Streik im Güterverkehr "Was bei der Bahn passiert, ist Gift für Deutschland"

Für Pendler und Reisende ist der GDL-Streik ärgerlich, doch die Wirtschaft trifft es besonders hart. Fachleute rechnen mit einem Schaden von bis zu 50 Millionen Euro – pro Tag.

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"Ein ganzes Land in Geiselhaft"
Bundeskanzlerin Angela Merkel empfiehlt ein Schlichtungsverfahren zur Beendigung des Tarifkonflikts. "Es gibt auch die Möglichkeit der Schlichtung, wenn beide Partner zustimmen", sagte die Kanzlerin am Mittwoch in Berlin. Dies hatte die Deutsche Bahn zuvor angeboten. "Ich kann nur an das Verantwortungsbewusstsein appellieren, hier Lösungen zu finden, die für uns als Land einen möglichst geringen Schaden haben - bei aller Wahrung des Rechts auf Streik." Streiks seien eine Möglichkeit der tariflichen Auseinandersetzung, sie müssten aber verhältnismäßig sein, sagte Merkel weiter. Ob dies der Fall sei, darüber könne letztlich nur ein Gericht entscheiden. "Aber es gibt eine Gesamtverantwortung", mahnte Merkel. Gerade im Bereich der Daseinsvorsorge wie dem Verkehr, wo Millionen Bürgern betroffen seien und es um die Zukunft der Wirtschaft gehe, sei von allen Beteiligten ein hohes Maß an Verantwortung notwendig. Quelle: REUTERS
Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt hat die Bahn dazu aufgerufen, notfalls vor Gericht zu ziehen. Der Streik sei unverhältnismäßig und überstrapaziere die Akzeptanz der Bevölkerung in Tarifauseinandersetzungen, sagte Dobrindt am Mittwoch. "Und deswegen muss man, wenn es jetzt nicht zu einer Schlichtung kommt, die Rechtsposition der Bahn wahrnehmen und muss alle Rechtsmittel nutzen." Wenn die Verhältnismäßigkeit nicht gegeben sei, könne dies auch vor Gericht geklärt werden, fügte der CSU-Politiker hinzu. In einem Tarifkonflikt müsse in besonderer Weise auf die Auswirkungen auf Dritte Rücksicht genommen werden. Dobrindt schloss nicht aus, dass die von der Bahn ins Spiel gebrachte Vermittlung durch zwei unabhängige Schlichter zustande kommen könne. Er halte dies für ein "seriöses Angebot", durch das es möglich sei, zu einem Ergebnis zu kommen. Er stehe in direkten Gesprächen mit dem Staatskonzern, fügte der Minister hinzu. Quelle: REUTERS
SPD-Chef Sigmar Gabriel hat die GDL ungewöhnlich scharf attackiert und einen Schlichter zur Beilegung des Konflikts gefordert. Er warf der GDL Missbrauch des Streikrechts vor. "Das Streikrecht wurde in den letzten 65 Jahren in Deutschland von den DGB-Gewerkschaften immer verantwortungsbewusst genutzt - und nur dann, wenn es um Arbeitnehmerinteressen ging", sagte er der "Bild"-Zeitung. "Die GDL hat sich von diesem Prinzip verabschiedet." Den Funktionären gehe es nicht um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen, sondern um Eigeninteressen. "Ich appelliere an die Funktionäre der GDL, an den Verhandlungstisch zurückzukommen", sagte Gabriel. Nötig sei jetzt Verantwortungsbewusstsein auf allen Seiten und ein Schlichter oder Vermittler, um den drohenden volkswirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Die SPD steht dem Gewerkschaftslager und vor allem dem DGB gewöhnlich sehr nahe. Quelle: dpa
"visitBerlin"-Geschäftsführer Burkhard Kieker sagte, er könne die Politik des GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky nicht nachvollziehen. "Das scheint ein Profilneurotiker zu sein, der ein ganzes Land in Geiselhaft nimmt." Quelle: REUTERS
Die Deutsche Bahn hält den angekündigten erneuten Lokführerstreik für „reine Schikane“. „Dieser Streikaufruf macht nur noch sprachlos“, sagte Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber. Das Unternehmen plant wie bei den vorherigen Streiks einen Ersatzfahrplan. So soll etwa ein Drittel des sonst üblichen Zugverkehrs angeboten werden können. Quelle: dpa
"Was derzeit bei der Bahn passiert, ist Gift für den Standort Deutschland", sagte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Deutsche Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Achim Dercks. "Neben dem Ärgernis für Urlauber führen Streiks im Güterverkehr bereits nach wenigen Tagen zu Produktionsstörungen, weil Bahntransporte oft nicht kurzfristig auf Straßen oder Schiffe verlagert werden können." In Schlüsselbranchen wie der Automobilindustrie sei die Produktionskette komplett auf Just-in-time-Produktion ausgerichtet, bei der Zuliefer- und Produktionstermine genau aufeinander abgestimmt seien. "Warenlager helfen nur die ersten Tage, dann stockt die Fertigung", sagte Dercks. Quelle: dpa
Das Verständnis der Pendler hält sich in Grenzen. Quelle: Screenshot

