
Die Immobilie mit der Nummer 440 hat die wohl interessanteste Geschichte aller Anwesen an der feinen Keizersgracht in Amsterdam. Seit dem frühen 17. Jahrhundert residierten hier Notare, Pleitiers und selbst eine Miederwarenfabrik, bis das Haus im Juli 2011 fast gänzlich niederbrannte und neu errichtet wurde.
Einen besseren Ort für eine Revolution hätte Reed Hastings kaum finden können. Denn an die Keizersgracht hat der Chef und Miteigentümer des US-Internet-Fernsehanbieters Netflix elf Leute geschickt, die ihren eigenen Brandherd entfachen sollen. Die Netflix-Elf soll, hinter hohen Fenstern und verklinkerten Säulen im zweiten Stock des Gebäudes, nichts Geringeres tun, als die europäische Fernsehbranche auf den Kopf stellen.
Die wichtigsten Anbieter im Online-Fernsehen
Unternehmen: Netflix
Streamingkosten (in € pro Jahr): 95,88–107,88
Stärke: Viele exklusive Filme und Serien, bewährte Technik, starke Kooperationspartner
Schwäche: Wenig aktuelle Filme, anfangs relativ kleines Angebot
Wichtigste Serien: House Of Cards, Orange Is The New Black, Hemlock Grove
Quelle: Unternehmen
Unternehmen: Deutsche Telekom
Streamingkosten (in € pro Jahr): ab 359,40*
Stärke: Auch über Satellit nutzbar, teilweise ohne Online-Verbindung nutzbar
Schwäche: Nur im Paket mit Telefon und Internet, lange Vertragsbindung
Wichtigste Serien: Sherlock, The Mentalist, How I Met Your Mother
* inklusive Telefon und Internet-Anschluss
Unternehmen: Amazon
Streamingkosten: Neben einer Jahresgebühr von 49 Euro ist Amazon Prime Video auch im monatlich kündbaren Abo für 7,99 Euro verfügbar
Stärke: Exklusive Filme und Serien, Gratislieferung von Amazon-Bestellungen, auf mobilen Endgeräten ohne Online-Verbindung nutzbar
Schwäche: Nicht alle Titel lassen sich für die Offline-Wiedergabe speichern, nicht alle Filme und Serien im Sortiment
Wichtigste Serien: The Man in the High Castle, Mozart in the Jungle, Transparent, Mr. Robot, Fear the Walking Dead, Lucifer, Preacher, The Night Manager
Unternehmen: Apple
Streamingkosten (in € pro Jahr): Bezahlung pro Download
Stärke: Sehr breites Angebot, Serien direkt nach US-Ausstrahlung, Kauf ab 99 Cent
Schwäche: Nur Kauf und Miete
Wichtigste Serien: True Detective, Sleepy Hollow, The Strain, Downton Abbey
Unternehmen: ProSieben-Sat.1
Streamingkosten (in € pro Jahr): 95,88
Stärke: Großes Angebot, Serien direkt nach US-Ausstrahlung, Kaufvideos, teilweise ohne Online-Verbindung nutzbar
Schwäche: Aktuelle Filme und Serien nur Zuzahlung
Wichtigste Serien: Under The Dome, Hannibal, Sons Of Anarchy, Bitten, Hawaii Five-O
Unternehmen: Sky
Streamingkosten (in € pro Jahr): 47,88
Stärke: Niedriger Preis; auch Originalfassungen, gegen Aufpreis teilweise ohne Internet-Verbindung nutzbar
Schwäche: Begrenztes Angebot, wenig Aktuelles
Wichtigste Serien: Game Of Thrones, Alcatraz, Die Sopranos, The Walking Dead
Unternehmen: Vivendi
Streamingkosten (in € pro Jahr): 107,88
Stärke: Teilweise ohne Online-Verbindung nutzbar
Schwäche: Begrenztes Angebot, wenig Aktuelles
Wichtigste Serien: Mad Men, The Wire, Lilyhammer, The Mentalist, Torchwood
Unternehmen: Google
Streamingkosten (in € pro Jahr): 0
Stärke: Gratis, fast unendliches Angebot
Schwäche: Wenig aktuelle und hochwertige Filme
Wichtigste Serien: Tatort, Schimanski, Kanäle von Komödianten wie Y-Titti, LeFloid
Hastings Auftrag: Bietet den Menschen eine Alternative zum heutigen Fernsehen mit zig Sendern und festen Startzeiten. Lasst sie Filme und Serien zu jeder beliebigen Zeit starten, anhalten oder zurückspulen, kurzum: genießen.
