VW-Digitalisierung nach Dieselgate Aus dem Autokonzern wird eine Großbaustelle

Der Mitfahr-Dienst Gett soll dazu beitragen, aus dem Autohersteller einen Mobilitätskonzern zu machen. Volkswagen verspricht sich in den nächsten Jahren Umsätze in Milliardenhöhe.

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Matthias Müller (l), Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, und Shahar Waiser, Gründer und Chef des Fahrten-Vermittlers Gett. Quelle: dpa

Berlin Passender hätte die Symbolik nicht sein können. Unter den Linden in Berlin ist ein großer Bagger unterwegs, die U-Bahn wird in der Innenstadt um ein weiteres Stück verlängert. Und das genau vor der Konzernrepräsentanz von Volkswagen, aktuell ebenfalls eine ziemlich große Baustelle. Neue Strategie für die nächsten zehn Jahre, ein möglicher Stellenbau, Elektroantriebe und die Digitalisierung – manchem kommt es in Wolfsburg so vor, als ob dort auch gerade ein neuer Tunnel für die U-Bahn errichtet würde. Vor allem nach der Dieselaffäre.

In der Konzernrepräsentanz in Berlin hat sich an diesem Mittwoch hoher Besuch angekündigt. Vorstandschef Matthias Müller ist da. Er will dort die neue Kooperation mit dem amerikanisch-israelischen Uber-Konkurrenten Gett präsentieren. Auch Shahar Waiser, der Gett-Gründer, ist nach Berlin gekommen, um zusammen mit dem VW-Chef die großen Neuigkeiten zu verkünden.

Gett und dessen Mitfahr-App sollen für den Wolfsburger Konzern ein wichtiger Baustein beim Umbau des Unternehmens zum  Mobilitätsanbieter werden. Bis zum Jahr 2025 will sich VW-Chef Müller dafür Zeit nehmen. Volkswagen soll nicht mehr ausschließlich nur ein Produzent von Autos und Lastwagen sein, sondern Mobilität in jeder Form anbieten. Gett ist dabei einer von mehreren Bausteinen, mit denen VW genau diesen Umbau zum Mobilitätskonzern begonnen hat.

Müller ist an diesem Nachmittag der Visionär, der seine Zuhörer in die neue Welt der Mobilität führt. Weniger Menschen werden ein eigenes Auto haben. Sie rufen über eine App wie von Gett einen Wagen, der sie an das gewünschte Ziel bringt. In zehn Jahren kommt vielleicht schon ein selbstfahrendes Auto, ganz ohne Chauffeur.

Für Müller ist die Beteiligung an Gett „ein erster Schritt, auf den wir stolz sind“. Gett stehe auch in Europa für einen wachsenden Markt, der in ganz Europa bis 2025 auf einen Jahresumsatz von zehn Milliarden Euro anwachsen könne. Der VW-Chef gibt sich überzeugt, dass die ersten Gett-Fahrzeuge schon in kurzer Zeit auch in deutschen Großstädten unterwegs sein werden. Volkswagen will dem Mitfahrdienst dafür natürlich auch die nötigen Autos liefern. 

300 Millionen US-Dollar nimmt Volkswagen in einem ersten Schritt für die Kooperation mit Gett in die Hand. Zunächst geht es um eine erste Zusammenarbeit beider Unternehmen, aus der später noch viel mehr werden könnte. Sicherlich denkt schon der eine oder andere in Wolfsburg an eine komplette Übernahme. Doch bei  Gett möchte im Moment niemand davon etwas wissen.

Gett-Gründer Shahar Waiser lobt den Volkswagen-Konzern für seinen weisen Schritt, beide Seiten würden nun von der neuen Kooperation profitieren. VW bekomme eine Technologie an die Hand, von der der Autokonzern auf jeden Fall dauerhaft  profitieren werde. „Bei uns haben die Fahrer alle eine Lizenz“, betont er. Auch Sicherheit werde großgeschrieben. Das verhindere den Ärger mit den Taxi-Gewerkschaften, den es beim großen Konkurrenten Uber gibt.

Der neue VW-Partner Gett ist ein typisches Start-up-Unternehmen, das vor wenigen Jahren kaum jemand kannte. Die Firma mit der Mitfahr-App ist bislang nur in den USA, Großbritannien, Russland sowie Israel vertreten und damit deutlich kleiner als der große Konkurrent Uber.


