Künstliche Intelligenz Japans große Aufholjagd

Der Roboterpionier Japan hat bei Künstlicher Intelligenz den Anschluss verloren. Nun versucht das Land, den Rückstand wieder aufzuholen. Das zeigt vor allem die Hausmesse des japanischen Technikkonzerns Fujitsu.

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Der kleine Roboter soll eine große Zukunft haben. Fujitsu will ihn dazu dressieren, Bankkunden durch Anträge für einen Hypothekenkredit zu führen. Quelle: Martin Kölling

Tokio Ein Roboter hier, ein neuer Superchip für künstliche Intelligenz da, und dazu ganz viele Beispiele für digitalisierte Fabriken – für Joseph Reger ist die Hausmesse des japanischen Technikkonzerns Fujitsu in Tokio fast ein Heimspiel. Als Chief Technology Officer von Fujitsu sitzt er zwar in München. Aber er ist Stammgast in Japan, denn Fujitsu ist eine von Japans treibenden Kräften in seinem Metier: der künstlichen Intelligenz.

In Deutschland ist Fujitsu als Erbe von Siemens-Nixdorf zwar in der Computer- und Serverherstellung aktiv. „Aber in Japan wird noch immer ein Großteil der Entwicklung gemacht“, sagt Reger dem Handelsblatt auf der Hausmesse. Und die ist nicht nur in Fujitsus Heimat ein Publikumsmagnet.

Googles Entwicklerkonferenz mag gerade mit ihren neuen Visionen global Schlagzeilen gemacht. Aber zu Fujitsu sind zwischen Mittwoch und Freitag immerhin etwa 20.000 japanische Ingenieure und Manager geströmt, zum deutschen Ableger in München kamen im Herbst immerhin 14.000 Menschen. Denn offenbar wollen die Macher der beiden Exportnationen sich anschauen und diskutieren, wie schon heute mit Robotern und Künstlicher Intelligenz das Arbeiten und Leben revolutioniert werden kann.

Der Grund ist einfach: Als klassischer Systemintegrator und Hersteller von Informations- und Kommunikationstechnik ist Fujitsu in Japan ein Riese auf dem Gebiet. „Mehr als 50 Prozent der ausgestellten Dienste und Produkte sind neu“, sagt Reger. Und das meiste sei aus dem Bereich Maschinenlernen, ein Bereich, bei dem die meisten Weltbürger eher an Google und die USA denken als an Japan.

Doch die Welt täte gut daran, umzulernen. Zwar hat der Roboterpionier Japan tatsächlich in den vergangenen Jahren die Führung an die USA verloren, urteilte jüngst das Beratungsunternehmen Frost & Sullivan. Und der Maschinenbau hinke bei der Vernetzung digitalisierter Fabriken um zwei bis drei Jahren hinter den deutschen Rivalen her, sagte Wolfgang Wahlster, Chef des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, dem Handelsblatt jüngst.

Nur wollen die Japaner dies mit einer weiteren Aufholjagd ändern. Detlef Zühlke, Gründer der Technologie-Initiative SmartFactory, meint zum Handelsblatt, dass Japan nach der Erdbeben-, Tsunami- und Atomkatastrophe im Jahr 2011 den globalen Trend vernachlässigt hat. Doch in seinen Augen hat das Land erkannt, was die Stunde geschlagen hat. „Japan hat den Anschluss verloren,“ sagt der Produktionsexperte. „Allerdings holt das Land jetzt mit Riesenschritten auf.“ Er nehme das sehr ernst.

Tatsächlich wendet Japan ein Rezept an, das sich immer wieder bei Japans Aufholjagden bewährt hat: das Zusammenspiel von Staat, Konsortien und individuellen Investitionsoffensiven der Unternehmen. Als Antwort auf die deutsche Initiative Industrie 4.0 hat Japans Regierung beispielsweise die Society 5.0 ins Leben gerufen und zu einem der wichtigsten Pfeiler ihrer nationalen Wachstumsstrategie gekürt.

