IBM und Rhön-Klinikum Wenn der Supercomputer die Diagnose stellt

Mit künstlicher Intelligenz gegen Krankheiten: Die Rhön-Klinikum AG nutzt das Computersystem Watson des IT-Konzerns IBM bei der Suche nach seltenen Syndromen – und künftig vielleicht auch im Krankenhausalltag.

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Bessere Medizin mithilfe Künstlicher Intelligenz? Die Rhön-Klinikum AG arbeitet zusammen mit IBM daran, die medizinische Versorgung zu verbessern. Quelle: dpa

Zürich Grauer Star, geschwollene Achillessehnen, dazu noch viel zu früh verkalkte Arterien: Als sich die Patientin in der Uniklinik Marburg vorstellte, hatte sie eine jahrelange Odyssee hinter sich. Keiner der zahlreichen konsultierten Ärzte konnte die Ursachen erkennen. Jürgen Schäfer und sein Team im Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (Zuse) sind auf solche Fälle spezialisiert – und stellten nach mehrtägiger Analyse fest: Die 40-Jährige hat eine seltene, vererbliche Stoffwechselerkrankung, Cerebrotendinöse Xanthomatose genannt.

Die Suche nach solchen seltenen Syndromen ist aufwendig. Schäfer und seine 15 Mitarbeiter durchforsten Arztbriefe und Laborbefunde, erfragen die Krankengeschichte und Lebensumstände, diskutieren in großer Runde. Doch die Diagnose könnte bald deutlich schneller gelingen: Die Rhön-Klinikum AG, die das Krankenhaus in Marburg betreibt, setzt künftig auf den Supercomputer Watson von IBM – der soll die Patientendaten nach Auffälligkeiten durchsuchen und die Ärzte darauf hinweisen.

In einem Pilotprojekt mit 500 Fällen ist der Machbarkeitsnachweis geglückt. Nun lotet das Unternehmen weitere Einsatzmöglichkeiten jenseits seltener Krankheiten aus: Wenn es gelinge, die komplexesten Fälle zu lösen, eigne sich das System auch für den Klinikalltag, etwa für die ambulante Aufnahme von Patienten, sagte Jens-Peter Neumann, Finanzchef der Rhön-Klinikum AG, bei der Präsentation in Zürich. „Wenn wir es hinbekommen, wird der ganze Behandlungsprozess dramatisch verändert.“

Unter Watson fasst IBM seine Bemühungen in Künstlicher Intelligenz zusammen – für den IT-Konzern die größte Wette auf die Zukunft. Die Stärke des Systems besteht in der Verarbeitung von Sprache: Wie 2011 beim TV-Quiz „Jeopardy“ demonstriert, kann es riesige Datenmengen analysieren, und zwar in kürzester Zeit. IBM will es nun zu einem Milliardengeschäft ausbauen, in der Medizin wie in anderen Branchen. Die Kooperation mit dem Rhön-Klinikum soll beweisen, dass es funktioniert.

Die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine könnte unter dem Titel „Watson und die Detektive“ stehen. Das System gleicht beispielsweise ab, auf welche Krankheiten die Symptome eines Patienten hinweisen könnten, oder welche Rolle die eingenommenen Medikamente spielen. Dann stellt es mehrere Hypothesen auf, versehen mit einer in Punkten ausgedrückten Wahrscheinlichkeit. Der Arzt überprüft sie – und kommt im besten Fall bei der Detektivarbeit deutlich schneller zum Ziel.

Die Forscher sammeln dafür sämtliche Patientendaten: Sie scannen dicke Akten ein und wandeln sie mittels einer Texterkennung in maschinenlesbare Informationen um, lassen sich von den Betroffenen zudem einen umfangreichen Online-Fragebogen ausfüllen. Das kann mehrere Stunden dauern, in extremen Fällen sogar zwei Tage. Doch für viele Betroffene ist Zeit das geringste Problem. „Die Geschichte der Patienten ist das Wichtigste“, betont Mediziner Schäfer.