Deutschland im Ausnahmezustand - sechs Tage lang. Der Rekordstreik der Lokführergewerkschaft GDL legt den Schienenverkehr zum Großteil lahm. Mit Notfahrplänen versucht die Deutsche Bahn, wenigstens ein Drittel der Züge im Personenverkehr fahren zu lassen. Zu den Problemen im Güterverkehr wagt Bahn-Tochter DB Schenker nicht einmal eine Prognose.

Berufspendler kommen zu spät zur Arbeit oder zu Terminen, manche Reisende vermutlich gar nicht an ihr Ziel. Während der Arbeitsausstand im Personenverkehr ab Donnerstag vor allem sehr ärgerlich ist, kommt der Streik im Güterverkehr nicht nur die Bahn teuer zu stehen. Dass die Güterzüge ab 15 Uhr am Mittwoch 109 Stunden stillstehen, trifft die Wirtschaft massiv.

Schienengüterverkehr - Planzahlen und Kennziffern

Der Bundesverband für Groß-, Außenhandel und Dienstleistungen (BGA) kritisierte den angekündigten Streik als vollkommen unverhältnismäßig. „Auf dem Rücken unbeteiligter Kunden und Unternehmen einen gewerkschaftlichen Konkurrenzkampf auszutragen, wird sich als Bumerang erweisen“, sagt BGA-Präsident Anton Börner. Wegen des Streiks drohten Produktionsausfälle und damit erhebliche Einbußen. Die gesamte Logistikkette könne ins Stocken geraten.

Besonders betroffen von einem Bahnstreik sei etwa der Chemiehandel, fügte Börner hinzu. Ausweichmöglichkeiten gebe es kaum. Es werde zu starken Verzögerungen in der Lieferkette kommen. Rohstoffe werden zu spät angeliefert, fertige Produkte zu spät abgeholt. Abnehmer werden auf ihre Waren warten müssen.

So bedeutend ist der Güterverkehr in Deutschland

„Die Logistik ist nicht mit dem Personenverkehr vergleichbar. Man kann nicht einfach an einem Streiktag auf das eigene Auto oder den Fernbus umsteigen“, sagt Christian Kille, Professor für Handelslogistik an der Hochschule Würzburg. „Der Schienenverkehr ist für die Logistik eine systemrelevante Infrastruktur, da die Binnenschifffahrt mangels Verkehrswegen viele Regionen gar nicht erreichen und Lkws nicht diese Mengen übernehmen können.“

Weihnachtsgeschäft bindet Kapazitäten

Neben der Chemiebranche gehören die Stahlunternehmen sowie die Autohersteller und -zulieferer zu den größten Kunden der Bahn, für sie sind jeden Tag rund 200 Güterzüge unterwegs. „Nicht nur für die Materialanlieferung spielt die Bahn für die Automobilhersteller eine wichtige Rolle“, sagt Matthias Wissmann, Präsident des Automobilverbands VDA. „Auch gut jeder zweite Neuwagen wird über die Schiene transportiert. Ein Streik von mehreren Tagen stellt die Automobilindustrie vor große logistische Herausforderungen.“

So hätten viele Unternehmen zusätzliche Lkw-Kapazitäten gebucht. „Aber ein vollständiger Ersatz aller Bahntransporte durch andere Verkehrsträger ist nicht möglich. Deswegen rechnen wir damit, dass unsere Transportabläufe erheblich behindert werden“, sagt Wissmann.

