
Besucher, die zum ersten Mal das Berliner Hauptquartier von Deutschlands größter Start-up-Schmiede betreten, sind oft enttäuscht: Triste Großraumbüros säumen den Innenhof des „Werft“ getauften Gebäudekomplexes an der Friedrichstraße. Allenfalls ein paar leere Pizzakartons auf den Schreibtischen verbreiten einen Hauch Gründer-Atmosphäre bei Rocket Internet. Deutsch-englische Wortfetzen schwirren durch die Luft, und alle paar Tage hetzt Rocket-Chef Oliver Samwer mit seinem Rollkoffer im Schlepp durch die Flure, um seine Digitalarbeiter auf Trab zu bringen.
Doch die Tage in der Werft sind gezählt. In ein paar Monaten will Rocket in eine neue Zentrale in Kreuzberg umsiedeln. Der Umzug markiert nicht nur örtlich einen Wendepunkt: Auch intern steht der Konzern vor tief greifenden Veränderungen. Ein Umbau bahnt sich an, der die Struktur von Grund auf verändern könnte. Denn gleich für mehrere Kernbeteiligungen loten die Berliner Börsengänge aus, darunter Schwergewichte wie der Online-Möbelhändler Home24, das Lieferdienstportal Delivery Hero und der Kochboxenversender Hellofresh.





Nebenher, so heißt es in der Finanz- und Start-up-Szene, sammle Samwer bei Investoren Geld für den Aufbau eines unternehmenseigenen Beteiligungsfonds ein. Damit bewegt sich Rocket weg vom klassischen Start-up-Inkubator, der am fabrikmäßigen Nachbau erprobter Online-Konzepte verdient, hin zu einer Art Holding für digitale Geschäftsmodelle.
Geschockte Aktionäre
Schon bei der Hauptversammlung Ende Juni ließ sich der neue Kurs erahnen – zumindest optisch. Statt wie sonst leger und mit verstrubbelten Haaren trat Rocket-Patron Samwer im dunklen Anzug und mit sorgsam geknoteter Krawatte vor seine Anteilseigner und warb um Vertrauen. Das hat seit Rockets Börsendebüt vor knapp einem Jahr erheblich gelitten. Der Aktienkurs liegt rund 25 Prozent unter dem Ausgabepreis von 42,50 Euro.
Beteiligungen von Rocket Internet (mit Aussicht auf Börsengang)
Hellofresh nimmt Online-Bestellungen an und liefert Zutaten für Speisen. Das Unternehmen wurde 2011 gegründet und hat bis 2014 eine Umsatz von 70,1 Millionen Euro erwirtschaftet, davon rund 15 Millionen Euro Verlust. Der Unternehmenswert liegt bei 620 Millionen Euro. Rocket Internet gehören 51,7 Prozent des Unternehmens.
Auch Delivery Hero nimmt Online-Bestellungen an, liefert neben Lebensmitteln aber auch Getränke. 2014 hat das Unternehmen 88 Millionen Euro Umsatz gemacht, davon ganze 70 Millionen Euro Verlust. Rocket Internet hält 38,5 Prozent der Anteile des 2,8 Milliarden schweren Unternehmens.
Quelle: Unternehmen
Im Februar – nur vier Monate nach dem Börsengang – schockte Samwer seine Aktionäre mit dem Wunsch nach mehr Geld. Per Kapitalerhöhung sammelte er rund 600 Millionen Euro ein und schickte die Aktie auf Talfahrt. Im Juli wiederholte sich das Debakel, als der Konzern eine Wandelanleihe über 550 Millionen Euro ausgab und der Kurs in der Spitze um 15 Prozent abstürzte.
