ThyssenKrupp Jetzt droht der Bruch mit dem Stahlgeschäft

Der Ruhrkonzern kämpft ums Überleben. Der Rauswurf dreier Top-Manager stärkt Vorstandschef Heinrich Hiesinger. Der kann nun leichter Firmenanteile abstoßen und mit der Stahltradition brechen – auch gegen den Widerstand der Gewerkschaft.

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Wie Berthold Beitz ThyssenKrupp prägte
Berthold BeitzDer Vorsitzende der Krupp-Stiftung hätte am 26. September 2013 seinen 100. Geburtstag gefeiert, doch er starb Ende Juli in seinem Ferienhaus auf Sylt. Sein wichtigster Mann im Konzern war über viele Jahre Gerhard Cromme, zunächst als Vorstandsvorsitzender von Krupp und ThyssenKrupp, später als Aufsichtsratschef. Cromme sollte auch den Stiftungsvorsitz übernehmen, wenn Beitz einmal nicht mehr sein sollte. Doch im März 2013 war plötzlich alles aus. Cromme trat von allen Ämtern zurück. Zuvor hatte es Razzien wegen des Verdachts auf Kartellabsprachen bei Karosseriestahl gegeben. Cromme fiel bei Beitz in Ungnade. 2011 erschien eine Biographie über Beitz, die er vor Drucklegung absegnete. Infolgedessen ist dort nun wenig Kritisches zu lesen. Eine überragende Position nimmt Beitz in der Nazizeit ein. Er ist zwar kein Widerstandskämpfer, rettet aber - ähnlich wie Oskar Schindler - hunderten von Juden das Leben, indem er sie als Direktor der Karpathen-Öl in Russland anstellt und somit vor dem Tod bewahrte. Quelle: dpa
Berthold Beitz, Alfried Krupp Quelle: ThyssenKrupp AG
Villa Hügel Quelle: AP
Alfred Krupp Quelle: ThyssenKrupp AG
Margarethe Krupp, Bertha Krupp
Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Quelle: dpa
Radreifen-Skizze von Alfred Krupp Quelle: ThyssenKrupp AG

Am Eingang des pompösen, 50 Meter hohen und 13-stöckigen Hauptgebäudes der ThyssenKrupp-Zentrale am Essener Berthold-Beitz-Boulevard steht ein Korb mit blank polierten Äpfeln. „An apple a day keeps the doctor away“ steht auf dem Schild daneben. So sorgt der Stahl- und Technologiekonzern für die Gesundheit seiner Mitarbeiter. Ein Manager einer Auslandstochter, der gerade zu Besuch am Stammsitz weilt, nimmt sich einen Apfel, lächelt sarkastisch und meint: „Schokolade wäre besser gewesen.“

Der Mann hat recht. Äpfel sind zwar gut für die Gesundheit, Schokolade aber für die Nerven. Und die liegen blank in Essen und Duisburg, den beiden Sitzen des Unternehmens mit 49 Milliarden Euro Umsatz und 155 000 Mitarbeitern.

Grafik Verluste der Stahlwerke in Brasilien und USA

Auf einen Schlag beschloss der Aufsichtsrat unter Gerhard Cromme am Mittwochabend den Rauswurf von Stahlchef Edwin Eichler, Technologievorstand Olaf Berlien und dem Verantwortlichen für gute Unternehmensführung, Jürgen Claassen. Schwerste Managementfehler, Korruption, Kartellabsprachen und Intrigen zwangen vor allem Cromme, die Reißleine zu ziehen. Denn der Abwärtsstrudel, der ThyssenKrupp nach unten zieht, droht auch ihn zu erfassen. Zehn Jahre lang agierte Cromme, wie sich jetzt zeigt, offenbar zu sehr nach dem Motto „abnicken und zuschauen“.

Für ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger ist das die große Chance zum Total-umbau des Konzerns, um ihm eine überlebensfähige Form zu verleihen. Wohin die Reise geht, lässt sich in ersten Umrissen erahnen. Sicher ist das langfristige Ende der Stahlära. Sogar das Hauptstahlwerk in Duisburg-Bruckhausen könnte zur Disposition stehen, wie die WirtschaftsWoche aus Aufsichtsratskreisen erfuhr.

Grafik Ebitda und Verschuldungsgrad

Wie nahe ThyssenKrupp im Rahmen des Umbaus vielleicht sogar an Siemens heranrückt, wo Hiesinger zuvor arbeitete, werden die kommenden Jahre zeigen.

