Inmitten von Kriegsgetrommel Der erstaunliche Aufschwung der ukrainischen Coder-Szene

Softwareentwickler in der Ukraine: Coden im Kriegsgetrommel. Quelle: Getty Images

Die Ukraine gilt als Software-Paradies für deutsche Unternehmen – trotz hoher Preise. Angesichts der militärischen Bedrohung aus Russland entwickelt die Coder-Szene Krisenpläne.

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Sollten russische Panzer in die Ukraine einfallen, ist für das Wohl der Coder im Land gesorgt. Der ukrainische Programmier-Dienstleister Intellias würde im Falle einer Invasion seine 2000 Tech-Experten aus der Ukraine ins benachbarte Ausland schaffen. In Serbien und Polen betreibt das Unternehmen zusätzliche Büros. „Wir denken nicht, dass der Konflikt zum Krieg führt“, sagt Mark Gomes, der für das Unternehmen die Verkäufe in Europa abwickelt. Aber für alle Fälle gebe es einen Plan.

Seine Kunden zeigten sich nämlich besorgt. Die Fragen, die Gomes seit Wochen aus dem Ausland erreichen, werden bestimmter: Kurz nach Neujahr hätten die Manager nach der allgemeinen Lage im Land gefragt. Jetzt gehe es bereits konkreter um Business-Krisenpläne. Gomes will seine Kunden beruhigen: „In keinem realistischen Szenario wird es zu Serviceausfällen kommen.“

Vor allem den Deutschen ist es wichtig, dass die Geschäfte weiterlaufen. Rund die Hälfte der 100 Kunden von Intellias kommen aus der DACH-Region, also Deutschland, Österreich und der Schweiz. Darunter Mittelständler wie die Kreditvergleichsplattform Smava oder der Essenslieferant HelloFresh. Für sie übernimmt der Dienstleister aus dem Osten alles, was im IT-Bereich anfällt. Die Experten programmieren Apps, fahren Sicherheitstests, implementieren smarte Verträge auf Basis von Blockchain. Mal springen sie als Feuerwehrleute ein, wenn Kunden etwas dringend erledigen müssen. Für andere stellen sie seit Jahren die gesamte IT-Abteilung.

Auf Dienstleister wie Intellias können deutsche Unternehmen kaum verzichten. Die Ukraine gilt als eines der beliebtesten Standorte, wenn es darum geht, Softwareaufgaben outzusourcen. Eine ganze Armada von ukrainischen Agenturen und Freelancern programmieren, designen und planen für ihre ausländischen Kunden. Lange stöbern braucht man nach ihnen nicht. Mit wenigen Klicks im Netz stoßen Interessenten auf schick gestaltete Seiten mit Werbevideos und teilweise deutschen Telefonnummern für Ansprechpartner.

Die Gründe für den Branchenboom im ehemaligen Sowjetstaat liegen auf der Hand. Während in Deutschland das Digitalgeschäft immer wichtiger wird, fehlen im Maschinenraum die Digitalkräfte. Die zu finden und zu bezahlen wird immer schwieriger. In der Ukraine scheint das Angebot hingegen unerschöpflich. Etwa 250.000 Programmierer gibt es, knapp 30.000 kommen jährlich dazu, schätzen Berater. Ihre Expertise ist in der Regel deutlich günstiger. Verglichen mit einem Spezialisten in Westeuropa zahlen Firmen in der Ukraine fast die Hälfte weniger.

Dazu kommt die physische Nähe: Frankfurt und Kiew etwa trennt nur ein Flug von drei Stunden. Marketingleute ersannen darum den Begriff „Nearsourcing“. Die Distanz soll sogar auf der kulturellen Ebene wichtig sein. Im Gegensatz zu Programmierern in Asien seien die Absprachen zwischen Kunden und Codern in der Ukraine einfacher und führten schneller zum Ziel, erklärt Mark Gomes von Intellias. Managern rät er: „Wenn Sie Aufgaben skalieren und bis ins Detail ausformulieren, gehen Sie ins günstigere Indien. Ist die Aufgabe komplexer, ist Ukraine die bessere Wahl.“

Allein im Jahr 2021 erzielte die IT-Branche in der Ukraine fünf Milliarden Dollar Umsatz, wuchs um 20 Prozent und steuerte vier Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. Ein Entwicklungsmotor und ein echter Hoffnungsschimmer im ansonsten armen Land. Könnte der Konflikt mit Russland den Boom stoppen?

