Markus Scholz ist Wirtschaftsprofessor in Wien. Er forscht unter anderem zu Themen wie Ethik und Corporate Governance. Gemeinsam mit seinem Kollegen Craig Smith von der französischen Wirtschaftshochschule INSEAD untersucht er derzeit das Verhalten der Pharmakonzerne in der Corona-Pandemie.
WirtschaftsWoche: Herr Professor Scholz, die USA wollen die Patente für Covid-19-Impfstoffe aussetzen; die EU zeigt sich gesprächsbereit. Wie gefährlich ist das für die Pharmaindustrie?
Markus Scholz: Das ist schon sehr populistisch, was die Regierung Biden da macht. Denn die großen Pharmakonzerne, zumal die amerikanischen, haben ihren Reibach ja bereits gemacht. Insbesondere die USA, die EU und weitere reiche Länder haben Milliarden an Impfstoffdosen gekauft. Zudem tummeln sich ja inzwischen doch einige Anbieter auf dem Markt. Bald wird es in den Industrieländern Überkapazitäten in der Versorgung geben. Ende des Sommers werden 90 Prozent der Bevölkerung in den Industrieländern geimpft sein. Der direkte Schaden für die Pharmakonzerne dürfte sich in Grenzen halten.
Den Schaden haben die Unternehmen doch jetzt schon – bei Biontech, Pfizer, Moderna und Curevac sind kurz nach der Ankündigung die Aktienkurse abgestürzt.
Ich sehe das eher als Korrektur. In den vergangenen Wochen sind die Kurse enorm gestiegen, das hat sich nun wieder normalisiert.
„Als stünde der Untergang des Abendlandes bevor“
Wie hoch ist der Imageschaden für die Pharmaindustrie?
Enorm. Für die Branche ist das ein Kommunikationsdebakel. Die Unternehmen hätten von sich aus stärker anbieten müssen, alles zu tun, damit insbesondere Entwicklungsländer mehr Impfstoffe bekommen. Jetzt steht auf einmal das Thema Patententzug im Raum. Die Branche steht nun enorm unter Druck und wird moralisch von der US-Regierung vorgeführt.
Die Pharmaindustrie argumentiert, dass die Aussicht auf Patente und entsprechende Monopolgewinne erst zu Innovationen führt.
Es stimmt ja auch, dass die Entwicklungen von Impfstoffen enorm teuer ist. Das damit verbundene unternehmerische Risiko muss abgegolten werden. Die Verlautbarungen der Pharmaverbände lesen sich allerdings so, als stünde der Untergang des Abendlandes unmittelbar bevor.
Bei Aids-Medikamenten fielen die Preise drastisch
Sie halten das für übertrieben?
Erstens ist überhaupt noch nicht klar, welche Patente möglicherweise freigeben werden. Zweitens ist die Freigabe von Patenten ist nicht per se schlecht. Dies kann, wie die jüngere Geschichte zeigt, auf Ausnahmen beschränkt bleiben. Zu Beginn des Jahrtausends wurde der Patentschutz für Aids-Medikamente aufgeweicht. Die Preise fielen drastisch, mehr Menschen in den Entwicklungsländern konnten sich die lebensrettenden Medikamente leisten. Das hat nun allerdings nicht zu weiteren Patentaussetzungen bei anderen Medikamenten geführt. Zudem lässt sich eine Patentfreigabe auch zeitlich begrenzen.
Reicht es denn aus, die Patente freizugeben? Die Hersteller argumentieren, dass es zur Herstellung von Impfstoffen vor allem viel Know-how in der Produktion braucht.
Wenn Patente freigegeben werden, muss auch das technologische Know-how geteilt werden. Wir haben ja im Verlauf der Pandemie gesehen, wie komplex die Herstellung ist. AstraZeneca hatte massive Produktionsprobleme. Bei Johnson & Johnson wurden Millionen Impfstoffdosen verpfuscht. Das alles ist in großen Industrieländern passiert. Jetzt stellen Sie sich das mal in Entwicklungsländern vor. Da ist die Produktion noch schwieriger, daher müssen die Entwicklungsländer bei einer Patentfreigabe auch Zugang zu Know-how und Technologien bekommen. Und es müsste entsprechendes Personal ausgebildet werden.
Bei Biontech/Pfizer ist die Produktion doch eigentlich ganz rund gelaufen?
Anders als etwa AstraZeneca hat Pfizer sein Know-how nicht geteilt, auf vergleichsweise intransparente Weise Preise festgesetzt und harsch verhandelt. Am Ende haben sie ohne größere Produktionsprobleme den erfolgreichsten Impfstoff produziert.
Die Aussetzung von Patenten alleine scheint keine Patentlösung zu sein. Was wäre denn noch zu tun?
Die weltweite Covax-Kampagne, hinter der die Weltgesundheitsorganisation WHO, Unicef sowie die globalen Impfstoff-Initiativen Gavi und Cepi stehen, muss dringend gestärkt werden. 70 Prozent der Impfstoffe sind bisher an Industrieländer gegangen. Covax ist unter anderem quasi eine Einkaufgesellschaft. Sie kauft mithilfe von Zuwendungen von Industrieländern und großen Stiftungen auch für Entwicklungsländer ein und verschafft diesen damit einen besseren Zugang zu Impfstoffen.
Entwicklungsländer als neue Märkte
Im vergangenen Jahr hat Covax dafür Milliarden erhalten, unter anderem von der EU. Wieviel Geld ist noch nötig?
Covax macht leider nicht transparent, wie viele Milliarden bereits angekommen sind. Es wird von dieser Seite aber berichtet, dass es etwa zwanzig Milliarden Euro braucht, um bis Ende 2022 jeweils zwanzig Prozent der Bevölkerung in Entwicklungsländern mit Impfstoffen versorgen zu können.
Wie lassen sich Unternehmen zur Zusammenarbeit mit Covax motivieren?
Daran forsche ich gerade gemeinsam mit meinem Kollegen Craig Smith von der französischen Wirtschaftshochschule INSEAD und einigen Doktorandinnen. Das größte Problem von Covax besteht im Moment darin, dass die bestehenden Impfstoffe durch bilaterale Verträge mit Nationalstaaten aufgekauft wurden. Covax war einfach kein kompetitiver Partner. Nun besteht aber die Angst der Unternehmen, Patente zu verlieren, wenn sie Covax und den Entwicklungsländern nicht etwas entgegenkommen. Und dann gibt es natürlich noch die Opportunitätsgründe, also das wirtschaftliche Kalkül: Nachdem die Märkte in den Industrieländern in absehbarer Zeit weitgehend versorgt sind, bieten sich die Entwicklungsländer als neue Märkte an. Es ist sicher kein Zufall, dass Covax in jüngster Zeit viele Abschlüsse mit Herstellern wie etwa Moderna erzielen konnte. Was wir aber überdies sehen, sind Unternehmen und deren Konzernchefs, die das Thema globale Impfstoffversorgung aus moralischen Gründen sehr ernst nehmen. Patients first, wie es in der Branche heißt. Hier gibt es aber noch Luft nach oben.
Mehr zum Thema: Die Debatte um eine Patentfreigabe für Covid-19-Impfstoffe rührt an einer ökonomischen Grundsatzfrage: Muss der Staat Ideen als geistiges Eigentum schützen – weil sonst Innovationen unterbleiben?