Was das heißt, bekamen 2012 rund 400 Beschäftigte des Rocket-Standorts in der Türkei zu spüren. Weil die Zahlen nicht stimmten, wurde der Standort kurzerhand geschlossen. In Afrika verschaffte Rocket Internet seinem Online-Händler Jumia einen Vorsprung gegenüber dem wichtigsten Wettbewerber, dem nigerianischen Online-Anbieter Konga. Die Berliner sicherten sich die Konga-Web-Adressen in elf afrikanischen Ländern. „Wir beabsichtigen, unter diesem Namen ein Start-up in verschiedenen afrikanischen Ländern zu starten“, sagt ein Rocket-Sprecher dazu. Konga jedenfalls kann unter eigenem Namen dort nicht mehr antreten.
Unzählige solcher Storys über das Vorgehen der Samwers – irgendwo zwischen clever und skrupellos – kursieren in der Szene. „Alles und jeder“, sagt Joel Kaczmarek, werde „in der Samwer-Maschine gänzlich dem unternehmerischen Erfolg untergeordnet“. Als Chefredakteur und Herausgeber des Branchenmagazins „Gründerszene“ hat er den Aufstieg der Brüder hautnah miterlebt.
In seiner am Donnerstag erschienenen Biografie über „Die Paten des Internets“ beschreibt Kaczmarek, wie es den Brüdern gelang, „einer ganzen Branche ihren Stempel aufzudrücken“. Die Geschichte der Samwers sei „gleichermaßen mit unglaublichen Erfolgen wie aberwitzigen Machenschaften gepflastert“, so Kaczmarek.
Ruf des Goldes
Noch 20 Minuten bis zum Abflug, die Zeit wird knapp, um die Maschine zu erreichen. Das Taxi schiebt sich den Saatwinkler Damm entlang, während Oliver Samwer über den digitalen Wandel doziert. Das ist sein großes Thema.
Schon Mitte Juni, bei ihrem Konsumgüterforum in Paris, hatten sich die Vertreter der europäischen Handelskonzerne im Kongresssaal unter dem Louvre versammelt, um dem Online-Hosianna des deutschen Web-Propheten zu lauschen. „Ich bin nicht hier, um Ihnen eine Freude zu machen“, ließ Oliver Samwer seine Zuhörer wissen, während er auf der Bühne auf und ab tigerte. „Einkaufshäuser sind etwas aus der Zeit um Christi Geburt. Es gibt sie nur, weil es früher kein Internet gab. Aber das bedeutet nicht, dass es ein Recht auf ihre Existenz gibt.“ Zum Abschied rät er den Top-Managern: „Verlassen Sie den Saal sehr paranoid.“
Zitate von Oliver Samwer
„Die alte Investorenregel, wonach acht von zehn Engagements in die Hose gehen dürfen, solange zwei das große Geld bringen, lehnen wir ab. Wir wollen, dass aus allen 20 Eiern, die wir bebrüten, ein Küken schlüpft und sich jedes Küken zu einem prachtvollen Vogel entwickelt. Mag sein, dass am Ende das eine Unternehmen am Ende eine Million Euro wert ist und das andere hundert Millionen. Aber wir geben keines unserer Engagements verloren. Notfalls ändern wir das Geschäftsmodell – und niemals lassen wir einen Entrepreneur fallen.“
Oliver Samwer im August 2007 über die Ambitionen des EFF
„Ich verweise gerne auf das Beispiel der Banken. So ist Citibank eine Großbank, aber das Bankenwesen erfunden haben beispielsweise eher die Medici. [...] Es gibt ganz wenige 'Einstein-Unternehmer' wie den Erfinder der Glühbirne oder des Telefons. Aber zu 99 Prozent entscheidet die Umsetzung der Idee. Am Ende kommt es nicht darauf an, ob ich als Erster eine Idee gehabt habe, sondern darauf, ein Unternehmen aufzubauen, das langfristig existiert und Kunden zufriedenstellt. […] In der Internetindustrie gibt es Einsteins und Typen wie Bob, der Baumeister. Ich bin ein Bob, der Baumeister.“
Oliver Samwer zum Copycat-Vorwurf
„Im Oktober 2009 habe ich beschlossen: Den Herrn Haub rufe ich an und frage ihn mal, ob er nicht ein Unternehmen für seine Kinder aufbauen möchte. Ich habe ihm gesagt: Ich denke, dass E-Commerce auf jeden Fall passieren wird. Und ich glaube nicht, dass Sie es mit Ihrem Unternehmen alleine schaffen werden. Wollen Sie nicht auf ein zweites Pferd setzen? […] [Andere klassische Händler] setzen nur auf ein Pferd, auf ihr eigenes Pferd. Sie denken: Ich bin Händler, ich kenne das Geschäft seit 30 Jahren, vielleicht schon in der dritten Generation. Das mit dem E-Commerce ist doch nichts anderes als ein Laden oder ein Versandhausgeschäft.“
Oliver Samwer über seine Beteiligungsehe mit Tengelmann
In seiner Zeit bei Groupon schrieb Oliver Samwer eine Mail, die als „Blitzkrieg“-Mail bekannt wurde. Das sind einige Zitate aus dem Dokument:
„Wir müssen den Zeitpunkt für unsere Blitzkrieg weise wählen, also sagt mir jedes Land mit seinem Blut, wenn es soweit ist. Ich bin bereit – immer!“
„Ich gebe euch all mein Geld um zu gewinnen, ich gebe auch all mein Vertrauen, aber wehe, ihr kommt zurück und habt eure Erfolge nicht erreicht.“
