„Tag der Industrie“ in Berlin Die Angst der deutschen Industrie vor dem Absturz

Die deutsche Wirtschaft befindet sich am Anfang eines perfekten Sturms - oder vielleicht schon mittendrin. Quelle: imago images

Dax- und Familienkonzerne trafen sich zum „Tag der Industrie“ in Berlin. Die Bosse suchten Antworten auf den Weltwirtschaftskrieg – und vier weitere Groß-Probleme.

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Man hätte den „Tag der Industrie“ auf kaum ein besseres Datum legen können – oder ungünstiger, je nach Sichtweise. An Dramatik ist der #TDI2022, den der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in Berlin zwei Tage lang organisierte, jedenfalls kaum zu toppen. Wladimir Putin dreht in diesen Tagen sukzessive den Gashahn ab – und deutsche Konzerne und Weltmarktführer trafen sich zum Austausch in der Berliner Verti Music Hall. Die Industrie braucht Strom aus Gas, um Glashütten, Produktionslinien und Chemiewerke am Laufen zu halten. Und sie benötigt Gas etwa für Produkte in der agrarchemischen Industrie. Die hohe Abhängigkeit von Gas „macht uns natürlich Sorgen“, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm.

Und die Gasknappheit ist bei Weitem nicht die einzige Krise. „Die Ansammlung von Risiko- und Stressfaktoren ist ungewöhnlich hoch“, sagte Schaeffler-Chef Klaus Rosenfeld auf der Kick-off-Veranstaltung am Montagabend. Das erfordere „Nerven und Umsicht“. Die Belastung für die deutsche Industrie sei lange nicht so hoch gewesen. Nach Gasknappheit, Lieferkettenchaos, Inflation und der nach wie vor schwelenden Coronapandemie „baut sich nun auch China auf“. Viele Sachen passierten „gleichzeitig“ und „überlagern sich“, so Rosenfeld.

Fünf Weltkrisen auf einmal – der Ton für den Haupttag des TDI am Dienstag war gesetzt. Die deutsche Wirtschaft befindet sich am Anfang eines perfekten Sturms – oder vielleicht schon mittendrin. Die BDI-Konferenz wurde damit zu einem Multi-Krisen-Event und Gradmesser für die Widerstandsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Noch geben sich die anwesenden CEOs optimistisch, aber sie versehen ihn mit Fragezeichen, wie es tatsächlich weitergehen wird. Und klaren Forderungen an die Politik.

Auf dem Traditionstreffen der deutschen Industrie wurde auch die Politik erwartet. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach am Dienstagvormittag, genauso wie sein politischer Kontrahent Friedrich Merz von der CDU. Es folgten Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), Verkehrskollege Volker Wissing (FDP), Finanzminister Christian Lindner (FDP), Bayerns Landeschef Markus Söder (CSU) – und das „Who is Who“ der deutschen Wirtschaft: Deutsche-Bank-CEO Christian Sewing, SAP-Chef Christian Klein, RWE-Lenker Markus Krebber, Telekom-Vorständin Claudia Nemat und BASF-Chef Martin Brudermüller. Sie alle sind gekommen, um zu warnen: vor dem Absturz der Volkswirtschaft, Rezessionsgefahren und Wohlstandsverlusten.

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Trotz der Mehr-Krisen-Stimmung gehe es dem Autozulieferer Schaeffler gut. „Die Geschäfte laufen besser als gedacht“, sagte Unternehmenschef Rosenfeld. „Es reißt nicht ab.“ Noch nicht zumindest. Schaeffler konnte etwa eine drohende Stahlmangellage geschickt umschiffen, nachdem die Sanktionen den Import russischen Stahls unmöglich machten. Ihn und seine Mannschaft trieben die goldene Regel: „Bloß keinen Kunden abstellen.“ Schaeffler organisierte sich Stahl aus China. „Die Welt ist mehrdimensional“, sagte Rosenfeld. „Ohne Kontakt nach China wären wir vor ein paar Monaten in einer sehr schwierigen Situation gewesen!“

Angela Titzrath, Chefin der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA), wird wie Schaeffler ebenfalls durch mehrere Krisen erschüttert. Drei bis vier Prozent der Produktionsmengen befänden sich derzeit auf dem Schiff oder hänge irgendwo fest – Auswirkungen vor allem der Zero-Covid-Politik in China und Logistikprobleme in Los Angeles. HHLA habe viele Sonderflächen gemietet, um Container zu parken. Die Unpünktlichkeitsquote liege bei 99 Prozent, „derzeit kommt also kein Container pünktlich“, sagte Titzrath. Kommunikation und Kooperation seien die Schlüsselwörter, um die Logistikkrise zu lösen.

