WirtschaftsWoche: Mr. Jassy, Sie haben Amazon Web Services 2006 mit aus der Taufe gehoben. Wann wurde Ihnen bewusst, dass in der Idee ein milliardenschweres Geschäft steckt, derzeit der wichtigste Profitquelle von Amazon?
Andy Jassy: Dass es so groß werden könnte, hat damals niemand von uns vorhergesehen. Wir haben gedacht, wenn Amazon einen Dienst benötigt, mit dem man rasch und flexibel Internet-Bandbreite und Rechenleistung zuschalten kann, haben sicherlich auch andere Unternehmen diesen Bedarf. Aber wenn man etwas ganz Neues startet, weiß man nie wie die Sache ausgeht.
Wann kam der Wendepunkt?
2008, als der Online-Videodienst Netflix seine Infrastruktur in unsere Hände legte. Sie hatten wirklich sehr kompetente Experten für Internet-Infrastruktur, die auch wir mit Kusshand genommen hätten. Netflix entschied, sich lieber ganz auf das Geschäft mit Videos zu fokussieren und sich so vom Wettbewerb abzusetzen.
Zu dem auch Amazon Video als ärgster Herausforderer gehört. Hat es deshalb noch nie Ärger gegeben?
Nein, noch nie. Es ist uns ganz wichtig, dass Netflix genauso gleichrangig behandelt wird wie auch Amazons Videogeschäft. Schließlich haben wir auch noch andere Kunden, mit denen Amazons Handelssparte im Wettbewerb steht.
Zur Person
Andy Jassy, 48, hat das Cloud-Geschäft bei Amazon aufgebaut und wurde dafür im Frühjahr von Gründer Jeff Bezos mit dem CEO-Titel belohnt.
Amazon Web Services hat in diesem Jahr die Zehn-Milliarden-Dollar-Schwelle beim Umsatz überschritten. 2014 waren es noch 4,6 Milliarden Dollar. Wie lange können Sie dieses Tempo halten?
Wir legen laut unseren jüngsten Quartalszahlen 55 Prozent jährlich zu, was einem hochgerechneten Jahresergebnis von 13 Milliarden Dollar entspricht. Das ist schon ein erheblicher Umsatz. Trotzdem glauben wir, dass wir noch ganz am Anfang stehen. Nicht nur in den USA. Sondern auch international, wo das Geschäft mit Cloud Computing je nach Land zwölf bis 24 Monate hinterher ist. Das Geschäft mit Internet-Infrastruktur und Software hat ein Volumen von mehreren Billionen Dollar. Wir schauen optimistisch in die nächsten zehn Jahre.
Wo steht Deutschland aus Ihrer Sicht im internationalen Vergleich?
Da hat sich sehr viel getan, besonders seit wir mit eigenen Rechenzentren in Frankfurt präsent sind. Das hat unserem Geschäft richtig Schwung verliehen. Zwei Drittel der Dax-Unternehmen nutzen Amazon Web Services bereits. Aber wir sehen auch viel Wachstum bei mittelständischen Kunden in Deutschland. Beispielsweise migrieren Firmen wie Carl Zeiss Meditec, Kärcher und Peek & Cloppenburg ihre Anwendungen in die Cloud. Mittelständler profitieren gleichermaßen von der Agilität, der Kostenersparnis, der Elastizität und der großen Bandbreite an Funktionalität wie alle anderen Kunden von AWS. Es war den deutschen Kunden sehr wichtig, ihre Kundendaten vor Ort speichern zu können.
Glauben Sie, dass Amazon Web Service das Kerngeschäft von Amazon überflügeln wird?
Das Potenzial ist da, dass es das größte Geschäft innerhalb von Amazon werden kann. Und dass, obwohl das Handelsgeschäft von Amazon bereits mehr als 100 Milliarden Dollar beträgt, wir also noch weit entfernt sind. Aber noch mal: Wir sprechen hier von einem Geschäft, in dem Billionen von Dollar stecken.
Sie betonen „innerhalb von Amazon“. Gibt es keine Pläne, sich selbständiger vom Mutterkonzern zu machen?
Wir haben das nicht vor. Nun bin ich fast zwanzig Jahre bei Amazon und habe gelernt, dass man nie etwas kategorisch ausschließen sollte. Aber was sollte der Vorteil sein, wenn wir uns von Amazon abspalten?
Sie könnten unabhängiger und agiler auftreten.
Das sind wir jetzt schon, weil Amazon sehr dezentral organisiert ist und die einzelnen Abteilungen ihr eigenes Management-Team haben und autonom agieren.
„Ein eigenes Datenzentrum macht keinen Sinn“
Wie begegnen Sie Warnungen, dass Amazon bei der Internet-Infrastruktur zu mächtig und damit so systemrelevant wie einige Banken wird, die deswegen vom Steuerzahler gerettet werden mussten?
Da es sich um einen Billionenmarkt handelt, wird es allein schon deswegen sehr viele Anbieter geben. Allerdings nicht mehrere Dutzend, weil man eine gewisse Größenordnung und eine große Bandbreite von Funktionen benötigt, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein.