Was die GDL erreichen will

Diese Einschätzung teilt auch Logistik-Professor Kille. „Viele Unternehmen haben einen Puffer für 24 Stunden, ab 48 Stunden kann es schon kritisch werden“, sagt der Experte. „Besonders ärgerlich wird es, wenn an einem der bestreikten Tage zum Beispiel der Wochenbedarf angeliefert werden sollte.“

Erschwerend kommt das anstehende Weihnachtsgeschäft hinzu. „Die Kapazitäten sind bereits gebucht, um die Läden und Lager zu füllen. In den Sommermonaten wären mehr Lkw-Kapazitäten frei gewesen – aber bei weitem nicht genug, um den Transport komplett übernehmen zu können“, sagt Kille.

In Schlüsselbranchen wie der Automobilindustrie ist die Produktionskette komplett auf Just-in-time-Produktion ausgerichtet, Zuliefer- und Produktionstermine sind genau aufeinander abgestimmt. „Warenlager helfen nur die ersten Tage, dann stockt die Fertigung“, sagt Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der DIHK. „Was derzeit bei der Bahn passiert, ist Gift für den Standort Deutschland.“

Autohersteller wappnen sich

Die Autohersteller selbst geben sich bislang aber noch gelassen. Aus München heißt es, „dass die BMW Group von den aktuellen Streiks für den Schienengüterverkehr nicht betroffen ist.“ Audi prüft die Lage, vertraut aber auf sein „eingespieltes Team in der Logistik“, um die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten.

Derzeit könne man noch nicht absehen, ob und inwieweit es zu Verzögerungen im Produktionsablauf kommen könne, heißt es aus der Zentrale in Ingolstadt. „Unsere oberstes Ziel ist es, die Produktion am Laufen zu halten.“ Bei Bedarf werde man Teile per Lkw anliefern.

Mercedes aus Stuttgart meldet: „Unsere Produktion läuft“. Man werde – je nach den Erfordernissen der konkreten Situation – Maßnahmen treffen, zum Beispiel eine Verlagerung von Transportströmen auf die Straße. Jegliche Auswirkung auf die Produktion wolle man ausschließen.

Mehr Anfragen für Lkw-Transporte

Von dem aktuellen Bahnstreik sind am Ford-Standort in Köln etwa 1.000 Fahrzeuge betroffen, die für den Transport mit der Bahn vorgesehen waren. 200 dieser Fahrzeuge werden auf Lkws umgeleitet, die verbleibenden 800 Einheiten werden über Transportschiffe auf dem Rhein befördert werden. Am Produktionsstandort in Saarlouis werden rund 250 Fahrzeug-Einheiten, die ursprünglich für den Bahntransport vorgesehen waren, auf Lkws transportiert. Weitere 500 Fahrzeuge werden vor Ort zwischengelagert. Diese Maßnahmen gehen natürlich mit zusätzlichen Kosten einher.

Einige Logistiker sind allerdings weniger optimistisch. So zum Beispiel die Gefco-Gruppe mit Sitz in Paris, die als ehemalige Tochter von PSA Peugeot Citroën unter anderem auf den Transport von Neuwagen spezialisiert sind. „Die Streiks der letzten Wochen, im Bahn- und Flugverkehr, verlangen den Unternehmen und Arbeitnehmern eine Menge ab“, ärgert sich Jörg Rogge, der bei Gefco in Deutschland als Mitglied der Geschäftsführung den Bereich Marketing und Vertrieb verantwortet.

Das Unternehmen erhielt zuletzt verstärkt Anfragen für Ersatztransporte mit Lkws. „Die Streiks belasten natürlich die Lkw-Kapazitäten“, sagt Rogge. Das führe auch zu steigenden Kosten, weil die Lkws durch das höhere Verkehrsaufkommen mit längeren Transportzeiten rechnen müssten.

