Katerstimmung in den Chefetagen nach dem Brexit: Die deutsche Wirtschaft ist fassungslos über das Votum der Briten, die für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben. Die Industrie fürchtet harte und unmittelbare Folgen für den Handel mit der Insel. Dort arbeiten fast 400.000 Beschäftigte in Niederlassungen deutscher Firmen. „Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor“, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, am Freitagmorgen.
Auch die Exportwirtschaft sprach von einer Katastrophe für Großbritannien, Europa und Deutschland. „Es ist bestürzend, dass die älteste Demokratie der Welt uns den Rücken kehrt“, meinte der Chef des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner. „Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
Nach Einschätzung der Industrie wird der Brexit sich direkt negativ auf die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich auswirken. „Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes BDI, Markus Kerber. Die Beschäftigten in deutschen Niederlassungen stünden vor unsicheren Zeiten. Besonders betroffen vom Brexit seien die Branchen Auto, Energie, Telekom, Elektronik, Metall, Einzelhandel und Finanzen.
Der Brexit ist ein dramatischer Weckruf für alle Europäer – so sieht es zumindest Charles-Edouard Bouée, Chef der Strategieberatung Roland Berger. „Der EU ist es offensichtlich nicht gelungen, eine Mehrheit von Einwohnern in Großbritannien und andernorts von sich zu überzeugen: Sie nehmen die EU offenbar eher als Hindernis wahr als eine Gemeinschaft, die ihre Entwicklung unterstützt“, so der gebürtige Franzose. „Es ist unsere Aufgabe und eine große Herausforderung, die EU wieder zu einem inspirierenden und zukunftsorientierten Projekt zu machen, das auf Unternehmergeist, Innovation und Fortschritt gründet.“ Auf Frankreich und Deutschland käme noch größere Verantwortung zu: „Sie müssen ihre Partnerschaft stärken und gleichzeitig eine Lösung für das künftige Verhältnis mit Großbritannien finden. In beiden Ländern werden 2017 neue Regierungen gewählt: Das kann eine Chance für Europa sein – aber nur, wenn es über Lippenbekenntnisse hinausgeht, sich in Taten ausdrückt und die Menschen auf eine positive Reise mitnimmt.“
Autoindustrie gibt sich gelassen
Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden 810.000 Autos, die in Deutschland vom Band liefen, nach Großbritannien ausgeführt.
BMW reagiert betont zurückhaltend auf die Entscheidung der britischen Wähler. „Die Konsequenzen dieser Entscheidung sind heute noch nicht absehbar. Klar ist, dass nun eine Phase der Unsicherheit beginnt“, teilte der Münchener Autokonzern am Freitag mit. „Wir erwarten jedoch zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf unsere Aktivitäten in Großbritannien.“ BMW baut in England jährlich mehr als 200.000 Minis und Rolls-Royce-Limousinen und beschäftigt dort 24.000 Mitarbeiter. Nach dem Brexit-Votum erklärte BMW, die Bedingungen für den Personen- und Warenverkehr müssten nun neu verhandelt werden. „Bevor die neuen Rahmenbedingungen nicht im Detail definiert sind, können wir uns zu konkreten Auswirkungen auf unsere Aktivitäten in Großbritannien nicht äußern.“
Über Auswirkungen auf die Produktionsstandorte – Oxford, Hams Hall, Swindon und Goodwood – werde der Konzern nicht spekulieren. BMW hat dort rund 2,2 Milliarden Euro investiert. Zudem ist Großbritannien ist für BMW nach China und den USA der drittgrößte Auslandsmarkt. Der Konzern verkauft dort bislang mehr als zehn Prozent seiner Autos – im vergangenen Jahr waren das 236.000 Fahrzeuge.
Auch der weltgrößte Autozulieferer Bosch will seine Investitionen nicht kürzen. „Wir bedauern die Entscheidung für einen Ausstieg Großbritanniens aus dem größten Binnenmarkt der Welt sehr – nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht“, sagt Bosch-Geschäftsführer Volkmar Denner. „Die langfristigen Folgen für die Wirtschaft werden erst nach und nach erkennbar.“ Es sei noch zu früh, konkrete Aussagen zu den Auswirkungen zu treffen. Vorsorgemaßnahmen hat Denner aber trotzdem getroffen: „Beispielsweise haben wir unsere Sicherungsquoten deutlich erhöht, um der Abwertung des britischen Pfundes entgegen zu wirken.“
Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung
Seit mehr als 43 Jahren sind die Briten Mitglied der Europäischen Union. Doch jetzt ist der Austritt beschlossene Sache. Schwierig waren die Beziehungen von Anfang an. Ein Rückblick:
Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt.