Vor- und Nachteile des Cloud Computing
Wenn ein Unternehmen seine Kundendatenbank nicht im eigenen Rechenzentrum pflegt, sondern einen Online-Dienst wie Salesforce.com nutzt, spart es sich Investitionen in die Infrastruktur. Die Abrechnung erfolgt außerdem zumeist gestaffelt, zum Beispiel nach Nutzerzahl oder Speicherverbrauch. Geschäftskunden erhoffen sich dadurch deutliche Kosteneinsparungen.
Wer Speicherplatz im Netz mietet, kann flexibel auf die Nachfrage reagieren und den Bedarf unkompliziert und schnell erhöhen oder versenken. Wenn beispielsweise ein Startup rasant wächst, fährt es einfach die Kapazitäten hoch. Somit fallen auch niedrige Fixkosten an.
Die Installation auf den eigenen Rechnern entfällt. Damit lässt sich ein neues System äußerst schnell einführen. Auch die Updates bereiten keine Probleme mehr, somit sinkt der Administrationsaufwand. Allerdings lassen sich die Cloud-Dienste in der Regel auch nicht so individuell konfigurieren.
Zur Nutzung der Cloud-Dienste benötigen Mitarbeiter lediglich einen Internetanschluss – unabhängig von ihrem Aufenthaltsort und dem Gerät, das sie nutzen.
Die Daten-Dienstleister werben damit, dass sie sich intensiver mit der IT-Sicherheit beschäftigen als einzelne Nutzer oder Unternehmen. Allerdings sind die Rechenzentren der Cloud-Anbieter aufgrund der großen Datenmenge auch ein attraktives Ziel für Angriffe von Hackern. Zudem ist von außen schwer nachzuvollziehen, ob der Anbieter die Daten ausreichend vor den eigenen Mitarbeitern schützt. Die Auslagerung bedeutet somit einen Kontrollverlust.
Viele Unternehmen sind von ihrem Dienstleister abhängig, weil sie nicht ohne weiteres zu einem anderen Anbieter wechseln können. Das liegt etwa daran, dass sie ihre Systeme aufwendig an die Schnittstellen anpassen müssen. Auch Nutzer haben oft Schwierigkeit, wenn sie mit ihren Daten den Anbieter wechseln wollen. Eine weitere Frage: Was ist, wenn der Betreiber eines Dienstes pleite geht? Erst wenn es Standards gibt, die den Wechsel von einem zum anderen Dienstleister ermöglichen, sinkt die Abhängigkeit.
Stimmt es nicht, dass Amazon Web Services so eine Art Hotel California ist, wie es die Rocker von Eagles besingen? Wenn man einmal eingecheckt ist, kommt man nicht mehr heraus?
Nein. Da achten schon unsere Kunden darauf, dass sie nicht auf einen Anbieter festgelegt und damit abhängig von ihm sind. Wir haben glücklicherweise nur wenige Kunden, die uns verlassen haben...
...wie den Computerspielanbieter Zynga.
Wobei Zynga, nachdem sie zwischenzeitlich ein eigenes Datenzentrum aufgebaut hatten, inzwischen wieder zu uns zurückgekommen sind. Aber es geht, auch bei Unternehmen die von anderen aufgekauft wurden und im Rahmen der Zusammenlegung den Cloud-Anbieter wechseln mussten. Es ist viel leichter als bei den alten Softwareanbietern wie etwa Oracle, die ihre Kunden mit Lizenzverträgen knebelten.
Mit dem Silicon-Valley-Softwarekonzern Oracle sind Sie gerade heftig im Schlagabtausch. Wollen Sie dessen Datenbanken ersetzen?
Wir orientieren uns an den Bedürfnissen unserer Kunden. Und vielen von denen waren die Verträge mit kommerziellen Datenbankanbietern leid. Deshalb haben wir auf Open-Source-Alternativen wie MySQL und PostgreSQL gesetzt. Und dann mit Aurora ein Angebot entwickelt, das auch von der Leistung her mithalten kann. Es ist der am schnellsten wachsende Service in der Geschichte unseres Unternehmens.
Sie propagieren, dass letztlich die gesamte IT-Infrastruktur in die Cloud wandern wird. Warum?
Es wird nur sehr wenige Unternehmen geben, die noch ein eigenes Datenzentrum nur für sich betreiben. Es macht ökonomisch einfach keinen Sinn. Kein Unternehmen ist scharf drauf, eine Menge Server zu kaufen und verwalten zu müssen. Aber auf die Zeitspanne, wann nahezu alles von der Cloud aus betrieben wird, will ich mich nicht festlegen.
Sie arbeiteten schon für Amazon, als dessen Scheitern regelmäßig vorausgesagt wurde und das Unternehmen besonders nach dem Platzen der Dot.com-Blase unter erheblichem Druck stand. Wie hat Sie das als Manager verändert?
Man sollte sich nicht danach richten wie externe Beobachter oder Börse urteilen, sondern nach dem tatsächlichem Geschäftsverlauf und der Zufriedenheit der Kunden. Man ist eben nicht dreißig Prozent klüger, nur weil die Aktie gerade 30 Prozent gestiegen ist. Das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass man 30 Prozent dümmer ist, wenn sie entsprechend fällt.