Was ein Jahr alles ändern kann. Im Juni 2000 verkündete der Halbleiterkonzern Infineon Zahlen, wie sie besser nicht sein könnten: alle Bereiche des Konzerns – von Kommunikation über Multimedia bis zur Auto- und Industrieelektronik – hatten Gewinn und Umsatz gesteigert. Mehr als eine Milliarde Euro pumpte Infineon in den Ausbau seiner Chipfabrik in Dresden. Die Welt brauchte Chips. Und Infineon lieferte sie.
Knapp ein Jahr später war von den Hochgefühlen nicht mehr viel übrig. Innerhalb von nur zwölf Monaten hatten die Chippreise um gut 80 Prozent nachgegeben. „Fast täglich“, befand im Sommer 2001 der „Tagesspiegel“, „überraschen Chiphersteller mit geringeren Absatzzahlen und schlechten Zukunftsprognosen.“ Es dauert nicht lange, so der mediale Tenor, und Infineon kämpfe ums Überleben.
Höhen und Tiefen liegen in der Halbleiterindustrie oft nahe beieinander. Schweinezyklus nennt die Branche diese Berg- und Talfahrt. Sobald die Preise für Mikroelektronik anziehen, investieren die Halbleiterkonzerne in ihre Fertigungen. Weil das alle Hersteller machen, wächst das Angebot meist schneller als die Nachfrage. Die Folge: Die Preise brechen ein und die Chipkonzerne fahren die Produktion wieder herunter. Wenn die Preise steigen, beginnt der Zyklus von neuem. Alle drei bis vier Jahre wiederholt sich dieses Schauspiel.
Das Jahr 2021 steht für die Chipbranche im Zeichen des steigenden Zyklus. Man könnte sogar von einem Superzyklus sprechen. Die Nachfrage nach Chips ist so gewaltig und das Angebot so gering, dass es seit Monaten zu teils dramatischen Engpässen in verschiedensten Branchen kommt. Die Autobauer müssen Bänder und ganze Werke stilllegen, weil Chips für wenige Cent fehlen. Das Flaggschiff der Unterhaltungselektronik, die Playstation 5 von Sony, ist wegen der Chip-Knappheit nicht lieferbar. Bald könnten sogar Alltagsgegenstände wie Geschirrspüler oder Haarföhns vom Chipmangel betroffen sein und für leere Regale speziell bei der sogenannten „Weißen Ware“ sorgen.
Wie im Jahr 2000 überbieten sich die Halbleiterhersteller mit Investitionen und dem Ausbau von Kapazitäten in ihren Werken. Längst hat der Hype um die Mikroelektronik die Politik erfasst. Getrieben durch die weltweiten Handelskonflikte und die Angst, am Ende ganz vom Chipnachschub aus dem Ausland abgeschnitten zu werden, wollen Deutschlands Wirtschaftsminister Peter Altmaier und EU-Industriekommissar Thierry Breton milliardenschwere Förderprogramme für die Halbleiterindustrie aufsetzen. Das soll Chipgiganten wie TSCM aus Taiwan, Intel oder Globalfoundries aus den USA dazu bewegen, in Europa zu investieren.
Wie schon im Jahr 2000 steckt auch Infineon wieder Milliardenbeträge in den Ausbau seiner Werke. Gerade eröffnet der Konzern seine neue Chipfabrik im österreichischen Villach. Auch in seinem Dresdner Werk erweitert Infineon die Kapazitäten. Wächst das Angebot mit all diesen Investitionen nun abermals schneller als die Nachfrage? Und wie lange wird der Boom für Infineon noch andauern?
Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass von Infineon-Chef Reinhard Ploss gerade die Zukunft von Deutschlands wichtigster Industrie abhängt. Kein anderer Halbleiterhersteller baut so viele Chips für die Autoindustrie wie Infineon. Die Chips des Konzerns aus Neubiberg bei München stecken in Autos aller namhaften Hersteller. Ohne die Mikrobauteile der Münchener würden die Bänder der Autobauer wohl endgültig stillstehen. Die Transformation zur E-Mobilität wäre ohne den Nachschub an Halbleitern des deutschen Chip-Riesen nicht möglich.
