
Wenn morgens kurz nach acht der Wecker von Michael Hatscher klingelt, blickt er auf eine gelb angestrichene Wand und Gitterstäbe vor den Fenstern. Hatscher sitzt im Gefängnis, teilt sich zwei 15 Quadratmeter kleine Zimmer mit einem weiteren Häftling. Hier, hinter Stacheldraht in einem Backsteinbau im Zentrum der sächsischen Stadt Zwickau, verbringt der 48-Jährige seine Nächte. Tagsüber darf der gelernte Einzelhandelskaufmann raus, um zu arbeiten – einige Hundert Meter entfernt, von 10 bis 19 Uhr, in einem Handyladen in der Fußgängerzone. Danach hat er noch ein paar Minuten, um bei Rewe um die Ecke Getränke zu kaufen. Spätestens um 19.30 Uhr muss er wieder im Gefängnis sein.
Seit dem 21. März dieses Jahres ist das Hatschers Tagesablauf. Und es soll noch bis Juni 2015 so gehen. Es sei denn, er wird vorzeitig auf Bewährung entlassen.
Vor eineinhalb Jahren noch führte Hatscher ein komfortableres Leben. Er war einer der Köpfe von Kino.to, der wohl erfolgreichsten Internet-Seite Deutschlands. Das Portal galt als erste Adresse, um kostenlos Kinofilme und Fernsehserien am PC zu schauen. In der Spitze tummelten sich vier Millionen Besucher am Tag auf der Web-Site und genossen einen Streifen nach dem anderen. Zur Auswahl standen zuletzt Kopien von 21 000 Kinofilmen, 107 000 TV-Serien-Folgen und 7000 Dokumentarfilmen.
Die Streaming-Anbieter im Internet
Typ: Radio-Streaming
Gestartet: 2008
Sitz: Berlin
Musikangebot: kein lineares Streaming
Besonderes: Auswahl von Stationen für Musikgattungen und Stimmungen, kostenloses Angebot mit Werbung und Abo-Modell
Typ:On-Demand-Streaming
Gestartet: 2007
Sitz: Paris
Musikangebot: 35 Millionen Titel
Typ: Radio-Streaming
Gestartet: 2002
Sitz: London
Musikangebot: kein lineares Streaming
Besonderes: Spielt nach Angabe von Lieblingsgruppen Musik von ähnlicher Richtung
Typ: Radio-Streaming
Gestartet: 2000
Sitz: Oakland, Kalifornien
Musikangebot: Spielt nach Vorgaben der Nutzer Musik in ähnlicher Richtung, in Deutschland nicht verfügbar
Typ: On-Demand-Streaming
Gestartet: 2005
Sitz: Berkeley, Kalifornien
Musikangebot: 16 Millionen Titel. In Deutschland nicht verfügbar
Typ: On-Demand-Streaming
Gestartet: 1999 als Tauschplattform, seit 2005 als kommerzieller On-Demand-Service
Sitz: Los Angeles
Musikangebot: 25 Millionen Titel
Typ: On-Demand-Streaming
Gestartet: 2011
Sitz: London
Musikangebot: mehr als 22 Millionen Titel
Typ: On-Demand-Streaming
Gestartet: 2010
Sitz: San Francisco
Musikangebot: mehr als 30 Millionen Titel
Typ: On-Demand-Streaming
Gestartet: 2009
Sitz: Köln
Musikangebot: mehr als 25 Millionen Titel
Typ: On-Demand-Streaming
Gestartet: 2008
Sitz: Stockholm
Musikangebot: über 20 Millionen Titel
Kino.to machte einen Millionenreibach durch Werbung, die auf der Web-Site lief. Hatscher und seine Kollegen hatten ein ganz „neues Medium neben Fernsehen und Lichtspielhäusern“ geschaffen, sollten Ermittler später feststellen. Kino.to arbeitete so erfolgreich, dass seine Macher sogar erwogen, Ableger im Ausland zu gründen.
Startschuss mit Schuhmacher
Das Geschäft hatte nur einen Nachteil: Es war illegal. Die Filme und TV-Serien auf Kino.to waren allesamt unerlaubt kopiert. Am Ende sollte das Unterfangen als größter Urheberrechtsklau in die noch junge Internet-Geschichte Deutschlands eingehen.
Es ist nach 19.30 Uhr, eigentlich müsste Hatscher längst zurück im Knast sein. Doch heute sitzt er, in Jeans und Hemd gekleidet, in einer Bierkneipe in der Zwickauer Innenstadt und nippt an einer Cola. Er darf länger frei herumlaufen, weil die WirtschaftsWoche der Vollzugsanstalt auf einem Formular bestätigen wird, dass Hatscher seine und die Geschichte von Kino.to erzählt haben wird. Eineinviertel Jahre zuvor, im Februar 2010, hatte die WirtschaftsWoche erstmals Details der Jagd nach Hatscher und seinen Kollegen geschildert.
Hatscher kann sich an jenen Tag, als Kino.to binnen Stunden zusammenbrach, nur noch verschwommen erinnern. Es war Mittwoch, der 8. Juni 2011, als bewaffnete Polizisten seine dreistöckige Luxuswohnung in einer Zwickauer Villa stürmten und der Staatsanwalt Kino.to ein für alle Mal abschaltete. Rund ein halbes Jahr später, am 21. Dezember 2011, verurteilte das Amtsgericht Leipzig Hatscher zu dreieinhalb Jahren Haft.
Wie der Sachse und seine Komplizen es so weit bringen konnten, wie es ihnen gelang, Millionen Deutsche zu Schwarzsehern zu machen, was das runde Dutzend beteiligter Männer und Frauen antrieb und wie sie zu Werke gingen, all das blieb bis heute unter Verschluss. Hatschers Schilderungen sowie die Ermittlungsakten von Polizei und Staatsanwaltschaft zeichnen nun erstmals ein vollständiges Bild dieser großen Online-Bambule gegen die internationale Film- und Fernsehindustrie: eine Melange aus Naivität, Geltungssucht, krimineller Energie und Überheblichkeit, die den Beteiligten am Ende zum Verhängnis wurde.