Die Digitalisierung der Industrie in allen Abläufen ist seit langem ein großes Versprechen. Denn es winken enorme Produktionsgewinne und die Möglichkeit, individuelle Produkte zu Kosten einer Massenfertigung herzustellen. Eher sporadisch wurde all das bislang umgesetzt: hier eine sich selbst korrigierende Maschine, dort eine Fertigungsstraße oder Teile einer vernetzten Fabrik.
Dabei ist es mittlerweile fünf Jahre her, dass der Begriff der „Industrie 4.0.“, also die Idee einer vernetzten Arbeitswelt, in Deutschland geprägt wurde. Nun kommt die „Vierte Revolution“ tatsächlich in den Fabrikhallen an.
Einer der Vorreiter in diesem Bereich ist der Technologiekonzern Siemens: Die Münchener gelten als weltweit führender Automatisierungsspezialist. Auf der Hannover Messe stellen sie eine industrielle IT-Plattform vor, die digital die ganze Fertigungskette abbilden kann. Sie soll für einen kräftigen Schub in Sachen Digitalisierung in den Fabriken sorgen. „Mit Digital Enterprise haben wir den Anspruch, Standards zu setzen“, sagt Klaus Helmrich. Der Industrievorstand von Siemens ist davon überzeugt: „Die Technik ist da, erste Implementierungen sind erfolgt – der Durchbruch findet jetzt statt.“
Davon kann sich auch Angela Merkel überzeugen. Die Bundeskanzlerin eröffnet mit US-Präsident Barack Obama an diesem Sonntagabend die Industrieschau. Gut hundert einsatzbereite 4.0-Lösungen präsentieren die Aussteller. „Integrated Industrie-Discover Solutions“ lautet daher auch das diesjährige Motto in Hannover.
„Der Breiteneffekt setzt ein“, sagt Frank Riemensperger, Deutschlandchef des Beratungsunternehmens Accenture. „Es gibt immer mehr Bausteine, die miteinander verbunden werden.“ So hat der Maschinenbauer Trumpf kürzlich angekündigt, in fünf Jahren seine komplette Produktion mit Hilfe von digitalen Prozessen steuern zu wollen. Dann seien die Industrie-4.0-Konzepte durchgängig eingesetzt und wirksam, sagte der für den Werkzeugmaschinenbereich zuständige Geschäftsführer Mathias Kammüller. Bis sich der technische Fortschritt in der gesamten Industrie durchsetzt, werde es allerdings noch dauern.
Die Entwicklung der Industrie
Industrieära: 1784
Technologische Revolution: Mechanische Produktion mit Wasser-/Dampfkraft
Transformatorischer Wandel: Substitution von Arbeit durch Kapital,; Prozessstabilität und Geschwindigkeit
Quelle: "Digital Industry – Connecting the Dots" von Oliver Wyman
Industrieära: 1870
Technologische Revolution: Elektrisch betriebene Massenproduktion
Transformatorischer Wandel: Arbeitsteilung ("Taylorismus"); Durchgängigkeit von Prozessen
Industrieära: 1969
Technologische Revolution: Produktionsautomatisierung durch Elektronik und IT
Transformatorischer Wandel: Business Process Reengineering; Prozessqualität und Lean
Industrieära: heute
Technologische Revolution: Digitalisierung durch cyber-physische Seyteme, Vernetzung und Big Data
Transformatorischer Wandel: "Digitale Industrie"; Die technologische Revolution schafft die Voraussetzung für die Hebung des wahren Werts durch Prozessverbesserung
Auch die Berater von PWC sehen einen qualitativen Sprung nach vorne. „Die Umsetzung ist in vollem Gange – und das weltweit“, heißt es in der jüngsten Studie zu diesem Thema. „Unternehmen versprechen sich von der Digitalisierung enorme Vorteile und investieren entsprechend hohe Summen“, sagte Reinhard Geissbauer, Leiter Industry 4.0 bei Strategy&. „Selbst wenn sich nur die Hälfte der daran geknüpften Erwartungen erfüllt, wird Industrie 4.0 die Wettbewerbslandschaft in den kommenden fünf Jahren grundlegend verändern.“
Daten sind die neue Währung
So wie der digitale Kartendienst Here als Plattform der Autoindustrie für das autonome Fahren ausgebaut wird, soll die Siemens-Plattform Digital Enterprise die Basis für die Fabrikautomation der Zukunft sein. Erstmals stehe die Technologie für die Digitalisierung entlang der ganzen Kette – von der Entwicklung eines Produkts über die Planung der Fertigung bis zur automatisierten Produktion und der Generierung neuer Geschäftsmodelle – durch die Nutzung der gewonnenen Daten zur Verfügung.