(Lesen Sie auch unsere Analyse zum ukrainischen Kryptoboom: Die Kryptoindustrie in der Ukraine boomt – aber wie lange noch?)

Sollten russische Panzer wirklich in die Ukraine eindringen, wäre die Stadt Charkiw die erste, die sie erreichen könnten. Nur eine Stunde Fahrtzeit liegt die Metropole von der Grenze im Osten entfernt. Die allermeisten Bewohner zählen Russisch als ihre Muttersprache. In Putins Welt liegt die Region damit in der vergrößerten russischen Einflusssphäre.

Maxym Babych glaubt trotzten nicht, dass es zu einem militärischen Konflikt kommt. „In den vergangenen acht Jahren haben wir uns an die Provokationen und die Schlagzeilen in den Medien gewöhnt“, sagt er. Seit 2013 leitet der 30-Jährige in Charkiw die Agentur SPDLoad. Das Geld verdient die Coderbude auch mit deutschen Autobauern, für die sie Software schreiben.

Wie viele der Programmierer im Land bezeichnet Babych sich als apolitisch. Nachrichten verfolgt er nur am Rande. Bei dem Zoom-Anruf wirkt er gut gelaunt. Im Hintergrund scherzen Freunde, die zu Besuch gekommen sind. Gerade klingelte an der Tür der Essenslieferant.

Grund zur guten Laune hat er genug: Trotz Kriegsgetrommel laufen die Geschäfte blendend, wie Maxym versichert. Das Unternehmen ist im vergangenen Jahr wiederholt zweistellig gewachsen. Genaue Zahlen will der Geschäftsführer nicht nennen, solche Informationen seien bei ihnen nicht üblich.

„Ich weigere mich, in eine unaufhaltsame Kriegsrhetorik zu verfallen“

In seinen Augen unterscheide die Programmierer in Westeuropa und die Ukrainer vor allem eines: „Qualität, Qualität, Qualität“. So erzählt er. Für ihn habe die ihren Preis. 30 Prozent mehr als in Frankreich oder Deutschland verlangt er für die Fähigkeiten seiner Experten. Die Kunden kämen trotzdem.

„Die Deutschen wissen, dass unsere guten Leute besser sind“, sagt er selbstbewusst. Die Coder skripteten schneller, bauten weniger Fehler. In der Regel sei ein guter Junior in der Ukraine so gut wie ein Senior in Deutschland. Der Grund liegt ihm zufolge in der hervorragenden mathematischen Ausbildung an den Universitäten – ein Erbe des Systemwettbewerbs im Kalten Krieg, das die sowjetische Ingenieursausbildung ungemein förderte. Es liege aber auch an den mangelnden Jobperspektiven im Land, findet Babych. „Wenn du hier etwas auf ehrliche Weise erreichen willst, gehst du in die IT.“

Maxym Babych selbst ist dafür das beste Beispiel: Aufgewachsen in armen Verhältnissen während der turbulenten 90er Jahre, bugsierte er im Alter von 14 Schubkarren auf Baustellen, um die Familienkasse aufzupeppen. Einen Dollar am Tag verdiente er damals, wie er sich erinnert. Noch als Teenager begann er, an alten Computern zu basteln. Das Programmieren brachte er sich in der Freizeit bei und erledigte aus der Studentenbude heraus die ersten Aufträge. „Ich bin nur Geschäftsführer geworden, weil ich Coden ziemlich langweilig finde“, erzählt er, während er seine Suppe löffelt.

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Zu den größten Problemen im Land zählt der Jungunternehmer nicht den drohenden Krieg, sondern die wachsende Ungleichheit. Die meisten Menschen in der Ukraine könnten mit ihrem Monatseinkommen gerade einmal für die Wohnung und das Essen aufkommen, findet er. Beschäftigte im IT-Bereich könnten sich hingegen zwei Wohnungen im Jahr leisten. „Wir gehören zur globalen Elite“, sagt Babych trocken.

Sollte es wirklich zum Krieg kommen, so der Eindruck, wären Coder wie Maxym Babych sicher nicht die ersten, um die sich die Weltgemeinschaft sorgen müsste.

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