Der französische Präsident Charles de Gaulle legt sein Veto gegen eine Mitgliedschaft der Briten in der EWG ein. 1973 tritt Großbritannien schließlich doch bei.
Erst nachdem Premier Harold Wilson die Vertragsbedingungen nachverhandelt hat, sprechen sich die Briten in einem Referendum mit 67,2 Prozent für einen Verbleib in der Gemeinschaft aus.
Mit den legendären Worten „I want my money back“ (Ich will mein Geld zurück) handelt die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Britenrabatt aus. London muss fortan weniger in den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft (EG) einzahlen.
EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit.
Der britische Premier John Major kündigt eine europafreundliche Politik seiner Konservativen Partei an, scheitert damit aber parteiintern. Er handelt aus, dass London nicht am Europäischen Währungssystem teilnimmt.
Der britische Premier Tony Blair gerät mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac über ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ in Streit.
Blair lässt einen EU-Gipfel zum mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union (EU) scheitern, stimmt Monate später aber doch zu und akzeptiert ein Abschmelzen des Britenrabatts.
Mit Inkrafttreten des EU-Vertrages von Lissabon kann London wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkt die britische Regierung den Ausstieg aus mehr als 100 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag.
Der britische Premier David Cameron verweigert seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt.
Cameron droht mit einem Veto bei den Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU.
Cameron kündigt eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU bis spätestens 2017 an. Bis dahin will er die Rolle seines Landes in der EU neu aushandeln und Befugnisse aus Brüssel nach London zurückholen.
London blockiert den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion und lehnt grundsätzlich Doppelstrukturen von EU und Nato ab.
Nach Zugeständnissen der EU kündigt Cameron für den 23. Juni ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU an.
Bei der Volksabstimmung votieren fast 52 Prozent der Briten für den Austritt.
Bosch-Konkurrent Continental gibt sich gelassen. „Die direkten wirtschaftlichen Auswirkungen auf Continental sind voraussichtlich nur begrenzt“, sagte Unternehmenschef Elmar Degenhart. Conti mache derzeit weniger als drei Prozent des Umsatzes in Großbritannien. Als Produktionsstandort hat Großbritannien mit 1400 Mitarbeitern keine große Bedeutung.
Mit Blick auf den Zusammenhalt in Europa sei das Ergebnis aber sehr beunruhigend. „"Jeder für sich" entspricht nicht der Gründungsidee der EU und kann nicht die Antwort auf die Herausforderungen im weltweiten Wettbewerb mit Amerika und Asien sein“, sagte Degenhart.
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern“, sagte VDA-Präsident Matthias Wissmann. Dabei ist der britische Automobilmarkt in hohem Maße auf Importe angewiesen: 86 Prozent der Pkw-Neuzulassungen sind Autos, die nicht in Großbritannien produziert, sondern importiert wurden. Ein Großteil davon kommt aus EU-Ländern.
Gleichzeitig ist UK aber auch exportstark: Von den knapp 1,6 Millionen Autos, die 2015 in Großbritannien gefertigt wurden, gingen gut drei Viertel in den Export. Die anderen EU-Länder sind dabei Hauptabnehmer, gut jedes zweite exportierte Auto (57 Prozent) fand dort seinen Käufer.
Maschinenbau, Chemie und Finanzbranche
Einer der größten britischen Autobauer ist Jaguar-Land-Rover. „Wir werden die langfristigen Auswirkungen und Folgen dieser Entscheidung managen“, sagt Sprecher Chas Hallett. „Für uns oder die Autoindustrie wird sich nichts über Nacht ändern.“ Man werden mit der britischen Regierung daran arbeiten, die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Autoindustrie zu gewährleisten, so Hallett weiter.