„Wir gehen jetzt in die Erfolgskurve rein“, sagt Helmrich. Getrieben werde die Entwicklung vom immer größeren Kundenwunsch nach individualisierten Produkten. „Die großen Unternehmen stellen sich die Frage, wie sie diese Komplexität beherrschen können. Das funktioniert nur, wenn ich die industrielle Welt digital auf einer Plattform beschreiben kann“, sagt Helmrich. „Seit 15 Jahren arbeiten wir nun daran.“
Auch Bosch hat inzwischen mit IoT Suite eine branchenübergreifende Plattform entwickelt, die in den Bereichen Mobilität, Produktion oder im Gebäudemanagement eingesetzt werden kann. Schon heute sind mehr als fünf Millionen Geräte und Maschinen an die IoT Suite angeschlossen. Mit ihren Plattformen bieten Bosch und Siemens vor allen den großen amerikanischen IT- und Softwarekonzernen die Stirn. „Das ist der Rollout in der Fläche“, sagt Experte Riemensperger dazu.
Der Kampf um den Zugang zum Endkunden
Für Riemensperger ist das der richtige Weg. „Den Plattform-Wettlauf zu gewinnen, wird entscheidend sein“, sagt er. „Denn wer die Kontrolle über die Plattform hat, hat auch die die notwendigen Daten für die neuen Geschäftsmodelle.“ Denn Daten sind die neue Währung in der künftigen digital gesteuerten Industrie, ermöglicht doch deren Analyse eine höhere Effizienz, bessere Qualität der Produkte und eine Verringerung der Ausfallzeiten der Maschinen.
Die Entwicklung solcher Plattformen ist entscheidend, weil sie sowohl eine völlige Digitalisierung innerhalb der Produktion, als auch die durchgehende Vernetzung mit Kunden und Zulieferern möglich machen. Da schon beim virtuellen Design von Maschinen und Anlagen das Thema Sicherheit ganz oben auf der Agenda steht, dürfte die Akzeptanz solcher Lösungen beflügeln.
Wo die Maschine den Mensch ersetzt
Die folgenden Branchen und Berufe werden laut der Studie "The future of employment" von Forschern der Oxford University mit hoher Wahrscheinlichkeit in einigen Jahren von Automatisierung erfasst werden – in Gestalt von Maschinen, Robotern oder Programmen, ganz oder in Teilen.
- Taxifahrer
- Chauffeure
- Busfahrer, allgemeine Beförderung, U-Bahnen
- Kuriere
- Piloten
Quelle: The future of employment, Oxford University
- Schwertransporte
- Lokführer
- Kranführer
- Baggerfahrer
- Logistiker, Disponenten, Lagertätigkeiten
- Analysten
- Finanzmathematiker
- Buchhaltung/Rechnungswesen
- Steuerberater
- Controller
- gefährliche Berufe
- Arbeiter in Diamant- und Metallminen
- Buchhaltung/Rechnungswesen
- Konstruktion, Wartung, Reparatur, Installation
- Verpackungswesen
- Uhrreparaturen
- Controller
- Laborarbeiten
- Diagnostik
- Biologen
- Pflegekräfte
- Operateure in der Medizin
- Bedienungen
- Call-Center (alle Bereiche), Telefonagenten
- Makler
- Landschaftsgärtner
- Parkwächter
- Düngen, Säen, Ernten
- Einzelhandel: Verkäufer, Kassierer
- Journalisten (Teile der Sportberichterstattung, Roboterjournalismus)
- Anwälte, Anwaltsgehilfen
- Berufe in Hotels und Großküchen
- Bibliothekare
- Straßenbau
Dass ausgerechnet ein deutscher Konzern eine solche Plattform anbietet, dürfte vor allem den Wünschen des deutschen Mittelstands entgegenkommen. Der hatte in der Vergangenheit oft zu zögerlich die Chancen der Digitalisierung genutzt. Sorgen über den Schutz und die Sicherheit von Daten waren oftmals stärker als der Antrieb, in vernetzte IT- und Software zu investieren. Über allem schwebte die Angst, dass vor allem US-Konzerne aus dem IT-und Softwarebereich solche Plattformen anbieten würden, um eigene Geschäfte mit den Daten zu machen.
Wie sehr US-Konzerne darauf erpicht sind, an Maschinendaten zu kommen, machte vergangene Woche Thyssen-Krupp-Chef Heinrich Hiesinger deutlich. Er schilderte die sich über ein halbes Jahr hingezogenen Verhandlungen mit Microsoft über eine Kooperation im Bereich vorausschauende Wartung von Aufzügen.