Wie wichtig die Autoindustrie für Infineon ist, betont Ploss immer wieder. Und doch kann er die enorme Nachfrage momentan nicht bedienen. „Die derzeitige Situation ist außergewöhnlich“, sagt Ploss im WirtschaftsWoche-Podcast „Chefgespräch“. So hätten Home-Office und Home-Schooling die Chipnachfrage während der Pandemie getrieben. Gleichzeitig habe die Automobilindustrie nach Rückgängen zu Anfang der Pandemie längst wieder zu alter Stärke gefunden. „Das ist eine Situation, die wir sehr selten erleben. Meist boomen ein paar Branchen und andere schwächeln, sodass sich das ausgleicht. Aber derzeit boomen viele Märkte gleichzeitig“, so Ploss.
Zu kämpfen hatte Infineon zudem mit äußeren Ereignissen. „Der Wintersturm in Austin in Texas und Corona in Malaysia kamen obendrauf“, sagt Ploss. Beide Ereignisse hatten Fabriken von Infineon kurzfristig lahmgelegt. Dass der Konzern trotz dieser Pannen den Quartalsgewinn von 209 Millionen Euro aus dem Vergleichsquartal des Vorjahres auf aktuell 245 Millionen Euro steigern konnte, sieht Ploss als Beweis für das gute Management innerhalb von Infineon. „Wenn wir auch bei solchen Einschlägen noch alles im Griff haben, kann man auch mal fünf Minuten zufrieden sein“, so Ploss im WirtschaftsWoche-Podcast.
Ein Grund für den gestiegenen Gewinn dürften auch die angehobenen Preise des Münchener Chipbauers sein. „Wir werden die Preise erhöhen oder haben sie schon erhöht“, sagt Ploss und verweist auf die gestiegenen Fertigungskosten, die der Konzern weiterreichen müsse. Ploss betont, dass Infineon auf einen „fairen Ansatz“ gegenüber seinen „Partnern in der Automotive-Industrie“ setze. So seien Konkurrenten von Infineon „scheinbar aggressiver“ als der Münchener Konzern bei der Preisanhebung vorgegangen.
Wie stark die Preise für die Chips gestiegen sind, ist das wohl bestgehütete Geheimnis der Branche. „Preisanpassungen in Zeiten von Nachfrageüberschuss sind allgemein üblich“, sagt McKinsey-Berater Ondrej Burkacky. Besonders groß sei der Chipmangel laut dem Berater bei den sogenannten Logikchips, die Informationen der Sensoren verarbeiten und Wenn-Dann-Operationen ausführen. Gleichzeitig kosten viele dieser Chips nicht viel mehr als 50 Cent.
Parallelen zwischen der heutigen Situation der Chipindustrie und der im Jahr 2000 gebe es laut Reinhard Ploss durchaus. „1999 und 2000 waren die Jahre des E-Business und des Hypes. Auch damals ging dieser Hype mit einer katastrophalen Allokation einher“, so Ploss im Podcast. Doch da würde der Vergleich auch enden. So sei die aktuelle Chipknappheit zwar „nicht ganz neu“, aber laut Ploss „komplett anders“ als im Jahr 2000.
Das verdeutlichen auch die Prognosen von Infineon. So geht der Konzern von einem längerfristigen Umsatzwachstum von neun Prozent pro Jahr aus – also über den Zyklus hinweg. Besonderes Wachstum versprechen sich die Münchener von der E-Mobilität. So sieht der Konzern eine seiner Stärken bei Leistungshalbleitern, die sowohl für die Elektroantriebe als auch für die Ladeinfrastruktur benötigt werden. Zwischen 2020 und 2022 würden laut dem Konzern mehr als 35 Elektrofahrzeugmodelle auf den Markt kommen, die Infineon-Chips im E-Antrieb nutzen.
Ploss ist sich sicher, dass der Konzern von der Situation im Jahr 2000 gelernt hat. „Die Phase im Jahr 2000, in der wir Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt waren, hat den Konzern sehr geprägt. Das hat allen vor Augen geführt, dass der Erfolg nicht nur in der Boomphase, sondern eben auch in der Krise zu beweisen ist“, sagt Ploss. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dem damaligen Absturz für Ploss: „Wenn es schwieriger wird, diskutieren wir im heutigen Infineon nicht lange, sondern treten gemeinsam auf die Bremse.“
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