Am Eingang des pompösen, 50 Meter hohen und 13-stöckigen Hauptgebäudes der ThyssenKrupp-Zentrale am Essener Berthold-Beitz-Boulevard steht ein Korb mit blank polierten Äpfeln. „An apple a day keeps the doctor away“ steht auf dem Schild daneben. So sorgt der Stahl- und Technologiekonzern für die Gesundheit seiner Mitarbeiter. Ein Manager einer Auslandstochter, der gerade zu Besuch am Stammsitz weilt, nimmt sich einen Apfel, lächelt sarkastisch und meint: „Schokolade wäre besser gewesen.“
Der Mann hat recht. Äpfel sind zwar gut für die Gesundheit, Schokolade aber für die Nerven. Und die liegen blank in Essen und Duisburg, den beiden Sitzen des Unternehmens mit 49 Milliarden Euro Umsatz und 155 000 Mitarbeitern.
Auf einen Schlag beschloss der Aufsichtsrat unter Gerhard Cromme am Mittwochabend den Rauswurf von Stahlchef Edwin Eichler, Technologievorstand Olaf Berlien und dem Verantwortlichen für gute Unternehmensführung, Jürgen Claassen. Schwerste Managementfehler, Korruption, Kartellabsprachen und Intrigen zwangen vor allem Cromme, die Reißleine zu ziehen. Denn der Abwärtsstrudel, der ThyssenKrupp nach unten zieht, droht auch ihn zu erfassen. Zehn Jahre lang agierte Cromme, wie sich jetzt zeigt, offenbar zu sehr nach dem Motto „abnicken und zuschauen“.
Für ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger ist das die große Chance zum Total-umbau des Konzerns, um ihm eine überlebensfähige Form zu verleihen. Wohin die Reise geht, lässt sich in ersten Umrissen erahnen. Sicher ist das langfristige Ende der Stahlära. Sogar das Hauptstahlwerk in Duisburg-Bruckhausen könnte zur Disposition stehen, wie die WirtschaftsWoche aus Aufsichtsratskreisen erfuhr.
Wie nahe ThyssenKrupp im Rahmen des Umbaus vielleicht sogar an Siemens heranrückt, wo Hiesinger zuvor arbeitete, werden die kommenden Jahre zeigen.
Vor dem großen Wurf muss Hiesinger aber den prominentesten Ruhr-Konzern von der bedrohlichsten Krise seiner Geschichte befreien. Die Verschuldung ist so hoch und das Geschäft so mau, dass intern fast der Ausnahmezustand herrscht.
Desaströses Ergebnis
Der 99-jährige Berthold Beitz sieht sein Lebenswerk in Gefahr, das Erbe von Alfried Krupp. Als dieser 1967 starb, war Beitz dessen Testamentsvollstrecker geworden und hatte geschworen, den ThyssenKrupp-Vorgänger, die „Firma Krupp“, zu stärken und zu kräftigen. Darum bemüht sich Beitz seit 45 Jahren als Vorsitzender der Krupp-Stiftung unbeirrt: mit desaströsem Ergebnis. Denn viel schlechter als jetzt könnte es um ThyssenKrupp kaum noch stehen. Auf den ersten Blick wirkt die Lage zwar gar nicht so ernst.
Schrumpfendes Stahlgeschäft
„Wir sind für zwei Jahre durchfinanziert“, beruhigt ein ThyssenKrupp-Top-Manager. Insofern gebe es „keinen Grund zur Sorge“: Fremdmitteln von 5,8 Milliarden Euro steht ein Eigenkapital von 9,1 Milliarden Euro gegenüber, die Eigenkapitalquote liegt noch bei 20 Prozent. Doch die vermeintlich gesunde Relation steht nur auf dem Papier. Denn zu dem Eigenkapital von 9,1 Milliarden Euro zählen die neuen, aber unwirtschaftlichen Stahlwerke in Brasilien und den USA. Die beiden Verlustbringer, von denen sich ThyssenKrupp trennen will, stehen mit sieben Milliarden Euro in der Bilanz.
Dieser Wert, so die Erkenntnis des Führungstrios Hiesinger, Cromme und Beitz, dürfte viel zu hoch angesetzt sein. „Es könnte beim Verkauf auf deutlich unter drei bis vier Milliarden Euro hinauslaufen“, sagt ein Aufsichtsrat, „vielleicht sogar auf nur ein bis zwei Milliarden Euro.“ Das bedeute einen „immensen Abschreibungsbedarf von vier, fünf oder im schlimmsten Fall sechs Milliarden Euro“, heißt es aus Aufsichtsratskreisen. Die Folgen könnten ThyssenKrupp strangulieren. „Wenn das eintritt, könnten die Banken neue Sicherheiten verlangen“, warnt ein mit dem Konzern vertrauter Anwalt.
