich hatte zu der gleichen Zeit einen anderen Termin zu den gleichen Themen. Das war ein Termin mit dem europäischen Stahlverband Eurofer bei der EU-Kommission. Wir sprachen mit der Kommission über den Emissionsrechtehandel. Wir mussten abwiegen, wo man die Botschaft zum jeweiligen Zeitpunkt am besten rüberbringt, und wo man mehr erreichen kann.

Viele Stahlunternehmen profilieren sich derzeit als Lobbyisten. Sind Sie eigentlich mehr Manager oder Lobbyist?
Ich war fast drei Jahrzehnte im operativen Bereich tätig. Ich bin jetzt im Management, aber der Einfluss der externen Faktoren auf unsere Branche ist immens. Ich habe von der Pike auf gelernt, wie schwer es ist, einen Euro an Kosten durch Optimierung im Werk einzusparen. Der Einfluss der externen Faktoren hat derart zugenommen, dass wir gezwungen sind, uns mit diesen Rahmenbedingungen wesentlich intensiver zu befassen als in der Vergangenheit. Denn die Hebelwirkung von Handelsschutzmaßnahmen und unfairem Wettbewerb, die Auswirkungen auf die Kosten durch EEG-Umlage oder Emissionsrechtehandel ist ein Vielfaches dessen, was sie mit Optimierungsarbeiten im Werk generieren können. Und das ist ein Problem, das alle in der Branche dazu zwingt, sich verstärkt mit den externen Faktoren zu befassen.

Zur Person

Sie haben die EEG-Umlage eben erwähnt, bei der die Stahlunternehmen Ausnahmen  bekommen haben. Auch bei den Schutzzöllen gegen chinesischen Billigstahl ist Brüssel den Stahlunternehmen entgegengekommen und hat Anti-Dumping-Maßnahmen eingeleitet. Warum bekommt eigentlich immer die Stahlbranche „Extrawürste“ und Erleichterungen?
Es geht hier nicht ums Profitieren, sondern um die Reduzierung von Nachteilen. Nehmen Sie als Beispiel ein Bild von mehreren Hürdenläufern verschiedener Länder. Andere Nationen laufen die Hundertmeter-Strecke ohne Hindernisse, und bei uns werden Hürden aufgestellt, das ist der Punkt. Wir sagen: Bitte nehmt die Hürden weg. Wir wollen genauso schnell laufen wie die anderen, und unseren Beitrag leisten für Beschäftigung, Innovation und Investition. Wir wollen uns weiterentwickeln, nehmt die Hürden weg!

Derzeit macht die Stahlbranche gegen den Emissionshandel mobil.  Was bedeutet der Handel mit Emissionszertifikaten in seiner aktuellen Form für ArcelorMittal?
Wir haben hier keine Sondersituation für ArcelorMittal. Denn alle Stahlhersteller sind gleichermaßen von den Kommissionsvorschlägen betroffen, wie sie im Juli vergangenen Jahres gemacht wurden. Die Benchmarks sind zu niedrig angesetzt, keiner kann sie erreichen. Zusammen mit dem zu niedrigen Industriecap und dem Korrekturfaktor würde es eine extrem starke Unterdeckung an Zertifikaten geben. Im Durchschnitt der Branche in Europa und Deutschland rechnen wir damit, dass am Anfang der Periode, also 2021,  in etwa 20 Prozent zu wenig Zertifikate vorhanden sein werden. Das würde dann auf 40 bis 45 Prozent zum Ende der Periode im Jahr 2030 steigen. Das heißt, im Mittel fehlen 35 Prozent an Zertifikaten. Man rechnet damit, dass die Zertifikatspreise ansteigen. Da sind sich die Analysten einig. Und selbst wenn wir nur eine moderate Preisannahme treffen, werden zu Anfang der Periode pro Tonne Stahl ca. 10 Euro an CO2-Kosten entstehen und zum Ende der Periode ca. 30 Euro pro Tonne. Diese Zusatzkosten sind in der Größenordnung der jährlichen Anlageninvestitionen.

Aber die Bundesregierung spricht sich im Klimaschutzplan 2050, den Bundesumweltministerin Barbara Hendricks nach Marrakesch mitgebracht hat, für eine Anhebung des Industriecaps aus. Ist Ihnen die Politik da nicht schon sehr entgegen gekommen?
Wenn der Anteil der freien Zertifikate höher angesetzt wird und dieser Spielraum auch dazu genutzt wird, eine wirtschaftlich und technisch erreichbare Zuteilung zu gewährleisten, wären wichtige Voraussetzungen geschaffen, Stahl auch künftig wettbewerbsfähig in Deutschland und Europa produzieren zu können. Die Bundesregierung entscheidet aber leider nicht allein über die Reform des Emissionshandels; ihre Positionen müssen sich auch bei der EU-Kommission, im Rat und im Europaparlament durchsetzen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und es gibt für uns keinen Anlass zur Entwarnung.