In diesem Fall werden die Anstrengungen sogar wie bei Japans Spurt zur Elektronikgroßmacht vor 50 Jahren in einem nationalen Großereignis gebündelt: der Olympiade. 1964 dienten die Olympischen Spiele in Tokio dem Land dazu, mit Prestigeprojekten wie dem Superschnellzug Shinkansen den Sprung in die Hightechwirtschaft zu schaffen. 2020 soll das globale Sportfest nach dem Willen von Ministerpräsident Shinzo Abe zu einem Schaufenster für die smarte Version von „Made in Japan“ werden. Und die Unternehmen ziehen mit.


Die Japan-AG investiert

Japans Autofirmen haben zusammen mit Zulieferern und Softwareentwicklern die Initiative „Automotive Grade Linux“ gegründet. Gemeinsam entwickeln sie ein offenes Betriebssystem für Autos, um die Kontrolle über die Fahrdaten nicht an Apple oder Google zu verlieren. Daimler trat im Anfang des Jahres zu dem Bund bei.

Gleichzeitig investieren die Hersteller massiv in die eigene Zukunft. Japans sieben führende Autobauer haben diesen Monat in ihren Jahresbilanzen erklärt, dass sie 2017 trotz sinkender Gewinne die Rekordsumme von 23 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgeben wollen. Ein wichtiger Beweggrund ist autonomes Fahren. Denn während der Olympiade sollen schließlich die ersten Robotertaxis in einigen Regionen der Hauptstadt Passagiere befördern.

Auch die Elektronikindustrie springt auf den Zug auf. Der Elektronikkonzern Panasonic beispielsweise kündigte im April an, in fünf Jahren ein Heer von 1000 Ingenieuren aufzubauen, das Maschinen und Systemen das Fühlen und Denken einprogrammieren soll. Selbst Japans konservative Finanzindustrie umarmt den neuen Trend. Versicherer und Broker investieren in Chatbots und smarte Systeme zur Bewertung von Schäden oder dem Aufspüren verdächtiger Transaktionen.

Einige Finanzinstitute streben dabei gleich in die Welt hinaus. Die Großbank Mizuho arbeitet mit Fujitsu an einer eigenen virtuellen Währung für nationale und internationale Transaktionen. „Wenn wir eine Plattform entwickeln, werden wir vielleicht versuchen, sie zu exportieren“, sagte Daisuke Yamada, Mizuhos Chief Digital Innovation Officer, auf dem Fujitsu Forum.

Ein weiterer Hoffnungsschimmer ist Japans Industriestruktur. Mit ihrem starken Fokus auf der verarbeitenden Industrie im Allgemeinen und dem Maschinen- und Anlagenbau oder der Autoherstellung im Besonderen ähnelt sie Deutschlands. Doch es gibt wichtige Unterschiede, die Japans traditionelle Fähigkeit zur Aufholjagd teilweise erklären.

Erstens die Zahl der Rivalen: Wenn es in Deutschland ein oder wenige Unternehmen in einem Feld gibt, treibt sich in Japan gleich eine Gruppe zu Höchstleistungen an. Deutschland hat Siemens, Japan mit Hitachi, NEC, Toshiba gleich mehrere Technikkonzerne.

Bei Industrierobotern wiederholt sich das Bild: Deutschland hat Kuka, wenn auch das Unternehmen nun in chinesischer Hand ist. In Japan konkurrieren Fanuc, Yaskawa, Kawasaki Heavy um die Ausrüstung der Fabriken. Und sie bekommen dabei noch neue einheimische Rivalen wie Japans größten Automobilzulieferer Denso oder den Mobilnetzbetreiber und Technikinvestor SoftBank, der mit hohen Investitionen zu einer Weltmacht in Robotik und künstlicher Intelligenz werden will.


Japan im Kampf mit sich selbst

Auch in der Chipindustrie bietet Japan gleich mehrere Riesen auf, die in die nächste industrielle Revolution investieren. Toshiba ist stark bei Speicherchips, Renesas im Automobilsektor, Sony bei Bildsensoren für Kameras und Smartphones.

Darüber hinaus gibt es in Japan noch Industrien, die in Europa weitgehend ausgestorben sind. Elektronikriesen wie Panasonic und Sony sind nach Jahren der Krise wieder am Wachsen und Investieren.

Doch noch wichtiger für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz sind Japans alte Computer- und Supercomputerhersteller wie Hitachi, NEC und eben Fujitsu. Sie modeln sich zu Softwareriesen, Plattformanbietern und Dienstleistern um, um global mit Riesen wie IBM oder Plattformanbietern wie Amazon zu konkurrieren.