Denn diese Daten gleichen die Forscher mit einem umfangreichen und unstrukturierten Wissensfundus über seltene Krankheiten ab. Diesen haben sie dem System zuvor eingetrichtert – aus medizinischen Datenbanken, Fachzeitschriften, aber etwa auch aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Und neue Erkenntnisse aus der Forschung, die sich ein Arzt erst mühsam anlesen müsste, lassen sich in kürzester Zeit hinzufügen. Mit der Analyse großer und unstrukturierter Datenmengen sind herkömmliche Computersysteme überfordert.

Dieses Prozedere beschleunigt die Suche enorm. Das lässt sich an der Patientin mit der seltenen Stoffwechselkrankheit festmachen: Schäfer und sein Team kamen dem Syndrom zwar auf die Spur. Aber: „Wofür wir mehrere Tage gebraucht haben, das erledigt Watson in ein paar Sekunden“, sagt der Mediziner. Sein Fazit: „Ich brauche in meiner Gruppe nicht mehr Ärzte, ich brauche mehr IT.“


Online-Befragung im Wartezimmer

Mehr IT, das könnte bald auch für den Klinikalltag gelten. Denn wenn der Computer die medizinisch wichtigen Informationen abfragt, bleibt dem Arzt mehr Zeit für die Behandlung – oder für mehr Patienten. Daher diskutiert die Rhön-Klinikum AG über andere Einsatzbereiche.

Ein Szenario: Wenn Patienten im Warteraum sitzen, könnten sie einen Online-Fragebogen ausfüllen, der dem Arzt die Anamnese erleichtert. Die Einführung könnte 2017 erfolgen. Denkbar ist auch ein „medizinisches Cockpit“ mit wichtigen Daten von Krankheiten über Diagnosen bis zu verschriebenen Medikamenten. Dafür muss die Klinik allerdings Partner gewinnen, vor allem die niedergelassenen Ärzte.

Das sind keine kurzfristigen Projekte, wie Neumann betont: Mindestens zwei bis drei Jahre müsse man dafür veranschlagen. Die Rhön-Klinikum AG sieht darin aber eine Möglichkeit, sich von der Konkurrenz abzuheben und so im umkämpften Markt zu bestehen. „Wir müssen den Service verbessern“, sagt der Manager. „Wenn sich das herumspricht, kommen mehr Patienten zu uns.“

Für IBM ist die Kooperation mit dem Rhön-Klinikum ein wichtiger Erfolg, um die Einsatzmöglichkeiten von Watson zu demonstrieren. Der Konzern baut derzeit sein Geschäft um: Komplettlösungen, bestehend aus Servern, Speichersystemen und Software und begleitet von Dienstleistungen, sind immer weniger gefragt. Viele Kunden setzen aufs Cloud-Computing und beziehen Standarddienste übers Internet, ohne große Beratung.

Watson soll dem Konzern nach vier Jahren schrumpfender Umsätze möglichst bald wieder Wachstum verschaffen. Potenzial sieht der Konzern in fast allen Branchen, vom Kundenservice bis zur Wettervorhersage, von der Krebstherapie bis zur Wartung. Der Marktforscher IDC prognostiziert, dass der Markt für Künstliche Intelligenz samt Hardware, Software und Diensten von acht Milliarden Dollar in diesem Jahr auf 47 Milliarden Dollar im Jahr 2020 wächst.

„Big Blue“ will sich einen wichtigen Teil dieses Zukunftsgeschäfts sichern. Doch wenn es um konkrete Erfolge geht, wird das Management verschwiegen. Wie viele Kunden das System nutzen und wie viel Umsatz es einbringt, schlüsselt es auch mehr als zwei Jahre nach der Gründung der Geschäftseinheit nicht auf. Im Jahresbericht 2015 heißt es lediglich, dass Cloud-Computing, Datenanalyse, IT-Sicherheit und mobile Anwendungen 35 Prozent zum Umsatz von 81,7 Milliarden Dollar beitrugen. Das lässt viel Spielraum für Interpretationen.

Projekte wie das in Marburg zeigen das Potenzial – und locken vielleicht andere Kunden an. Zum Beispiel Kliniken, die Watson auch als Assistenzarzt einsetzen wollen.

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