Ähnlich optimistisch äußerte sich der Sportwagenbauer McLaren. „Wir ermutigen die politischen Entscheidungsträger, den Prozess der Neuverhandlungen mit der EU zu beschleunigen, damit so schnell wie möglich wirtschaftliche Normalität einkehren kann“, sagt Sprecher Wayne Bruce. Von den Unternehmenszielen will McLaren wegen des Brexits nicht abrücken: „Doch unser kürzlich angekündigter Wachstumsplan bis 2022 bleibt unverändert und wir glauben, dass wir unseren Weg in eine gute Zukunft fortsetzen werden.“
Maschinenbau sorgt sich um einen wichtigen Exportmarkt
Die deutsche Schlüsselindustrie sorgt sich um einen ihrer wichtigsten Exportmärkte. Das Vereinigte Königreich belegte 2015 Rang vier der wichtigsten Ausfuhrländer. Deutsche Maschinenbauer lieferten im vergangenen Jahr Ware im Wert von 7,2 Milliarden Euro nach Großbritannien. Deutschland ist dem Branchenverband VDMA zufolge der wichtigste Lieferant der Briten. 2015 kamen 20,6 Prozent der importieren Maschinen aus der Bundesrepublik.
„Die Entscheidung für den Austritt Großbritanniens aus der EU ist ein Alarmsignal für die Unternehmen“, sagte Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des VDMA. Der Industriestandort Europa werde Vertrauen bei Investoren verlieren. „Und es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden“. Bereits im ersten Quartal seien die Ausfuhren in den viertwichtigsten Auslandsmarkt der deutschen Maschinenbauer um vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken.
Für Siemens-Chef Joe Kaeser sind die Folgen des Votums noch nicht abzusehen. „Dazu ist es zu früh. Europa wird sich durch das Votum aber verändern“, so Kaeser. „Die Einigung Europas ist eine große Erfolgsgeschichte."
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Chemie-Industrie sieht schlechtes Signal für Europa
Die Chemie-Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. „Die deutsche chemische Industrie hat sich stets zur politischen und wirtschaftlichen Einheit der Europäischen Union bekannt“, sagt Ex-Bayer-Chef und heutiger VCI-Präsident Marijn Dekkers. „Daher bedauere ich es sehr, dass die Briten für einen Ausstieg aus der EU gestimmt haben. Gerade jetzt, wo sich die Konjunktur in Europa zaghaft erholt, ist der Austritt ein schlechtes Signal für die weitere wirtschaftliche Entwicklung.“ Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien.
Covestro erwartet durch den Ausgang des britischen EU-Referendums momentan keine großen negativen Folgen für das eigene Geschäft. „Aus heutiger Sicht hat der Brexit nur sehr begrenzte Auswirkungen auf unser Unternehmen“, so der Vorstandsvorsitzende Patrick Thomas. Großbritannien zähle nicht zu den zehn größten Märkten von Covestro, und das Unternehmen sei dort nicht mit eigenen Produktionsstätten vertreten. Allerdings ließen sich die politischen Konsequenzen derzeit nicht abschätzen. „Man muss abwarten, was die kommenden Monate bringen“, so der Manager.
Persönlich betrachtet Thomas als Engländer die Entscheidung seiner Landsleute mit Unverständnis: „In meiner persönlichen Sicht ist das Votum eine große Enttäuschung.“
Finanzbranche hofft auf schnelle Erholung
Nach dem Brexit-Votum brechen Aktien von deutschen und britischen Finanzinstituten ein. Die Papiere der Deutschen Bank und der Commerzbank verloren kurz nach dem Handelsstart am Freitagmorgen jeweils rund 16 Prozent. Die Anteilscheine der Commerzbank fielen vorübergehend auf den tiefsten Stand seit drei Jahren. Die Aktien der Royal Bank of Scotland lagen an der Londoner Börse rund 28 Prozent im Minus, Papiere von Lloyds büßten 22 Prozent ein. Auch der Versicherer Aviva verlor rund 25 Prozent.
Dennoch sind die deutschen Banken zuversichtlich, dass sich die Aktienmärkte rasch erholen. „Die Lage an den Finanzmärkten dürfte sich nach dem ersten Schock rasch beruhigen“, sagte der Präsident des Bankenverbandes, Hans-Walter Peters, der dpa. Die Notenbanken hätten zudem alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um nach dem „schwarzen Freitag“ eingreifen zu können.
Peters geht davon aus, dass die Finanzplätze Kontinentaleuropas wie Frankfurt mittelfristig nach dem Brexit an Bedeutung gewinnen: „Auch wenn Frankfurt zu Lasten der City Marktanteile gewinnen würde, so wäre mir ein politisch geeintes Europa mit dem Vereinigten Königreich weitaus lieber.“ Sparkassen-Präsident Georg Fahrenschon meinte: „Wir brauchen jetzt eine ehrliche Revitalisierung der gemeinsamen europäischen Idee.“
Banken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. „Das ist kein guter Tag für Europa“, sagt der Brite und Deutsche-Bank-Chef John Cryan. „Die Konsequenzen lassen sich noch nicht vollständig absehen. Sie werden aber für alle Seiten negativ sein.“
Cryan sieht die Deutsche Bank jedoch gut darauf vorbereitet, die Folgen des Austritts zu mildern.