Vor dem großen Wurf muss Hiesinger aber den prominentesten Ruhr-Konzern von der bedrohlichsten Krise seiner Geschichte befreien. Die Verschuldung ist so hoch und das Geschäft so mau, dass intern fast der Ausnahmezustand herrscht.

Desaströses Ergebnis

Der 99-jährige Berthold Beitz sieht sein Lebenswerk in Gefahr, das Erbe von Alfried Krupp. Als dieser 1967 starb, war Beitz dessen Testamentsvollstrecker geworden und hatte geschworen, den ThyssenKrupp-Vorgänger, die „Firma Krupp“, zu stärken und zu kräftigen. Darum bemüht sich Beitz seit 45 Jahren als Vorsitzender der Krupp-Stiftung unbeirrt: mit desaströsem Ergebnis. Denn viel schlechter als jetzt könnte es um ThyssenKrupp kaum noch stehen. Auf den ersten Blick wirkt die Lage zwar gar nicht so ernst.

Schrumpfendes Stahlgeschäft

Die Stärken und Schwächen von ThyssenKrupp
Stärke 1: Das Unternehmen besitzt ein solides Liquiditätspolster. Zwar hat Thyssen-Krupp gerade den zweiten Milliardenverlust in drei Jahren eingefahren. Dennoch ist der Konzern, dank eines sehr konservativen Finanzengagements, erstaunlich gut bei Kasse. Im vierten Quartal gelang es Finanzchef Guido Kerkhoff, die liquiden Mittel auf 3,6 Milliarden Euro zu erhöhen. Maßgeblich dazu beigetragen hat der Verkauf eigener Aktien, die ursprünglich als strategische Reserve für Übernahmen gedacht waren. Der Verkauf brachte einen Erlös von 1,6 Milliarden Euro. Quelle: dpa
Das aktuelle Liquiditätspolster reicht – abzüglich einer halben Milliarde Euro, die fest im operativen Geschäft gebunden sind – aus, um die in wenigen Monaten fälligen Finanzschulden von 0,6 Milliarden Euro abzulösen. Außerdem kann Thyssen-Krupp auf nicht gezogene Kreditlinien zurückgreifen, um sich bei Bedarf weitere 4,7 Milliarden Euro bei seinen Hausbanken zu borgen. Dank der hohen Liquidität sind die Anleihen von Thyssen-Krupp sogar für einen kleinen Kreis institutioneller Investoren interessant, die ihr Geld auch bei Unternehmen mit einer schlechten Bonitätsnote anlegen. Thyssen-Krupp gibt überwiegend Anleihen mit einem Nennwert von 1.000 Euro aus , wendet sich also gezielt an Privatanleger. Der Ruhrkonzern steht für Seriosität und finanzielle Solidität. Die Sorge, das Unternehmen könne pleitegehen, haben viele Privatanleger nicht. Bei den meisten Dax-Konzernen ist eine Mindeststückelung von 50.000 Euro üblich. Quelle: dapd
Stärke 2: Innovative Ingenieure sichern Vorsprung gegenüber den Konkurrenten. Der Investitionsgüter- und Stahlkonzern Thyssen-Krupp ist überwiegend auf bereits entwickelten Märkten tätig – und trifft dabei auf Konkurrenten mit günstigeren Kostenstrukturen. Um gegen sie zu bestehen, setzt der Konzern auf die innovative Kompetenz seiner Ingenieure. Denn erfahrungsgemäß sind die Kunden bereit, für bessere Qualität, größere Zuverlässigkeit und längere Lebensdauer eines Produktes einen Aufpreis zu bezahlen. Quelle: dapd
Auch im Geschäft mit seinen wichtigsten Kunden, den deutschen Autokonzernen, folgt Thyssen-Krupp diesem Prinzip. Und bei der wichtigsten Kennzahl, dem operativen Gewinn vor Abschreibungen pro Tonne Stahl, liegt der Konzern mit 124 Euro vor der Konkurrenz: Voestalpine verdient 105, Weltmarktführer Arcelor-Mittal sogar nur 44 Euro. Quelle: dpa
Allerdings musste Thyssen-Krupp auch lernen, dass ein vermeintlich günstiges Angebot am Ende richtig teuer werden kann: Um das Budget für das neue Stahlwerk in Brasilien nicht zu überziehen, hatte der Vorstand entschieden, die für das Milliardenprojekt wichtige neue Kokerei von einem chinesischen Anbieter bauen zu lassen. Der Experte im eigenen Haus, der Anlagenbauer Uhde, kam nicht zum Zug. Das Ergebnis ist bekannt: Die Chinesen lieferten Schrott, und jetzt muss Uhde für viel Geld die Kokerei ans Laufen bringen. Quelle: dpa
Stärke 3: Führende Marktposition in den meisten Geschäftsbereichen. Für einige Experten ist Thyssen-Krupp ein Paradebeispiel für einen Mischkonzern. Für andere ist der Essener Konzern ein unübersichtliches Industriekonglomerat. Tatsächlich zählt das Essener Traditionsunternehmen allein 636 Tochtergesellschaften in mehr als 80 Ländern, deren Geschäftszahlen, also Umsätze und Ergebnisse, voll in die Konzernbilanz einfließen. Quelle: dpa
Viele dieser Unternehmen sind in ihren Märkten tonangebend. Die Tochter Thyssen-Krupp Steel Europe beispielsweise ist nach Umsatz gemessen der zweitgrößte Anbieter auf dem Kontinent – hinter dem Branchenprimus Arcelor-Mittal. Weltweit belegt Thyssen-Krupp mit sämtlichen Stahlaktivitäten in Europa, Nord- und Südamerika sowie der Edelstahlstahlsparte nach Umsatz den siebten Rang. Nach Produktionsmenge zählt der Konzern nicht zu den Top 15. Quelle: dpa