ThyssenKrupp: Umsätze und Auftragseingänge nach Sparten
Umsatz* (in Mrd. Euro): 14,7
Auftragseingang**: -10%
* Geschäftsjahr 2010/11; ** 3. Quartal 2011/12zum Vorjahr; Quelle: ThyssenKrupp
Umsatz* (in Mrd. Euro): 7,0
Auftragseingang**: + 5%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 1,5
Auftragseingang**: + 461%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 4,0
Auftragseingang**: - 12%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 5,2
Auftragseingang**: - 15%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 1,4
Auftragseingang**: + 90%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 6,1
Auftragseingang**: - 15%
Das schwierige Geschäft und die neuen Eigenkapitallücken dämpfen die Aussichten der Aktie. Dennoch ist der Konzern, gemessen am hohen Geschäftsvolumen, inzwischen günstig bewertet. Für mutige Käufer ist die Aktie eine Turn-around-Spekulation (siehe Grafik in der linken Spalte).
Damit begänne ein Countdown mit absehbarem Ende. Bisher sind Beitz und Ziehsohn Cromme, der im Februar 70 wird und als Nachfolgekandidat im Stiftungsvorsitz gilt, meist erst zur Hochform aufgelaufen, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Doch nun droht die Wand einzustürzen. Nicht nur die Finanzkraft von ThyssenKrupp schmilzt wie Erz im Hochofen. Auch der traditionelle Kern des Konglomerats ist mittlerweile faul. Die Aufträge gehen zurück (siehe Grafik ).
Im deutschen Stahl-Stammgeschäft in Duisburg und beim als Hoffnungsträger deklarierten Anlagenbau (Errichtung von Zementwerken und Chemieanlagen) sind es zweistellige Prozentzahlen. Anlagenbau, Aufzüge und der Marineschiffbau gelten als künftiges Kerngeschäft von ThyssenKrupp. Vor allem das Stahlgeschäft – die Urzellen der 1999 fusionierten Ruhrkonzerne Thyssen und Krupp – droht das Unternehmen in den Abgrund zu reißen: Im um gut 20 Prozent schrumpfenden amerikanischen Stahlmarkt verliert ThyssenKrupp mit seinen Werken pro Quartal 150 bis 300 Millionen Euro.
Analysten erwarten eine weitere Abschwächung des Marktes. Zugleich drohen Schandtaten an den Konzernfinanzen zu nagen. Wegen Kartellabsprachen im Geschäft mit Bahnschienen zwischen ThyssenKrupp und dem österreichischen Stahlhersteller Voestalpine will die Deutsche Bahn die Essener auf Schadensersatz verklagen. Zwar hat die Bahn signalisiert, sich auch außergerichtlich einigen zu wollen.
Zur Debatte stehen 500 Millionen Euro. Kommt es zu einem Vergleich, dürfte an ThyssenKrupp mindestens die Hälfte hängen bleiben. Weitere Geschädigte – das städtische Düsseldorfer Nahverkehrsunternehmen Rheinbahn sowie Ruhrgebietskommunen – schätzen ihren Schadensersatzbedarf vorerst auf 71 Millionen Euro. Abschließende Rechnungen werden 2013 präsentiert.
Was alles verkauft werden soll
Dabei wird es für Hiesinger und die Nachfolger seiner gefeuerten Vorstandskollegen nicht leicht, schnell Kasse zu machen, um ThyssenKrupp vor dem Kollaps zu bewahren. Neun Interessenten haben sich dem Vernehmen nach gemeldet, um das brasilianische oder das amerikanische Stahlwerk zu kaufen. Zu ihnen gehören aus Brasilien der Stahlkonzern CSN und der Erzförderer Vale sowie der Stahlkocher US-Steel.
Lange Verkaufsliste
Was von den neun bisher als Angebot durchsickerte, wäre für ThyssenKrupp eine Katastrophe. Kolportiert wird ein Betrag von nur einer Milliarde Euro für beide Werke. Für diesen Betrag werde ThyssenKrupp aber nicht verkaufen, sagt ein Insider. Schon wird im Vorstand die radikale Alternative erwogen, die Stahlwerke herunterzufahren, einzumotten oder abzureißen.