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Als Einzelkrise wäre das machbar. Doch es kommen weitere hinzu. Vor allem die aktuelle Lage im HHLA-Hafen Odessa mache ihr Sorgen. Der Hafen gehört seit einiger Zeit zum Unternehmen. Am 24. Februar, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, bekam sie einen Anruf ihres Mitarbeiters. „Wir haben Krieg. Was sollen wir machen?“ Titzrath orderte an, zwei Schiffe abzufertigen und die 480 Mitarbeiter zunächst in Sicherheit zu bringen. Der Hafen operiere heute nur landseitig, sei vom Wasser aus nicht mehr erreichbar. Inzwischen seien viele Mitarbeiter im Ausland. 32 Angestellte seien im Einsatz an der Waffe. „Wir erleben gerade eine weitere Welle“, sagte Titzrath. „Jetzt werden weitere Mitarbeiter gezogen.“ Das sei jetzt eine „sehr herausfordernde Situation“.

Die Lage ist also ernst. Vor allem der Gaskonflikt prägte den Haupttag des TDI. Deutschlands Gasspeicher sind zu 57 Prozent gefüllt, 90 Prozent sollen es bis November sein. Nur dann sei gesichert, dass die Bundesrepublik unbeschadet über einen eiskalten Winter kommen könne. Und auch nur dann, wenn während eines Winters genügend Erdgas aus Pipelines oder in Flüssigform über Schiffe in Europa anlandet. Ohnehin ist nicht mal sicher, ob Deutschland die Speicher wird füllen können. Wirtschaftsminister Habeck stellte bereits „weitere Maßnahmen“ in Aussicht.

Diese Länder haben einen Alarm bei der Gaslieferung ausgesprochen

Welche? Noch unklar. Es werden Kohlekraftwerke zunächst reaktiviert und die Politik ruft zum Energiesparen auf. Aber all das dürfte aber kaum reichen. Und das macht die Industrie nervös. Wenn Russland die Gaslieferungen komplett einstellen würde, dann drohe ein massiver Wohlstandsverlust. Die Niederlande haben gerade eine Gaskrise ausgerufen – die Schockwellen kommen näher.

Mehr Einsparung in der deutschen Industrie sei aber kaum noch möglich, sagte Russwurm, der oberste Industrievertreter Deutschlands. „Die Unternehmen arbeiten an der Einsparung nicht erst seit gestern.“ Jedes Unternehmen sei aufgerufen, die Energiekosten zu reduzieren – schon allein aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit. Bei einem Gasstopp wären Prozesse, die Gas nötig hätten, massiv getroffen. „Die stehen dann still“ – mit erheblichen Kaskadeneffekten.

von Konrad Fischer, Florian Güßgen, Andreas Menn, Jürgen Salz

Ein Automobilhersteller könne seine Lackierstraße noch anders heizen, aber ohne Glas oder technische Keramik stehe die Produktionslinie still. Vor allem warnt er vor irreparablen Schäden: „Wenn die Glaswanne einmal eingefroren ist, dann wird sie nie wieder produzieren können.“

Grundsätzlich hält der Industrieverband an den Abschaltprioritäten der Politik fest – dem Bürger sei bis zuletzt eine warme Wohnung garantiert. Die Reihenfolge beruhe auf europäischer Regulierung. „Die wollen wir nicht anzweifeln.“ Der Abschalt-Plan der EU sei „mit besten Intentionen“ entwickelt worden, „die Bürger bis zuletzt zu versorgen“. Aber der Plan sei eben auch entstanden für punktuelle Ausfälle. Was nun drohe, sei viel größer, nämlich großflächige Ausfälle. Russwurm: „Kommt im Südostbayern noch Gas an, wenn wir statt im Osten immer im Südwesten Gas einspeisen? Das kann Ihnen heute keiner sagen.“

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Eine wichtige Botschaft wolle man aber am Tag der Industrie setzen. „Unternehmen haben drei Aufgaben“, sagte Schaeffler-Chef Rosenfeld. Sie müssten Güter produzieren, Arbeitsplätze schaffen und das Land zukunftsfähig machen. „Die Unternehmen sind der Motor jeder Volkswirtschaft“, sagte der Schaeffler-Chef. „Wenn der stottert, dann trifft das die Schwächsten.“ Die Politik dürfe also niemals überziehen.

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