„Ich bin der aggressivste Mann im Internet auf dem Planeten. Ich werde sterben, um zu gewinnen, und ich erwarte von euch dasselbe!“
„[L]aufen eine Milliarde Inder nackt rum? Oder 240 Millionen Indonesier? Nein, die wollen was kaufen! Die Logik ist doch klar. Wir gehen dorthin, wo es nicht schon 100 Zalandos gibt. […] Am Ende des Tages sind wir Unternehmer, um zu sagen: Was immer dazu notwendig ist. Wenn es nötig ist, dass ich die letzte Meile selbst baue und im Prinzip eine Post entwickle, bin ich auch bereit, die pakistanische Post zu bauen. Warum nicht? Vor sieben Jahren hatten wir keine Ahnung von E-Commerce, vor 15 Jahren hatte ich keine Ahnung vom Internet. […] Wir machen alles, was notwendig ist. Und das kann der Bau von Warenhäusern, der Bau der letzten Meile oder das Mitbringen von Geld ins Land sein.“
Oliver Samwer über die weltweite Internationalisierung
„Wir gehen in ein Land immer mit Touristen-Visa. […] Google geht mit Business-Visa. Aber ein Business-Visum zu erhalten kann drei Monate dauern. Ich erinnere mich noch, als eine Art Polizei unsere Büros besucht hat und wir alle zu Hause gearbeitet haben an diesem Tag. Alles war leer, nur Einheimische waren da. […] Ich denke, man muss einfach ultra pragmatisch sein. Und keine Zeit darauf verwenden, was wäre wenn usw. Die Leute denken allgemein zu viel darüber nach, was das Problem ist, worin die Herausforderung besteht. Wirklich, für eine Internationalisierung ist es in jedem Land dasselbe. Nur bei China würde ich sagen, dass ich fernbleibe.“
Oliver Samwer über den Pragmatismus seiner weltweiten Internationalisierung
„Wenn wir jetzt nur noch alle gestarteten Unternehmen möglichst schnell in die Gewinnzone führen würden, wären wir durchfinanziert. Dann bräuchten wir kein frisches Geld mehr. Aber das wäre völlig falsch. Ein Börsengang ist bei sehr vielen unserer Unternehmen das Ziel. In 40 Jahren soll im Wikipedia-Eintrag über uns zu lesen sein, dass niemand weltweit so viele Internet-Unternehmen so systematisch gebaut hat wie wir.“
Oliver Samwer über die Ambitionen seiner weltweiten Gründungsvorhaben
Joel Kaczmarek, „Die Paten des Internets“, erschienen im Finanzbuchverlag FBV, ISBN: 978-3-89879-880-8
Oliver Samwer spürt besser als viele andere, dass in der Handelsbranche Alarmstimmung herrscht. Weltweit fließen Milliardenbeträge von klassischen Läden in Internet-Shops und Online-Plattformen, ordern Kunden immer mehr Waren per Smartphone und Computer. Das verändert die Hackordnung im Handel von Grund auf. Der Umbruch ist gewaltig – und liefert den Samwers das beste Verkaufsargument. Ihre Botschaft: Wer beim größten Goldrausch aller Zeiten dabei sein will, kann bei Rocket Internet die Eintrittskarte lösen. Heute werden die Claims für das Geschäft von morgen abgesteckt.
In einer Mail an einen potenziellen Geldgeber klingt das dann so: „Mein Name ist Oliver Samwer, meine zwei Brüder und ich sind Serien-Gründer“. Ganz unbescheiden findet sich in der Mail ein Link zur Vermögensübersicht der Brüder beim US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ nebst der Anregung, doch am besten bei einem persönlichen Treffen über die vielversprechenden Geschäftschancen in den aufstrebenden Märkten zu plaudern.
Die Reichen verfallen ihnen
Wer Interesse zeigt, darf sich auf launige Präsentationen freuen – etwa über den Rocket-Ableger Foodpanda. In einem „streng vertraulichen“ Papier von 2013 wird Vermögenden die „Revolution bei Online-Essenbestellungen in Schwellenländern“ schmackhaft gemacht. Das Geschäftsmodell: Restaurants und Lieferdienste stellen ihre Angebote bei Foodpanda ein. Ordert ein Kunde dann seine Pizza oder Pasta über die Seite, streicht Foodpanda eine Provision ein. Ab 2017 will das Unternehmen schwarze Zahlen schreiben. 2018 soll der Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) dann schwindelerregende 30 Millionen Euro und mehr erreichen. Großes Panda-Ehrenwort!
Derlei Avancen scheinen zu verfangen: Superreiche und Investoren rund um den Globus sind in den vergangenen Jahren dem Samwer’schen Lockruf gefolgt und haben teils direkt in Rocket-Ableger, teils in die Holding investiert. Der indische Stahlmagnat Lakshmi Mittal und der russischstämmige US-Milliardär Leonard Blavatnik gehören zu den Finanziers. Aus Deutschland steuerten neben United-Internet-Frontmann Ralph Dommermuth die Beteiligungsunternehmen von Tengelmann-Eigner Karl-Erivan Haub und Verleger Stefan von Holtzbrinck Millionenbeträge zu.