Zehn Euro für tausende Filme
Für weniger als zehn Euro pro Monat soll künftig jedermann per Mausklick auf seinem Laptop, Tablet, Smartphone oder internetfähigen Fernseher unbegrenzt Filme sehen können, ohne diese herunterladen zu müssen. Das heißt im Internet-Jargon „streamen“.
Dafür hat Netflix 75 000 Streifen und teils exklusive Serienfolgen in petto. Mit dem Angebot will die Truppe in Amsterdam Netflix zunächst einen großen Teil des wachsenden Abruf-TV-Geschäftes sichern. Auf lange Sicht jedoch schwebt Hastings viel mehr vor: Netflix soll als Speerspitze dem Internet-Fernsehen gegenüber dem herkömmlichen, sogenannten linearen TV mit festem Programmschema zum Durchbruch verhelfen – und damit die klassischen Sender verdrängen.
Raues Vorbild aus dem Valley
Horchten in den vergangenen Wochen vor allem Fernsehfans freudig auf ob der neuen TV-Wunderwelt, geraten jetzt langsam, aber sicher die etablierten Film- und Fernsehanbieter in Alarmstimmung. Videotheken drohen endgültig zu verschwinden, DVD-Händler langfristig ihr Geschäft zu verlieren.
Privatfernsehen unter Druck
Aufgescheucht sind vor allem ARD, ZDF, RTL, ProSieben, Sat.1 sowie deren Wettbewerber. Weil vor der Fernsehfreude, forciert von Netflix und internetfähigen Fernsehgeräten, in vielen Wohnzimmern künftig immer häufiger die Suche im wachsenden Angebot des Internets steht, droht den traditionellen Sendestationen der Abstieg.
Insbesondere die Privaten stehen im Feuer. Denn sie verlieren auf Dauer ihre Bedeutung für die werbende Wirtschaft und damit die wichtigste Einnahmequelle, wenn immer mehr Zuschauer im Web bei Angeboten wie Netflix hängen bleiben. „Netflix ist eines der digitalen TV-Modelle, das traditionellen Fernsehsendern die Vermittlerrolle wegzuschnappen droht“, sagt Martin Sorrell, Gründer und Vorstandschef des weltgrößten Werbekonzerns WPP in London, gegenüber der WirtschaftsWoche.
Wie nah die Gefahr ist, zeigen die bisherigen Internet-Video-Anbieter wie Amazon oder der Filmabrufdienst Snap des Bezahl-TV-Unternehmens Sky. Sie alle haben auf Abwehrmodus umgeschaltet. Einige investierten bereits kräftig in ihr Filmangebot, andere locken mit Dumpingpreisen von 3,99 Euro im Monat, um von der heranrückenden Netflix-Elf nicht an den Rand gedrängt zu werden.
Seit Dienstagnacht ist Netflix in Deutschland verfügbar. Auch in Frankreich, der Schweiz, Österreich, Belgien sowie Luxemburg geht der Dienst an den Start. „Das wird eine Zeitenwende einläuten“, sagt Clemens Schwaiger, bei der Unternehmensberatung Arthur D. Little weltweit für das Geschäft mit digitalen Medien verantwortlich.