Hohe Verluste
Erstmals wurde vielen Anlegern da bewusst, wie viel Geld der Aufbau und Betrieb der weltweiten Rocket-Beteiligungen verschlingt. „Der Cash-Verbrauch ist aktuell die größte Sorge der Investoren“, mahnt Edward Hill-Wood, Analyst der Investmentbank Morgan Stanley in London. Nach Berechnungen der WirtschaftsWoche summierten sich 2014 allein die Verluste der zwölf zentralen Beteiligungen, darunter Home24 und die russische Zalando-Kopie Lamoda, auf mehr als 650 Millionen Euro.
Da Rocket an den Unternehmen nicht die Mehrheit hielt, flossen ihre Verluste nicht ins Zahlenwerk des Konzerns ein. Trotzdem ist klar, dass die defizitären Internet-Portale, die Samwer forsch als „Proven Winners“, bewährte Gewinner, bezeichnet, noch über Jahre am Tropf der Berliner hängen werden. Bis 2018, so rechnet Morgan Stanley vor, würden sie weitere 1,2 Milliarden Euro Verlust anhäufen. Dann immerhin seien schwarze Zahlen in Sicht.
Zitate über Oliver Samwer
„Es sind oft dieselben zwei Gründe, weshalb sich Leute negativ über ihn äußern: Man hat seine eigentlich sehr direkte und klare Art nicht verstanden und fühlt sich unfair behandelt. Viele denken aufgrund seiner gewinnenden Art aber auch, dass sie mit Oliver Samwer eng befreundet sind. [...]Wer das, was Oliver Samwer sagt, für bare Münze nimmt und nicht angepasst in seine eigene Sprache übersetzt, macht aber ohnehin etwas falsch.“
Jambas langjähriger Pressechef Tilo Bonow über die Arbeit mit Oliver Samwer
„Es herrschte eine gute und tolle Stimmung bei Alando und obwohl am Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet wurde und man auch am Wochenende im Büro war, spürte jeder diese Aufbruchstimmung. Wir haben auch viel gelacht. [...] Die Samwers hatten noch keinen großen Namen, Presseaufmerksamkeit gab es kaum, das Internet war noch nicht so gehypt, und es steckten keine 100 Millionen in Alando. Alles war viel entspannter und es herrschte eben echte Goldgräberstimmung.“
Samwer-Wegbegleiter Ole Brandenburg über die Stimmung bei Ebay-Klon Alando
„Oliver Samwer hat Benzin statt Blut in den Adern. Er arbeitet härter als jeder, den ich kenne, und als Manager hat man genau deshalb großen Respekt vor ihm. Er hat ja auch nie Zeit, was einem das Gefühl vermittelt, dass seine Aufmerksamkeit ein sehr wertvolles Gut ist. [...] Der Vergleich ist sicherlich sehr krass, aber ein wenig ist das wie bei einer Frau, die von ihrem Mann geschlagen wird: Es löst Glücksgefühle aus, wenn du keine Schläge abbekommst.“
Eine ehemalige Führungskraft über Oliver Samwer
„Die Atmosphäre bei Jamba war in der Anfangszeit oft wie in einem Bienenstock. Kam man zwei Minuten zu spät, gab es sofort einen Anschiss, egal ob man am Tag zuvor bis spät in den Abend im Büro saß oder das Wochenende durchgearbeitet hatte. Auch Raucherpausen wurden stets moniert, besonders wenn ein Mitarbeiter Verantwortung trug und deshalb ein Vorbild sein sollte.“
Ein ehemaliger Mitarbeiter über die Atmosphäre bei Jamba
„Oliver Samwer hat eine völlige Abneigung gegenüber Smalltalk. Wenn er eine Person für unbedeutend hält oder sich nicht für ihre Belange interessiert, verbringt er auch praktisch keine Zeit mit ihr, sondern lässt sie einfach stehen. Er sagt nicht Hallo, er sagt nicht Auf Wiedersehen, sondern lässt Leute völlig im Regen stehen. Auch bei Telefonaten fängt er einfach an loszureden und legt auf, sobald er gesagt hat, was er sagen wollte. Er praktiziert diese soziale Kälte mit einer derart frappierenden Skrupellosigkeit, dass man sich unmittelbar eingeschüchtert fühlt und in der Regel irritiert zurückbleibt.“