Allein die Diskussion darüber, wer die Daten der in den Aufzügen verbauten Sensoren auf welche Weise nutzen darf, habe länger gedauert, als sich über die technischen Details zu verständigen, sagte der Thyssen-Krupp-Chef. „Der Kampf, wer den Zugang zum Endkunden hat, wird meist noch unterschätzt. Wir müssen sicherstellen, dass uns andere nicht von unseren Kunden abschneiden.“ Im Fall der Aufzugskooperation bedeutet das, dass die Essener die Hoheit über die Daten seiner Aufzüge behält, die nun digital verschlüsselt verwendet werden, um unbefugtes Mitlesen zu verhindern.
Helmrich weiß um die Nöte zahlreicher Industriekunden und legt deshalb Wert darauf, den offenen Charakter von Digital Enterprise zu betonen. So biete die Siemens-Plattform die Möglichkeit, dass Kunden zum Beispiel auch selbst entwickelte Apps andocken können. „Wir steigen nicht in einen Wettbewerb mit unseren Kunden ein. Wir bieten eine Plattform, auf der die Kunden mit ihren eigenen sowie externen Daten Geschäftsmodelle entwickeln können“, sagt Helmrich. „Du behältst Deine Daten und wir liefern Dir die Infrastruktur dafür“ – so werde man an die Kunden aus dem Maschinenbau und der Elektrotechnik herantreten. Auch die Bosch-Plattform ist offen, Geräte und Maschinen lassen sich herstellerübergreifend vernetzen.
Die Folgen von Industrie 4.0 für die Branchen in Deutschland bis 2025
Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 13 %
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 2-5 %
Produktivitätssteigerungen: 7-11 %
Zahl der Arbeitsplätze: 95.000
Jährlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: + 0,9 %
Quelle: Boston Consulting Group
Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 22 %
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 2-3 %
Produktivitätssteigerungen: 6-9 %
Zahl der Arbeitsplätze: 50.000
Jährlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: + 0,2 %
Quelle: Boston Consulting Group
Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 10 %
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 2-3 %
Produktivitätssteigerungen: 5-10 %
Zahl der Arbeitsplätze: 15.000
Jährlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: + 0,8 %
Quelle: Boston Consulting Group
Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 55 %
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 1-2 %
Produktivitätssteigerungen: 4-7 %
Zahl der Arbeitsplätze: 230.000
Jährlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: + 0,6 %
Quelle: Boston Consulting Group
Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 2 Billiarden Euro
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 20-40 Milliarden Euro
Produktivitätssteigerungen: 90-150 Milliarden Euro
Quelle: Boston Consulting Group
Für Branchenexperten ist das der richtige Weg: „Es muss zwingend eine offene Lösung sein, die über Apps steuerbar ist“, sagte Daniel Küpper von der Beratungsgesellschaft BCG. Das Motto müsse sein: „Ich kaufe mir die Lösung, die ich brauche.“
Entscheidend wird es nach seinen Worten nun sein, dass die Unternehmen neue datengetriebene Services und Dienstleistungen entwickeln. Siemens biete dafür Mindsphere, eine Plattform auf Basis von SAP Hana, die Produkte und Fabriken mit digitalen Daten verzahnt. Siemens geht dabei mit einem Startvorteil ins Industrie 4.0-Zeitalter. Die Simatic-Automatisierungstechnik ist in zahlreichen Fabriken in fast allen Branchen in der Welt verbaut. „Wir haben eine Automatisierungskompetenz, die weltweit führend ist“, sagte Helmrich. Zudem ist der Konzern Weltmarktführer bei Industriesoftware. Als einziger Anbieter decke Siemens die gesamte Kette ab.
Die deutsche Position ist nach Einschätzung Helmrichs stark. „4.0 gibt der deutschen Industrie weltweit eine einzigartige Aufmerksamkeit.“ Niemand verstehe die industriellen Prozesse so gut. Vor allem die großen Konzerne seien sich der Bedeutung des Themas bewusst. „Unsere großen Kunden haben das auf ihrem Innovationsradar.“ Auch die Mittelständler verstünden inzwischen, dass sie vor allem durch Software ihre Produkte stärker vom Wettbewerb differenzieren könnten. Helmrich geht deshalb davon aus, dass sich Digital Enterprise schnell als industrieller Standard durchsetzen wird. „Man muss realistisch sein, es kann schon noch zwei bis drei Jahre dauern. Aber dann kann es auch sehr schnell nach oben gehen.“