„Wir sind für zwei Jahre durchfinanziert“, beruhigt ein ThyssenKrupp-Top-Manager. Insofern gebe es „keinen Grund zur Sorge“: Fremdmitteln von 5,8 Milliarden Euro steht ein Eigenkapital von 9,1 Milliarden Euro gegenüber, die Eigenkapitalquote liegt noch bei 20 Prozent. Doch die vermeintlich gesunde Relation steht nur auf dem Papier. Denn zu dem Eigenkapital von 9,1 Milliarden Euro zählen die neuen, aber unwirtschaftlichen Stahlwerke in Brasilien und den USA. Die beiden Verlustbringer, von denen sich ThyssenKrupp trennen will, stehen mit sieben Milliarden Euro in der Bilanz.

Dieser Wert, so die Erkenntnis des Führungstrios Hiesinger, Cromme und Beitz, dürfte viel zu hoch angesetzt sein. „Es könnte beim Verkauf auf deutlich unter drei bis vier Milliarden Euro hinauslaufen“, sagt ein Aufsichtsrat, „vielleicht sogar auf nur ein bis zwei Milliarden Euro.“ Das bedeute einen „immensen Abschreibungsbedarf von vier, fünf oder im schlimmsten Fall sechs Milliarden Euro“, heißt es aus Aufsichtsratskreisen. Die Folgen könnten ThyssenKrupp strangulieren. „Wenn das eintritt, könnten die Banken neue Sicherheiten verlangen“, warnt ein mit dem Konzern vertrauter Anwalt.

ThyssenKrupp: Umsätze und Auftragseingänge nach Sparten

Damit begänne ein Countdown mit absehbarem Ende. Bisher sind Beitz und Ziehsohn Cromme, der im Februar 70 wird und als Nachfolgekandidat im Stiftungsvorsitz gilt, meist erst zur Hochform aufgelaufen, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Doch nun droht die Wand einzustürzen. Nicht nur die Finanzkraft von ThyssenKrupp schmilzt wie Erz im Hochofen. Auch der traditionelle Kern des Konglomerats ist mittlerweile faul. Die Aufträge gehen zurück (siehe Grafik ).

Im deutschen Stahl-Stammgeschäft in Duisburg und beim als Hoffnungsträger deklarierten Anlagenbau (Errichtung von Zementwerken und Chemieanlagen) sind es zweistellige Prozentzahlen. Anlagenbau, Aufzüge und der Marineschiffbau gelten als künftiges Kerngeschäft von ThyssenKrupp. Vor allem das Stahlgeschäft – die Urzellen der 1999 fusionierten Ruhrkonzerne Thyssen und Krupp – droht das Unternehmen in den Abgrund zu reißen: Im um gut 20 Prozent schrumpfenden amerikanischen Stahlmarkt verliert ThyssenKrupp mit seinen Werken pro Quartal 150 bis 300 Millionen Euro.