Ein ehemaliger Manager über Oliver Samwers Sozialverhalten
„[Oliver Samwer] ist smart und sehr flink im Kopf, wodurch er nicht gefestigte Standpunkte ganz schnell auseinandernehmen kann. Bullshitten kann man bei ihm deshalb nicht. Er durchschaut jegliche Ahnungslosigkeit und passiert dies mehrfach, verliert man seinen Respekt und kann gehen. Umgekehrt sind die Möglichkeiten aber fast grenzenlos, hat man es erst einmal in seinen engen Zirkel geschafft. [...] Ab einem bestimmten Punkt lässt er einen aber nicht mehr lernen, weil er nicht will, dass man ein Unternehmen alleine vollumfassend realisieren kann. [...]“
Eine ehemalige Mitarbeiterin über Oliver Samwers Führungsstil
„Das Konzept von Zuckerbrot und Peitsche beherrscht Oliver Samwer bis ins Detail, nur dass er dabei sogar das Zuckerbrot weglässt. Die Messlatte liegt so hoch und es gibt so wenig Lob, dass es einen eigentlich demotivieren sollte. Aber während Oliver Samwer öffentlich oft aggressiv und pushy ist, kann er im Einzelgespräch auf einmal so charmant sein, dass viele ihm anschließend ihre Qualität beweisen wollen.“
Ein ehemaliger Groupon-Mitarbeiter über Oliver Samwers Methoden
„Das Krasse an Oliver Samwers Führungsstil ist, dass er andere dazu bewegt, latent sadistische Tendenzen zu entdecken und mit der Zeit immer mehr auszuleben. Menschen, die anfangs noch freundlich und normal mit anderen umgingen, beginnen unter seiner Führung damit, andere zu quälen und zu schikanieren. Sie nehmen Olis aggressiv-unsoziale Art an und lassen sich berauschen von der Macht, die er ihnen über andere vermittelt. Das ist ein wenig wie in Diktaturen, bei denen man sich als neutraler Beobachter hinterher immer fragt, wie es geschehen konnte, dass so viele Menschen dieser offensichtlich destruktiven Propaganda folgten.“
Ein ehemaliges Management-Mitglied über die Führungskräfte der Samwers
Joel Kaczmarek, „Die Paten des Internets“, erschienen im Finanzbuchverlag FBV, ISBN: 978-3-89879-880-8
Damit deuten die Analysten indirekt den größten Schwachpunkt im Rocket-Reich an: Die aktuelle Finanzkraft reicht allenfalls aus, um die Proven Winners in die Gewinnzone zu hieven. Gleichzeitig will Samwer aber neue Start-ups gründen und die Emerging Stars – aufstrebende Sterne, wie jüngere Unternehmenskreationen im Rocket-Slang heißen – weltweit ausrollen.
Schon aus diesem Grund wird der Rocket-Boss alle Schalter in Bewegung setzen, um die Raketen im Portfolio in Richtung Börse abzufeuern. Offiziell schweigt das Unternehmen dazu. Doch im Hintergrund läuft längst die Werbemelodie, die den Gang aufs Parkett intoniert.
Der größte, zugleich aber schwierigste Kandidat ist dabei Delivery Hero, in Deutschland unter dem Namen Lieferheld bekannt. Über die Online-Plattform können hungrige Großstädter Pizza, Pasta oder Sushi bei Restaurants aus der Nachbarschaft ordern. Pro vermitteltem Auftrag erhält Lieferheld eine Provision. Das Geschäft gilt als Wachstumsmarkt. Weltweit wickeln mittlerweile 200.000 Fast-Food-Restaurants in 34 Ländern ihren Lieferservice über Delivery Hero ab und haben den Wert des Essensportals auf 2,8 Milliarden Euro steigen lassen.