„Lassen Sie mich als Brite und Europäer aber noch eines hinzufügen: Ich bin ein überzeugter Anhänger der europäischen Idee“, so Cryan weiter. „Diese hat uns mehr als 50 Jahre Frieden und Wohlstand gebracht. Deshalb schmerzt es mich, dass Europa für viele meiner Landsleute offenbar an Attraktivität verloren hat. Das ist ein klares Signal an die Europäische Union, wieder näher an die Menschen zu rücken und die Demokratie zu stärken.“
Glodman-Sachs-Chef Lloyd C. Blankfein respektiert die Entscheidung. „Wir haben uns bereits seit vielen Monaten auf beide möglichen Ausgänge des Referendums vorbereitet“, so Blankfein in einer Mitteilung. „Unser Hauptaugenmerk bleibt dabei unverändert, den Anforderungen und Bedürfnissen unserer Klienten gerecht zu werden.“
Luftfahrt, Energieunternehmen und IT
Viel steht für die Deutsche Börse auf dem Spiel. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Das Anteilsverhältnis ist schon festgezurrt. Der Deal könnte für den Frankfurter Marktbetreiber nun teuer werden, falls die Londoner Börse wegen des Brexits massiv an Wert verlieren sollte. Wegen des Brexit sei eine Verbindung zwischen Frankfurt und London sogar noch wichtiger, erklärte Deutsche-Börse-Aufsichtsratschef Joachim Faber.
„Wir sind davon überzeugt, dass der beabsichtigte Zusammenschluss von Deutscher Börse und London Stock Exchange durch das Abstimmungsergebnis eine noch höhere Bedeutung für unsere Kunden bekommen hat und sowohl für unsere Aktionäre als auch weitere Stakeholder Vorteile bringen wird.“ Die Aktionäre der LSE sollen am 4. Juli auf einer außerordentlichen Hauptversammlung grünes Licht für die Börsen-Hochzeit geben. Die Deutsche-Börse-Aktionäre haben Zeit bis zum 12. Juli, um das Fusionsangebot anzunehmen.
Deutsche Börse und LSE haben ein Referendums-Komitee installiert, das nun über die Konsequenzen des Brexit für die Fusion beraten wird. Auch die Entscheidung für London als „alleinigem Sitz“ der fusionierten Börse solle dabei noch mal überprüft werden, hatte Faber im Vorfeld des Referendums angekündigt.
Der Betriebsrat der Gruppe Deutsche Börse fordert, dass nach einer Fusion mit der London Stock Exchange (LSE) der Rechtssitz in Frankfurt am Main sein solle. Das geht aus einer Betriebsratsinfo hervor, die der WirtschaftsWoche vorliegt. Nur so könne nach dem Zusammenschluss ein europäischer Börsen-Champion geschaffen werden. Jeder andere Standort und Rechtssitz außer Frankfurt sei ausgeschlossen.
Kritisch gesehen wird der Sitz in London unter anderem von der hessischen Börsenaufsicht, die den Zusammenschluss blockieren kann. Aus Sicht von Analysten steigt durch den Brexit die Gefahr, dass die Aufsichtsbehörden die Fusion verbieten. Deutsche-Börse-Aktien verloren rund sieben Prozent, LSE-Papiere brachen um 13 Prozent ein.