Grafik Umsatz und Auftragseingang von ThyssenKrupp

Analysten erwarten eine weitere Abschwächung des Marktes. Zugleich drohen Schandtaten an den Konzernfinanzen zu nagen. Wegen Kartellabsprachen im Geschäft mit Bahnschienen zwischen ThyssenKrupp und dem österreichischen Stahlhersteller Voestalpine will die Deutsche Bahn die Essener auf Schadensersatz verklagen. Zwar hat die Bahn signalisiert, sich auch außergerichtlich einigen zu wollen.

Zur Debatte stehen 500 Millionen Euro. Kommt es zu einem Vergleich, dürfte an ThyssenKrupp mindestens die Hälfte hängen bleiben. Weitere Geschädigte – das städtische Düsseldorfer Nahverkehrsunternehmen Rheinbahn sowie Ruhrgebietskommunen – schätzen ihren Schadensersatzbedarf vorerst auf 71 Millionen Euro. Abschließende Rechnungen werden 2013 präsentiert.

Was alles verkauft werden soll

Die größten Stahlhersteller der Welt
Das deutsche Unternehmen Salzgitter rangiert im weltweiten Vergleich der großen Stahlhersteller auf den hinteren Plätzen. 6,8 Millionen Tonnen betrug die Rohstahlerzeugung im Jahr 2010 und hier ist der HKM-Anteil mitgerechnet. Der Stahlumsatz lag bei 5,2 Milliarden Euro. Heute hat die deutsche Stahlindustrie ihre Prognose für 2011 zurückgenommen. „Die Stahlkonjunktur hat sich in den letzten Wochen vor allem als Folge der Staatsschuldenkrise im Euro-Raum eingetrübt“, sagte der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Hans Jürgen Kerkhoff. Das trifft auch ... Quelle: dpa
Thyssen-Krupp. Der Essener Konzern hat im Jahr 2010 16,7 Millionen Tonnen Rohstahl erzeugt. Der Stahlumsatz betrug 16,7 Milliarden Euro. Die deutsche Energiewende macht der stromintensiven Branche Zukunftssorgen. Die Stahlindustrie spüre die Unsicherheit der Märkte. Die Stahleinkäufer warteten derzeit ab, um zu sehen, wie sich die Konjunktur weiter entwickeln werde - auch die weltweite Konkurrenz ... Quelle: dpa
Stahlwerk von Tata Steel Quelle: Presse
Beim chinesischen Branchen-Neunten Shougang lag die Rohstahlerzeugung im Jahr 2010 bei 25,8 Millionen Tonnen. Umsatzzahlen liegen nicht vor. Quelle: AP
Direkt davor platziert ist der ebenfalls chinesische Stahlbauer Shagang. Die Rohstahlerzeugung lag 2010 bei 30,1 Millionen Tonnen, allerdings liegen auch in diesem Fall keine Umsatzzahlen vor. Quelle: AP
JFE Steel aus Japan hat im vergangenen Jahr 32,7 Millionen Tonnen Rohstahl erzeugt und verzeichnete einen Stahlumsatz von 24,3 Milliarden Euro. Platz sieben. Quelle: dapd
Die Rohstahlerzeugung des südkoreanischen Stahlproduzenten Posco lag im Jahr 2010 bei 33,7 Millionen Tonnen. Das Unternehmen verzeichnete einen Umsatz von 28,5 Milliarden Euro. Quelle: AP

Dabei wird es für Hiesinger und die Nachfolger seiner gefeuerten Vorstandskollegen nicht leicht, schnell Kasse zu machen, um ThyssenKrupp vor dem Kollaps zu bewahren. Neun Interessenten haben sich dem Vernehmen nach gemeldet, um das brasilianische oder das amerikanische Stahlwerk zu kaufen. Zu ihnen gehören aus Brasilien der Stahlkonzern CSN und der Erzförderer Vale sowie der Stahlkocher US-Steel.

Lange Verkaufsliste

Was von den neun bisher als Angebot durchsickerte, wäre für ThyssenKrupp eine Katastrophe. Kolportiert wird ein Betrag von nur einer Milliarde Euro für beide Werke. Für diesen Betrag werde ThyssenKrupp aber nicht verkaufen, sagt ein Insider. Schon wird im Vorstand die radikale Alternative erwogen, die Stahlwerke herunterzufahren, einzumotten oder abzureißen.

Bessere Chancen, schnell Geld zu bringen, haben die anderen Kandidaten auf Hiesingers und Crommes Verkaufsliste. So soll der Bagger-Radlagerhersteller Berco nach Angaben von Aufsichtsratskreisen Anfang 2013 verkauft werden.