Bessere Chancen, schnell Geld zu bringen, haben die anderen Kandidaten auf Hiesingers und Crommes Verkaufsliste. So soll der Bagger-Radlagerhersteller Berco nach Angaben von Aufsichtsratskreisen Anfang 2013 verkauft werden.
Auf einen dicken Batzen hofft die ThyssenKrupp-Spitze auch durch den Verkauf des Stoßdämpferherstellers Bilstein. Vorher allerdings will Hiesinger noch kräftig investieren, um den Autozulieferer möglichst teuer zu machen. „Wir haben den Fehler gemacht, abzuwarten, bis die schlecht laufenden Teilbereiche nichts mehr wert sind“, sagt selbstkritisch ein ThyssenKrupp-Manager. Auch der Lenksäulenproduzent Presta gehört zu den Schätzen, von denen sich der Konzern nun schnell trennen will oder muss. Nach Analystenschätzungen könnten Presta und Bilstein je eine Milliarde Euro einbringen.
Für Hiesinger ist die Verkaufsorgie aber nur Vorgeplänkel für den ganz großen Befreiungsschlag. Deshalb hat er seine neueste Vorlage bisher nur ausgewählten Aufsichtsräten und Vorständen gezeigt. Zur Debatte steht die Zukunft des deutschen ThyssenKrupp-Hauptstahlwerks in Duisburg-Bruckhausen, einem Industriekomplex, in dem 20 000 Stahlarbeiter im Dreischichtbetrieb Stahl schmelzen. Die Anlagen haben in Boomzeiten hohe Gewinne eingefahren, im Auf und Ab der Konjunktur aber unter dem Strich geschadet.
Aus diesem Grund hat Hiesinger einen Plan entwickelt, den er überschrieben hat mit „Let’s go to the Next Chapter“ – lasst uns ein neues Kapitel aufschlagen. Der Zeitplan steht fest. „Bis Juni 2013 soll über die Zukunft der deutschen Stahlproduktion entschieden werden, alle Lösungsmöglichkeiten und Alternativen kommen bis dahin auf den Tisch“, sagt ein Eingeweihter.
Verlagerung des Kerngeschäfts
Ein heißeres Eisen könnte Hiesinger kaum anfassen. Bis heute erinnert sich jeder altgediente Manager im Konzern an die bittere Schließung des 1908 gegründeten Krupp-Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen 1988. Es kam fast zu Straßenschlachten vor den Toren der Hütte, die Cromme auf Geheiß von Beitz dichtmachte. Krupp wollte den Flachstahl nicht mehr – und bekam ihn wieder, als Krupp mit Thyssen fusionierte. Cromme versuchte, die gemeinsame Stahlsparte an die Börse zu bringen, musste das Projekt aber auf Druck der Gewerkschaften und der stahlverliebten Thyssen-Fraktion fallen lassen.
Aber die Abneigung gegen den Stahl hat Cromme und Beitz nie verlassen. Umso unverständlicher war es, dass sie dem Bau der Stahlwerke in Süd- und Nordamerika zustimmten und damit das aktuelle Desaster auslösten. Hiesinger hat als Ex-Siemens-Mann und gebürtiger Schwabe keine emotionale Beziehung zum Stahl.
Cromme und Beitz trugen alles mit...
In einer Sondersitzung am 20. November versuchte der ThyssenKrupp-Aufsichtsrat erneut, die Verursacher des Milliardendesasters bei den Stahlwerken in Brasilien und Alabama (USA) auszumachen.
Die Kontrolleure unter Gerhard Cromme beriefen sich auf einen internen Bericht, nach dem Antworten des gesamten früheren Vorstands auf Fragen des Aufsichtsrates „unvollständig und teilweise falsch“ gewesen seien. Damit sprach sich Cromme frei.
Seit 2007 hatte sich aber abgezeichnet, dass die Baukosten der Stahlwerke „erheblich vom Plan abweichen“, wie es in einer Aufsichtsratsvorlage heißt. Cromme und Beitz zogen dennoch nicht die Notbremse. Schuld an Fehlentwicklungen im Konzern seien, so ein früherer Manager, „immer die anderen.“
Die Chancen der Gewerkschafter, Cromme und Hiesinger von ihrem Plan abzubringen, sind gering. ThyssenKrupp-Manager berichten, Hiesinger sei bereit, alle Register zu ziehen, um ThyssenKrupp unabhängiger vom schwankenden Stahlgeschäft zu machen: von der Auslagerung in eine Teilgesellschaft bis zum teilweisen oder vollständigen Börsengang.