"Für unsere Branche ist der Klimaschutzplan nicht realistisch"

Umweltschützer sagen, dass der Emissionshandel für Stahlunternehmen mehr Goldesel als Belastung sei. Der BUND wirft Ihnen etwa vor, durch den Zertifikatshandel zusätzliche Profite in Milliardenhöhe zu erwirtschaften.
Die Aussage, dass die Stahlindustrie vom Zertifikatshandel profitiert, ist grundlegend falsch. In der Analyse sind die Zertifikate, die über die Verstromung der Prozessgase an die Energieerzeuger weitergegeben werden, der Stahlindustrie zugeordnet worden. Das führt zu einer Fehleinschätzung der verfügbaren Zertifikate. Fakt ist, dass trotz der krisenbedingten Produktionskürzungen von zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent und einer dadurch bedingten zwischenzeitlichen Überallokation, die Gesamtbilanz der Zertifikatszuteilung in der laufenden Handelsperiode negativ ist. Die Stahlerzeuger müssen heute nicht nur die zur Überbrückung der Krise zwischenzeitlich verkauften Zertifikate zurückkaufen, sondern zusätzlich in großem Umfang bis zum Ende der Handelsperiode Zertifikate kaufen. Es entstehen enorme Zusatzkosten bereits in dieser Handelsperiode, die zu Wettbewerbsnachteilen führen. Die Stahlindustrie steht im internationalen Wettbewerb und kann die Zusatzkosten nicht an die Kunden weitergeben.

Ist denn das von der EU-Kommission ausgegebene Ziel, bis 2030 40 Prozent der CO2-Emissionen senken zu können, realistisch?

Das ist absolut unrealistisch. Wir haben bereits 20 Prozent an Einsparungen realisiert. Aber für die Stahlbranche ist CO2 ein Prozessgas. Und die CO2-Emissionen können mit den derzeit vorhandenen Technologien nicht vermieden werden. Sie können nur optimiert werden. Wir nähern uns jetzt immer mehr dem technisch machbaren Optimum. Man kann nur noch wenige Prozente einsparen. Aber die Frage bleibt: gibt es Alternativen? Daran arbeiten wir.

Durch Gas und Wasserstoff kann man die CO2-Emissionen allerdings schon vermeiden.
Wasserstoff wäre ein Ansatz, die Stahlherstellung damit theoretisch auch technisch machbar. Aber von der Energiebilanz her gesehen ist Wasserstoff eine Katastrophe. Denn Sie müssen auch beachten, mit welch hohem CO2- und  Energieaufwand Wasserstoff hergestellt wird. Wir versuchen, Möglichkeiten im Innovationsverbund zu finden, um CO2 einzusparen. Wir forschen, ob es wirtschaftlich machbare Lösungen in diesem Bereich gibt. Als eine andere
Alternativ arbeiten wir weiter an einer Technologie, um Bioethanol aus Restgasen herzustellen. Ein Pilotprojekt dazu läuft derzeit in unserem Werk in Gent in Belgien. Trotz aller Bemühungen gibt es bisher keine Technologien, die wirtschaftlich und technisch einen Lösungsansatz bieten würden, um signifikant CO2-Emissionen bis 2030 einzusparen.

Stahl in der Krise: Kommt die große Fusion?

Ist die Reduzierung der Erderwärmung auf 2 Grad zu schaffen?
Ich bin kein Spezialist für die Erreichbarkeit der globalen Klimaziele. Ich kann nur für unsere Branche sprechen und für unser Unternehmen. Für unsere Branche ist eine Zielerreichung wie sie jetzt im Klimaschutzplan steht, bis 2030 nicht realistisch.

Wie viel CO2-Einsparung bis 2030 ist denn realistisch?
10 bis 15 Prozent an Einsparungen sind bis 2040 mit den derzeit verfügbaren Technologien erreichbar. Das haben verschiedene Forschungsinstitute für die Wirtschaftsvereinigung Stahl ermittelt. Das aktuelle, unfaire Emissionshandelssystem entzieht uns leider die Mittel für Forschung, die für weitere Verbesserungen notwendig sind.

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