Luftfahrtbranche leidet auf der Insel und dem Kontinent
Die Investmentbank HSBC rät in einer aktuellen Studie zum Verkauf von Aktien aller europäischen Fluglinien. „Wir erwarten, dass der Flugverkehr nach Großbritannien spürbar zurückgeht und zwar sowohl bei Urlaubern aus Großbritannien als auch beim Geschäftsreiseverkehr von und nach Großbritannien“, schreiben die Analysten. „Während der zu erwartenden Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU rechnen wir mit einer hohen Unsicherheit ob und unter welchen Bedingungen Großbritannien sich an den EU Single Aviation Area genannten gemeinsamen Flugmarkt anschließt. Dafür werden alle auf den britischen Inseln tätigen Fluglinien wie Easyjet, Ryanair, Norwegian und Wizzair wahrscheinlich neue Beteiligungen in der EU gründen, was zu höheren Kosten führt.“
Aber auch die Linien auf dem Kontinent seien betroffen: „Denn bei einem Rückgang des Flugverkehr von und nach Großbritannien werden sie ihre Flugzeuge vermehrt innerhalb der EU einsetzen, was die vorhandenen Überkapazitäten weiter verstärken wird.“
„Als Europäer bin ich enttäuscht und bedauere den Austritt von Großbritannien aus der Europäischen Union. Für uns als größter europäischer Luftfahrtkonzern sind die Auswirkungen beherrschbar“, sagt Lufthansa-Chef Carsten Spohr. Gemessen am Gesamtumsatz der Lufthansa Group liegt der Anteil des Markts Großbritannien bei fünf Prozent. Die konkreten Folgen des „Brexit“ seinen nun von den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien abhängig.
Doch nicht nur die Fluglinien werden die Auswirkungen zu spüren bekommen, sondern auch die Flugzeugbauer. „Großbritannien wird zwar leiden, doch bin ich überzeugt, das Land wird sich noch mehr auf die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft gegenüber der EU und der gesamten Welt fokussieren“, sagt Airbus-Chef Tom Enders. „Natürlich werden wir unsere Investitionsvorhaben in Großbritannien überdenken, so wie jeder andere auch.“
Energiebranche bleibt zuversichtlich
Der Energiekonzern E.On rechnet nach dem Brexit nicht mit großen negativen Folgen für sein wichtiges Geschäft in Großbritannien. „Die Konsequenzen für E.On sind wohl beherrschbar“, sagte Vorstandschef Johannes Teyssen. „Unser Geschäft in Großbritannien ist ein regionales.“ Allerdings liege in der Entwicklung des Pfundes ein Risiko. Eine schwächere britische Währung führt dazu, dass von Gewinnen auf der Insel bei der Umrechnung in Euro weniger übrig bleibt. Teyssen betonte zugleich, dass der Konzern auch Schulden in Pfund habe. Das wirke ausgleichend. E.On hat in Großbritannien rund fünf Millionen Strom- und Gaskunden.
Der Energiekonzern hofft, in seinem Geschäft von den negativen Folgen eines britischen EU-Austritts verschont zu bleiben. „Niemand weiß genau, welche wirtschaftlichen Folgen der Brexit langfristig haben wird“, sagte Vorstandschef Peter Terium am Freitag in Essen. „Aber ich bin sehr zuversichtlich, was unser Geschäft mit Energie und Energiedienstleistungen in Großbritannien betrifft.“
Sollte es zu Handelshürden kommen, träfen RWE diese vermutlich nur am Rande. Die nationale Regulierung sowie die Akzeptanz vor Ort seien für den Geschäftserfolg viel entscheidender. „Daher sollten die ökonomischen Einflüsse eines Brexit auf unser Geschäft auch vergleichsweise gut beherrschbar sein.“ Er selbst sei „schockiert“ über die Entscheidung. „Wir verlieren einen starken Mitstreiter für Marktwirtschaft, Eigenverantwortung und Wettbewerb“, sagte Terium.
Post-Chef zeigt sich enttäuscht
„Wir sind davon überzeugt, dass wirtschaftliche Integration politische Stabilität und gesellschaftlichen Wohlstand bringt“, sagt Post-Chef Frank Appel. Da eine Übergangsphase von bis zu zwei Jahren zu erwarten ist, bevor ein Austritt wirklich vollzogen wird, sehen wir kurzfristig keine negative Auswirkungen für unser Geschäft. Dennoch werden wir die Lage angesichts der Brexit-Entscheidung noch einmal prüfen.“
IT-Branche will UK als starken Partner
Der Branchenverband Bitkom sieht den digitalen Binnenmarkt gefährdet. „Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Auswirkungen auf die deutsche und europäische Digitalwirtschaft möglichst gering bleiben“ sagt Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder. Schwer werde es künftig insbesondere für Dienstleister und Start-ups. Rohleder: „Es ist zu erwarten, dass sich Großbritannien von den Standards des digitalen Binnenmarkts entfernen wird. Für Unternehmen aus Deutschland bedeutet das, dass sie sich mit abweichenden Regeln in Großbritannien beschäftigen müssen. Gerade für Mittelständler und Start-ups ist das oft kaum möglich. Und IT-Dienstleister, die fast immer in internationalen Teams arbeiten, werden künftig nicht mehr von der Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren können.“
Auch Telekom-Chef Timotheus Höttges sieht einen schlechten Tag für Europa. „In einer globalisierten und zunehmend digitalisierten Welt sind große, einheitliche Märkte wichtig, um wettbewerbsfähig zu sein“, so Höttges. „Deswegen wäre es gut gewesen, wenn sich die Briten für Europa entschieden hätten. Wir alle müssen uns damit auseinandersetzen, warum für viele Menschen die europäische Idee – von der ich zutiefst überzeugt bin – so deutlich an Faszination verloren hat.“ Man müsse nun darauf achten, dass die Wirtschaftsgrenzen mit dem Vereinigten Königreich dauerhaft offen bleiben.