Auf einen dicken Batzen hofft die ThyssenKrupp-Spitze auch durch den Verkauf des Stoßdämpferherstellers Bilstein. Vorher allerdings will Hiesinger noch kräftig investieren, um den Autozulieferer möglichst teuer zu machen. „Wir haben den Fehler gemacht, abzuwarten, bis die schlecht laufenden Teilbereiche nichts mehr wert sind“, sagt selbstkritisch ein ThyssenKrupp-Manager. Auch der Lenksäulenproduzent Presta gehört zu den Schätzen, von denen sich der Konzern nun schnell trennen will oder muss. Nach Analystenschätzungen könnten Presta und Bilstein je eine Milliarde Euro einbringen.

Für Hiesinger ist die Verkaufsorgie aber nur Vorgeplänkel für den ganz großen Befreiungsschlag. Deshalb hat er seine neueste Vorlage bisher nur ausgewählten Aufsichtsräten und Vorständen gezeigt. Zur Debatte steht die Zukunft des deutschen ThyssenKrupp-Hauptstahlwerks in Duisburg-Bruckhausen, einem Industriekomplex, in dem 20 000 Stahlarbeiter im Dreischichtbetrieb Stahl schmelzen. Die Anlagen haben in Boomzeiten hohe Gewinne eingefahren, im Auf und Ab der Konjunktur aber unter dem Strich geschadet.

Aus diesem Grund hat Hiesinger einen Plan entwickelt, den er überschrieben hat mit „Let’s go to the Next Chapter“ – lasst uns ein neues Kapitel aufschlagen. Der Zeitplan steht fest. „Bis Juni 2013 soll über die Zukunft der deutschen Stahlproduktion entschieden werden, alle Lösungsmöglichkeiten und Alternativen kommen bis dahin auf den Tisch“, sagt ein Eingeweihter.

Verlagerung des Kerngeschäfts

Die Wirtschafts-Giganten aus NRW
Das Logo von Evonik Quelle: dpa
Beim Abstich wird der Himmel über dem Hüttenwerk Krupp Mannesmann (HWK) in Duisburg von hellem Feuerschein erleuchtet Quelle: dpa
Homepage von Abus Quelle: Screenshot
Die Kombo zeigt die Schilder von Aldi Süd und Aldi Nord Quelle: dpa
die Zentrale der Rheinmetall AG in Düsseldorf. Quelle: dpa/dpaweb
Das Verwaltungsgebäude der Bertelsmann AG in Gütersloh Quelle: dpa/dpaweb
Der geschäftsführende Gesellschafter der Tengelmann-Gruppe Karl-Erivan W. Haub hält einen Tengelmann-Prospekt. Quelle: AP

Ein heißeres Eisen könnte Hiesinger kaum anfassen. Bis heute erinnert sich jeder altgediente Manager im Konzern an die bittere Schließung des 1908 gegründeten Krupp-Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen 1988. Es kam fast zu Straßenschlachten vor den Toren der Hütte, die Cromme auf Geheiß von Beitz dichtmachte. Krupp wollte den Flachstahl nicht mehr – und bekam ihn wieder, als Krupp mit Thyssen fusionierte. Cromme versuchte, die gemeinsame Stahlsparte an die Börse zu bringen, musste das Projekt aber auf Druck der Gewerkschaften und der stahlverliebten Thyssen-Fraktion fallen lassen.

Aber die Abneigung gegen den Stahl hat Cromme und Beitz nie verlassen. Umso unverständlicher war es, dass sie dem Bau der Stahlwerke in Süd- und Nordamerika zustimmten und damit das aktuelle Desaster auslösten. Hiesinger hat als Ex-Siemens-Mann und gebürtiger Schwabe keine emotionale Beziehung zum Stahl.

Cromme und Beitz trugen alles mit...

Die Chancen der Gewerkschafter, Cromme und Hiesinger von ihrem Plan abzubringen, sind gering. ThyssenKrupp-Manager berichten, Hiesinger sei bereit, alle Register zu ziehen, um ThyssenKrupp unabhängiger vom schwankenden Stahlgeschäft zu machen: von der Auslagerung in eine Teilgesellschaft bis zum teilweisen oder vollständigen Börsengang.

