Wasserstoff-Strategie „Grüner“ Wasserstoff allein wird nicht genügen

Quelle: dpa

Die Nationale Wasserstoffstrategie ist ein Meilenstein der deutschen Energiepolitik. Dennoch begeht die Bundesregierung einen Fehler, schreibt Timm Kehler von „Zukunft Erdgas“ in seinem Gastbeitrag.

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Timm Kehler, 51, ist Vorstand von „Zukunft Erdgas“. Die Initiative von deutschen Unternehmen versteht sich als „Stimme für das Produkt und die Marke Erdgas“.

Mit einem halben Jahr Verspätung liegt sie nun endlich auf dem Tisch – die Nationale Wasserstoffstrategie. Mit ihr wurde die einst von vielen lautstark vorgetragene Utopie der „Vollelektrifizierung“ durch eine realistische Zukunftsvision ersetzt. Doch der Plan markiert nicht nur einen entscheidenden Wendepunkt der deutschen Energiepolitik. Er wird auch weit über die nationalen Grenzen hinweg wirken und im besten Fall – 70 Jahre nach der Gründung der „Montanunion“ als dem Fundament der Europäischen Union – als Wegbereiter für den Aufbau eines europäischen Wasserstoff-Binnenmarktes dienen.

Wasserstoff kommt bei der Energiewende eine Schlüsselrolle zu: Nur rund ein Fünftel des deutschen Energieverbrauchs wird aktuell durch Strom gedeckt, der aktuell nur zur Hälfte durch Erneuerbare erzeugt wird. Den Rest der benötigten Energie liefern andere Energieträger. Wasserstoff kann Klimaschutz in Bereichen voranbringen, die sich sonst nur zu sehr hohen Kosten elektrifizieren lassen, wie die Industrie, der Verkehr oder der Wärmemarkt. Dafür bedarf es aber großer Mengen Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen.

Timm Kehler, 51, ist Vorstand von „Zukunft Erdgas“. Quelle: Presse

Der Bedarf wird von der Bundesregierung jedoch deutlich unterschätzt, wie die Planungen der Wasserstoffstrategie zeigen: Allein die deutsche Industrie benötigt bereits heute rund 70 Terawattstunden Wasserstoff pro Jahr – ohne dass neue, klimaschonende Prozesse eingeführt wurden. Die Regierung setzt dabei ausschließlich auf „grünen“ Wasserstoff aus der Power-to-Gas Technologie. Es ist eine vielversprechende Technologie, die Sonnen- und Windstrom langfristig im Gasnetz speicherbar und in anderen Verbrauchssegmenten nutzbar macht. Ihre Marktreife wurde in dutzenden Pilotprojekten der Gasbranche erwiesen. Doch sie allein wird nicht ausreichen, um den zukünftigen Wasserstoffbedarf zu decken.

Um die besten Preise und damit einen zügigen Markthochlauf zu garantieren, ist Wettbewerb zwischen Technologien notwendig. Neben Power-to-Gas müssen daher auch andere Verfahren, die CO2-neutralen Wasserstoff kostengünstig herstellen können, gefördert werden. Die Erzeugung von Wasserstoff aus Erdgas mithilfe der Dampfreformierung und anschließender CO2-Speicherung mehrere Kilometer unter dem Meeresgrund – der sogenannte „blaue“ Wasserstoff – ist praxiserprobt und langfristig wirksam. Auch die innovative Methanpyrolyse, bei der aus Erdgas „türkiser“ Wasserstoff und reiner Kohlenstoff erzeugt werden, bietet großes Potenzial. Beiden Technologien räumt die Wasserstoffstrategie aber kaum Platz ein.

Was folgt, wenn Deutschland seine heimische Wasserstoffproduktion auf nur eine Technologie begrenzt? Unternehmen der Gaswirtschaft und ihre größten Abnehmer – darunter die Stahl- und Chemieindustrie – werden Investitionen in die Wasserstoffproduktion aus Wettbewerbsgründen ins Ausland verlagern, wo derlei Technologiebeschränkungen nicht bestehen. Der Preis für klimaneutralen Wasserstoff wird damit zum wesentlichen Standortfaktor im internationalen Wettbewerb. Gelingt es zudem nicht, „grünen“ Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen in Deutschland herzustellen, droht – wie schon bei der Photovoltaik – eine weitere Abwanderung einer Energietechnologie ins Ausland.

Neben dem Grundstoff Erdgas zur Wasserstoffproduktion liefert die Gasbranche mit dem Gasnetz aber auch die nötige Infrastruktur, um Wasserstoff zu transportieren und zu speichern. Es ist richtungsweisend, dass die Strategie auch die Bedeutung des Gasnetzes für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft anerkennt. So profitieren nicht nur die Kommunen, in deren Besitz sich das Netz vielfach befindet, sondern auch die rund 20 Millionen Kunden, die heute Erdgas primär als Heizenergie nutzen. Denn insbesondere im Wärmemarkt, dem größten Absatzmarkt für Erdgas in Deutschland, kann Wasserstoff Tempo in die Dekarbonisierung bringen.

Gut auch, dass die Bundesregierung den Blick auf Heizgeräte mit dem Attribut „Wasserstoff-ready“ lenkt, deren Entwicklung von den deutschen Heizungsunternehmen bereits intensiv vorangetrieben wird. Auch die Förderung der Brennstoffzellenheizung – eine Schlüsseltechnologie der Energiewende – wird ausgebaut. Tausende solcher Brennstoffzellenheizungen sind bereits in Deutschland installiert und können schon heute mit Wasserstoff betrieben werden.

Als wichtigster Gasmarkt Europas hat Deutschland ein vitales Interesse daran, zum europäischen Wasserstoff-Drehkreuz zu werden. Als eine der wenigen verbleibenden Industrienationen Europas, deren Kernkompetenz der Maschinen- und Anlagenbau ist, hat Deutschland außerdem das Know-how, um bei allen Wasserstoff-Technologien an die Spitze zu gelangen. Das Fundament für eine erfolgreiche Wasserstoffzukunft wurde mit der jetzt beschlossenen Strategie gelegt. Nun geht es an die Detailarbeit. Und darum, erneut Ländergrenzen zu überwinden und Wasserstoff gemeinsam mit unseren langjährigen Energiepartnern den Weg in Europa zu ebnen. Eine „Wasserstoffunion“ im Sinne einer „Montanunion 2.0“ hätte das Potenzial, der europäischen Idee neue Impulse zu geben. Davon würde nicht nur Deutschland profitieren.

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