Konkurrent Vodafone will die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen erst eruieren, bevor man Schlüsse aus dem Votum zieht. „Wie wir schon vor dem Referendum erklärt haben, werden wir unsere Kunden in Großbritannien auch weiterhin unterstützen – jetzt und in Zukunft und unabhängig vom Ergebnis“, teilt der Telekommunikationskonzern mit. „Es ist noch zu früh, eine Aussage zu den Auswirkungen des Ergebnisses auf den Geschäftssitz der Vodafone Gruppe zu machen.“
Der Softwarekonzern SAP respektiert die Entscheidung der britischen Wähler. „Wir wünschen uns, dass nun alle Kräfte in Großbritannien und Europa zügig die nächsten Austrittschritte einleiten, um Rechtsunsicherheit für Unternehmen zu vermeiden“, teilt das Walldorfer Unternehmen mit. „Ziel muss sein, das Vereinigte Königreich möglichst schnell von einem wertvollen Mitglied zu einem wertvollen Partner der EU zu machen.“
Für Karl-Heinz Streibich, CEO der Software AG, gilt es nun die richtigen Lehren für die weitere Politik zu ziehen. „Ein ‚Business-As-Usual‘ kann und darf es nicht geben“, so Streibich. „In zu vielen Ländern erstarken anti-europäische Bewegungen. Darauf hätten die Institutionen in Brüssel viel früher konstruktiv reagieren müssen. Die Zukunft der Europäischen Union wird nicht durch den Brexit entschieden, sondern durch die Lehren, die daraus gezogen werden. Ich hoffe, das wird in Brüssel erkannt.“
Deutsche Sportartikel-Hersteller bleiben gelassen
„Wir werden nun alles daran setzen, unser Geschäft in Großbritannien erfolgreich weiterzuführen“, sagt Adidas-Chef Herbert Hainer. „Großbritannien ist einer unserer wichtigsten Märkte in Europa, Adidas hat dort eine starke Stellung. Wir gehen davon aus, dass die Nachfrage nach Sportartikeln und der Trend zu einem sportlichen Lifestyle unverändert anhalten werden.“
Auch Puma sieht keine kurzfristigen Auswirkungen. „Den Wechselkurs des Pfundes haben wir abgesichert und daher ist Puma durch den Fall der britischen Währung keinen Risiken ausgesetzt“, sagt Vorstandschef Björn Gulden. „Derzeit ist es noch zu früh zu sagen, ob diese Entscheidung mittelfristig Auswirkungen auf unser Geschäft haben wird, da wir zunächst das Verbraucherverhalten beobachten und auch abwarten müssen, wie sich die Situation weiterentwickelt. Auf jeden Fall wird diese Entscheidung Unsicherheit hervorrufen und Unsicherheit ist natürlich niemals gut.“
Rolf Buch, Vorstandschef des Wohnungsvermietungs-Marktführers Vonovia, sieht für sein Unternehmen kurzfristig zwar „keine negativen Auswirkungen“ durch den EU-Exodus der Briten. Aber die Details zeigen, wie viele Sorgen etwa in Sachen Finanzierung damit verbunden sind. So ist Buch heute offensichtlich froh, dass Vonovia „keine Schuldverschreibungen in britischen Pfund“ hat. Zwar seien rund 30 Prozent der Vonovia-Anteilseigner „aus UK“, weiß er. Doch deren Investment diene vornehmlich der Diversifikation und der Risikominimierung. Vonovia sei „bis mindestens November 2016, voraussichtlich sogar Februar 2017 frisch durchfinanziert“ und den „Schwankungen an den britischen Kapitalmärkten somit nicht ausgesetzt“. Vorerst zumindest.