Den Nukleus des künftigen Konzerns sollen das lukrative Aufzugsgeschäft, der Anlagenbau und Teile des Komponentengeschäfts (Kurbelwellen) bilden. Das hat Hiesinger intern verkündet. Das Aufzugsgeschäft soll technisch aufgemöbelt werden. Dabei steht Siemens, mit dem sich ThyssenKrupp den Chefaufseher Cromme teilt, parat: Da in Asien und den USA mehr Aufzugssysteme mit integrierter Zugangs- und Sicherheitskontrolle nachgefragt werden, die ThyssenKrupp nicht anbietet, üben die Essener engen Schulterschluss mit den Siemensianern. Die bei der Gebäudetechnik das elektronische Know-how beherrschen. Hiesinger war mal Chef dieser Siemens-Sparte.

Seit voriger Woche ist klar, dass der Schnitt an der Spitze die Machtverhältnisse zugunsten von Hiesinger verschoben hat. Cromme muss sich als geschwächt betrachten. Denn zerrissen ist nun die unselige Kette, die von Beitz über Cromme und dessen Kommunikator Claassen bis zu Hiesinger reichte und diesen einschnürte. Wer auch immer aus dem Konzern Claassens teure Auslandsreisen an die Öffentlichkeit brachte: Damit zerstörte er das entscheidende Glied dieser Kette. Claassen war einst Krupp-Direktor und dann Büroleiter von Cromme, bevor er vor zwei Jahren in den ThyssenKrupp-Vorstand berufen wurde.

Der Lohn war Cromme und seinem Gönner Beitz gewiss. Jeden Montag erstattete Claassen in Beitz’ Villa über dem Essener Kruppwald Bericht über das innere und äußere Erscheinungsbild von ThyssenKrupp.

Die Schuldfrage

Deutschlands größte Stiftungsunternehmen
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Damit war Claassen zugleich Beitz’ und Crommes Horchposten im Konzern und eine Art Dauerkontrolleur von Hiesinger. Zudem saß Claassen bis vor vier Jahren im Aufsichtsrat des ThyssenKrupp-Teilkonzerns Steel. In dieser Funktion verfolgte er die Fehlinvestitionen in Brasilien und den USA, ohne dass er, Cromme und Beitz diese verhinderten.

Wer war Schuld?

Eine ThyssenKrupp-interne Untersuchung soll nun bis Anfang 2013 Aufschluss über Details dieser Verfehlungen, die Verantwortlichen und ihre Mitwisser bringen. Des Weiteren hat der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats in einer Sitzung am 20. und 21. November beschlossen, weitere aktien- und strafrechtliche Gutachten über mögliche Managementfehler, Falschinformationen und Fahrlässigkeiten beim Bau der Stahlwerke in Auftrag zu geben. Das erste Gutachten dazu, verfasst von der Anwaltskanzlei Linklaters für Cromme im Januar 2012, stellte keine gravierenden Fehler des Aufsichtsrates fest.

Nun müssen die Herren von heute und damals noch einmal eine Untersuchung über sich ergehen lassen. „Die Führungsmannschaft war noch nie so aufgewühlt“, sagt ein Manager. Gespannt sind die ThyssenKruppianer vor allem, ob Cromme die neue Untersuchung wieder mit reiner Weste überstehen wird.Beobachtern fällt nämlich auf, dass Hiesinger seit Herbst häufiger zum Krupp-Stiftungssitz Villa Hügel fährt, um mit Beitz zu sprechen – auch ohne Cromme. „Das gab es früher nie“, wundert sich ein Kruppianer.

Und noch etwas sorgt für Staunen: Auch Beitz geht offenbar stille Wege. So habe er auf der Kuratoriumssitzung der Stiftung im September die Arbeit des Kuratoriumsmitgliedes Susanne Henle sehr gelobt. Sie mache hervorragende Arbeit, wird Beitz von einem Teilnehmer zitiert. Henle ist nicht irgendwer, sondern Beitz’ Tochter, die er ohne öffentliches Aufheben im Januar 2012 an seine Seite ins Kuratorium berief.

Dort sitzt die 65-Jährige nun neben Cromme, der seit Jahren als designierter Beitz-Nachfolger gilt. Doch Worte sind vergänglich wie die Menschen selbst. Und schon spekulieren altgediente ThyssenKrupp-Manager: Sollte Cromme weitere Fehler machen, könnte sich Beitz jemand anderes als Nach- folger vorstellen: die geborene Beitz. Immerhin wäre diese fünf Jahre jünger als Cromme.

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