Konzerntöchter tragen zum Umbau des Konzerns bei

In London hat sich Gett einen Namen durch eine Kooperation mit den schwarzen Taxis („Black Cabs“) gemacht. In New York hat das Unternehmen mit seinem Pauschalpreis von zehn Dollar pro Fahrt erfolgreich Uber herausgefordert. Gett setzt moderne Bezahl-, Ortungs- und Bestellsysteme ein, die in einem späteren Schritt als Weiterentwicklung auch bei selbstfahrenden Autos eingesetzt werden können. Den Ärger mit den Taxi-Gewerkschaften erspart sich Gett-Chef Waiser, weil in seinem Unternehmen nur Fahrer mit Lizenz zugelassen sind.

Volkswagen ist natürlich nicht der einzige Automobilkonzern, der inzwischen die wachsende Bedeutung der Mobilitätsidee für sich erkannt hat. Unzählige Staus und die lange Suche nach einem Parkplatz verleiden besonders jüngeren Menschen den Spaß am Auto. Prestigeobjekt ist das eigene Fahrzeug bei vielen Städtern schon lange nicht mehr. Ihnen ist es egal, wie sie von A nach B kommen.

Auch General Motors (GM) setzt auf Mobilität und war mit seiner Beteiligung fast ein halbes Jahr schneller als VW. Mit 500 Millionen Dollar hat sich GM bei Lyft eingekauft, hinter Uber die Nummer zwei in den USA. Uber wiederum hat in der vergangenen Woche ebenfalls einen sehr bekannten Namen aus der Autobranche als Kooperationspartner für sich gewinnen können: Toyota aus Japan kann und will auf einen Mitfahr-Dienst auch nicht mehr verzichten. Nissan-Renault arbeitet ebenfalls seit einigen Wochen an einem Mobilitätsprojekt. Der französisch-japanische Konzern wirbt dafür zu Hunderten IT-Ingenieure aus dem Silicon Valley ab.

Auch die Konkurrenz in Deutschland schläft nicht. Der Daimler-Konzern und BMW haben intelligente  Varianten von Autovermietungen an den Start gebracht, Car2go und Drive Now sind in den deutschen Großstädten zu einem festen Begriff geworden.

Volkswagen ist sicherlich durch die Dieselaffäre erst richtig aufgewacht. Aber immerhin, es passiert etwas: Schon an mehreren Stellen – und nicht nur mit Gett – wird im Wolfsburger Konzern an der Mobilitätsidee gearbeitet. VW richtet dafür neue Zukunftsschmieden ein, sogenannte „Future Center". An drei Standorten in Potsdam, im Silicon Valley und in China entstehen die drei digitalen Zentren des VW-Konzerns. Designer und IT-Experten sollen dort am Auto der Zukunft arbeiten.

Auch die Konzerntöchter werden zum Umbau des Konzerns beitragen. Porsche hat vor wenigen Tagen eine Digital-Tochter gegründet, die am Auto der Zukunft basteln darf. Dazu gehören Autos, die selbstständig nach Parkplätzen suchen, autonomes Fahren und Sprachsteuerung. Zur Neuausrichtung bei VW passen auch neue umweltfreundliche Antriebe: Audi in Ingolstadt dürfte im Konzern die Verantwortung für die Brennstoffzelle bekommen.

Schließlich gibt es bei Volkswagen seit November vergangenen Jahres noch Johann Jungwirth. Konzernchef Müller hat ihn als Chief Digital Officer bei Apple abgeworben. Zuvor arbeitete der 42-Jährige auch bei Daimler, kennt dadurch also IT- und Auto-Branche gleichermaßen. Jungwirth soll den digitalen Umbau bei Volkswagen steuern und das Unternehmen fit für die Zukunft machen. Jungwirth ist direkt Müller unterstellt – ein Garant dafür, dass seine Ideen sehr schnell umgesetzt werden sollen.

Der Einstieg bei Gett ist mit großer Sicherheit auch durch die Hände von Jungwirth gegangen. Was er für richtig hält, hat in Sachen Digitalisierung eine Zukunft bei Volkswagen. Und natürlich ist der Zeitpunkt der Gett-Beteiligung völlig richtig. „Perfektes Timing“, freut sich „JJ“, wie er wie selbstverständlich im Kollegenkreis genannt wird.

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