Den Nukleus des künftigen Konzerns sollen das lukrative Aufzugsgeschäft, der Anlagenbau und Teile des Komponentengeschäfts (Kurbelwellen) bilden. Das hat Hiesinger intern verkündet. Das Aufzugsgeschäft soll technisch aufgemöbelt werden. Dabei steht Siemens, mit dem sich ThyssenKrupp den Chefaufseher Cromme teilt, parat: Da in Asien und den USA mehr Aufzugssysteme mit integrierter Zugangs- und Sicherheitskontrolle nachgefragt werden, die ThyssenKrupp nicht anbietet, üben die Essener engen Schulterschluss mit den Siemensianern. Die bei der Gebäudetechnik das elektronische Know-how beherrschen. Hiesinger war mal Chef dieser Siemens-Sparte.
Seit voriger Woche ist klar, dass der Schnitt an der Spitze die Machtverhältnisse zugunsten von Hiesinger verschoben hat. Cromme muss sich als geschwächt betrachten. Denn zerrissen ist nun die unselige Kette, die von Beitz über Cromme und dessen Kommunikator Claassen bis zu Hiesinger reichte und diesen einschnürte. Wer auch immer aus dem Konzern Claassens teure Auslandsreisen an die Öffentlichkeit brachte: Damit zerstörte er das entscheidende Glied dieser Kette. Claassen war einst Krupp-Direktor und dann Büroleiter von Cromme, bevor er vor zwei Jahren in den ThyssenKrupp-Vorstand berufen wurde.
Der Lohn war Cromme und seinem Gönner Beitz gewiss. Jeden Montag erstattete Claassen in Beitz’ Villa über dem Essener Kruppwald Bericht über das innere und äußere Erscheinungsbild von ThyssenKrupp.
Die Schuldfrage
Damit war Claassen zugleich Beitz’ und Crommes Horchposten im Konzern und eine Art Dauerkontrolleur von Hiesinger. Zudem saß Claassen bis vor vier Jahren im Aufsichtsrat des ThyssenKrupp-Teilkonzerns Steel. In dieser Funktion verfolgte er die Fehlinvestitionen in Brasilien und den USA, ohne dass er, Cromme und Beitz diese verhinderten.
Wer war Schuld?
Eine ThyssenKrupp-interne Untersuchung soll nun bis Anfang 2013 Aufschluss über Details dieser Verfehlungen, die Verantwortlichen und ihre Mitwisser bringen. Des Weiteren hat der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats in einer Sitzung am 20. und 21. November beschlossen, weitere aktien- und strafrechtliche Gutachten über mögliche Managementfehler, Falschinformationen und Fahrlässigkeiten beim Bau der Stahlwerke in Auftrag zu geben. Das erste Gutachten dazu, verfasst von der Anwaltskanzlei Linklaters für Cromme im Januar 2012, stellte keine gravierenden Fehler des Aufsichtsrates fest.
Nun müssen die Herren von heute und damals noch einmal eine Untersuchung über sich ergehen lassen. „Die Führungsmannschaft war noch nie so aufgewühlt“, sagt ein Manager. Gespannt sind die ThyssenKruppianer vor allem, ob Cromme die neue Untersuchung wieder mit reiner Weste überstehen wird.Beobachtern fällt nämlich auf, dass Hiesinger seit Herbst häufiger zum Krupp-Stiftungssitz Villa Hügel fährt, um mit Beitz zu sprechen – auch ohne Cromme. „Das gab es früher nie“, wundert sich ein Kruppianer.
Und noch etwas sorgt für Staunen: Auch Beitz geht offenbar stille Wege. So habe er auf der Kuratoriumssitzung der Stiftung im September die Arbeit des Kuratoriumsmitgliedes Susanne Henle sehr gelobt. Sie mache hervorragende Arbeit, wird Beitz von einem Teilnehmer zitiert. Henle ist nicht irgendwer, sondern Beitz’ Tochter, die er ohne öffentliches Aufheben im Januar 2012 an seine Seite ins Kuratorium berief.
Dort sitzt die 65-Jährige nun neben Cromme, der seit Jahren als designierter Beitz-Nachfolger gilt. Doch Worte sind vergänglich wie die Menschen selbst. Und schon spekulieren altgediente ThyssenKrupp-Manager: Sollte Cromme weitere Fehler machen, könnte sich Beitz jemand anderes als Nach- folger vorstellen: die geborene Beitz. Immerhin wäre diese fünf Jahre jünger als Cromme.