Stahlkochern drohen teure Schäden

Was in der Automobil- und Chemiebranche zu ärgerlichen und kostspieligen Produktionsausfällen führt, kann bei den Stahlunternehmen schnell extrem teuer werden. Die Hochöfen benötigen einen konstanten Nachschub an Erz, Koks und Schrott. Anders als Produktionsroboter können Hochöfen nicht einfach abgeschaltet werden, ohne das Material und den Brennstoff konnte der Hochofen kaputt gehen. Sobald das Feuer brennt, darf es rund 20 Jahre lang nicht erlöschen – alles andere würde Millionen verschlingen.

Über die Hälfte der Transportmengen bei der Anlieferung der Rohstoffe und dem Abtransport der Fertigprodukte werden in der Stahlbranche über die Bahn abgewickelt. Das sind rund 65 Millionen Tonnen pro Jahr - oder 200.000 Tonnen am Tag.

„Ein Fünf-Tage-Streik im Schienengüterverkehr wäre von den Stahlunternehmen nicht aufzufangen“, sagt die Sprecherin der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Beate Brüninghaus. „Ein kurzfristiges Ausweichen auf andere Verkehrsträger ist nur sehr eingeschränkt möglich. Daher geben mögliche Streiks auf der Schiene – auch vor dem Hintergrund einer anziehenden Stahlkonjunktur – Anlass zu größter Sorge.“

Das sind die Bahngewerkschaften GDL und EVG

Selbst ohne teure Schäden an Hochöfen schätzen Fachleute die Kosten für den Streik auf rund 50 Millionen Euro pro Tag. Andere Experten gehen jedoch von einer nicht ganz so hohen Schadenssumme aus. „Diese Zahl ist vermutlich politisch und nach meiner Einschätzung hoch gegriffen“, sagt Logistik-Professor Kille. „Der Umsatz im Schienengüterverkehr liegt bei etwa 15 Millionen Euro pro Tag. Fahren nur ein Drittel der Züge, entgehen der Bahn rund zehn Millionen Euro pro Tag. Die indirekten Effekte auf die Wirtschaft sind deutlich schwerer zu beziffern.“

Frage der Verhältnismäßigkeit

Dazu kommt, dass nicht alle Regionen gleich stark betroffen sind. Der Streik auf der Schiene wirkt sich auf große Unternehmen in Ballungsräumen stärker aus als auf Firmen auf dem Land. „Der Güterverkehr auf der Schiene spielt sich inzwischen größtenteils zwischen großen Knotenpunkten ab, in ländlichen Regionen ist es schon länger nicht mehr profitabel“, sagt Kille.

Je nach Planung der Unternehmen könnten die Lieferausfälle innerhalb weniger Tage bis einer Woche aufgeholt werden. Das mag zunächst wenig dramatisch klingen, kann aber schnell Millionen kosten.

„Weselsky verliert jedes Maß“

Für VDA-Präsident Wissmann stellt sich bei der Länge des Streiks die Frage der Verhältnismäßigkeit. „Es drängt sich zunehmend der Eindruck auf, dass es der GDL nicht in erster Linie um die Anliegen der Lokführer, sondern um gewerkschaftliche Eigeninteressen geht“, sagt Wissmann. „Man kann nur hoffen, dass das geplante Gesetz zur Tarifeinheit solchen Auswüchsen Einhalt gebietet.“

Auch die Kritik aus der Politik wird zunehmend lauter – am Vorgehen der GDL und ihres Vorsitzenden. „Claus Weselsky verliert gerade jedes Maß“, sagte SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi zu „Spiegel Online“. Die Politikerin forderte Weselsky auf, seine Streikpläne zurückzuziehen. „Mit diesem abermaligen Ausstand schadet die GDL allen Gewerkschaften, sie beschädigt die Solidarität innerhalb der Bahn-Belegschaft, und sie verärgert Hunderttausende von Bahnkunden, denen jetzt Chaostage bevorstehen.“

Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) warnte davor, die öffentliche Akzeptanz für den neuen Bahnstreik über Gebühr zu strapazieren. Der „Bild“-Zeitung sagte Dobrindt, Streik sei zwar ein elementarer Bestandteil der Tarifautonomie. Doch sollten die Tarifparteien „mit diesem hohen Gut sehr verantwortungsvoll umgehen“. CDU-Generalsekretär Peter Tauber betonte: „Die Dauer des Streiks allein lässt jedes Maß vermissen.“

Mit Material von Reuters

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