Die guten Bedingungen sind allerdings kein Erfolgsgarant für die neue Zeit. Denn für die bestehenden Firmen und Gesellschaften kommt es darauf an, wie gut und vor allem wie schnell die Wirtschaft die neuen Technologien mit den bestehenden Prozessen verbinden und neue Geschäftsmodelle entwickeln kann, meint Produktionsexperte Zühlke. Und der Stress ist enorm, da sich die Innovationszyklen immer stärker verkürzen.

Es gibt daher durchaus Zweifel an Japans Erfolgsaussichten. In vielen Bereichen treten plötzlich neue Wettbewerber auf. Fujitsu beispielsweise muss sich bei seinem Vorstoß im Cloud-Computing, Datenanalyse und Dienstleistungen nicht nur mit den gewohnte Rivalen wie IBM oder Intel messen, sondern auch mit Firmen wie Amazon, Microsoft oder gar Beratungsunternehmen wie Accenture. Und der Erfolg der Vergangenheit könnte die Menschen und Firmen soweit durchdrungen haben, dass sie vielleicht nicht schnell genug umlernen können, unkt der japanische Trendforscher Morinosuke Kawaguchi.

Aber Fujitsus europäischer Technikexperte Reger sieht einen Faktor am Werk, der Japan hilft: die soziale Akzeptanz einer immer vollständigeren Vernetzung von Menschen und Maschinen. Eine Besonderheit Japans ist für Reger der Drang, alten Menschen mit Robotern oder intelligenten Systeme länger ein selbstständiges Leben in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen. „Da geht es um Hilfe und – ich sage es mit Absicht – Überwachung der Menschen“, so Reger.

Künftig könnten die Systeme das Leben und die Lebensfunktionen der Senioren rund um die Uhr aufzeichnen und an Unternehmen oder Organisationen schicken, die die Daten speichern, auswerten und Ärzten, Pflegern und den Menschen selbst Tipps für den Alltag und die ärztliche Behandlung geben. In Deutschland würden sich viele Menschen mit so viel Überwachung nicht wohl fühlen, meint Reger. „Hier in Japan wird die Technik allerdings mit Begeisterung aufgenommen, weil sie dazu dient, das Leben erträglicher zu gestalten.“

Leicht fällt der Wandel dabei weder Gesellschaft noch den Firmen. Fujitsu baut seit Jahren um, um in der neuen Zeit relevant zu bleiben – mit gemischtem Erfolg: Im März abgelaufenen Bilanzjahr 2016 sank der Umsatz um fast fünf Prozent auf 36 Milliarden Euro. Doch immerhin stieg der Gewinn leicht auf etwas mehr als eine Milliarde Euro.


Google und Amazon geben den Ton an

Obwohl die Japaner damit finanziell hinter Riesen wie Google oder Amazon hinterherhinken, wollen sie dennoch zu einer globalen Größe bei Datendiensten und Lösungen für die vernetzte Welt werden. Dabei will das Unternehmen seine eigene Geschichte als Hardwarehersteller und damit die Fähigkeit, eigene Technik zu entwickeln nutzen, um sich von den Rivalen abzuheben, erklärt Reger. Der Fokus des Geschäfts liegt zuerst auf Asien und Europa, so der Technikexperte. Das Geschäft in den USA sei zwar klein, wachse aber „hübsch“.

Die Verbindung von Technik und Dienstleistung wird auch auf Fujitsus Hausmesse deutlich: Einer der Stars ist ein neuer Chip, der Maschinen schneller Lernen lassen soll. Deep Learning Unit heißt das Produkt, das zehn Mal schneller rechnen können soll als die Grafikprozessoren von Nvidia, die derzeit meist die neuronalen Computernetze bilden.

Und damit die künstlichen Hirne auch einen kühlen Kopf bewahren, hat Fujitsu gleich auch eine neue Kühlung entwickelt. Die Serverplatten werden in einer Flüssigkeit gelagert, die keinen Strom leitet. Genauer gesagt handelt es sich um Fluorcarbone, die bisher für die Reinigung von Halbleitern eingesetzt werden.

Dieses System soll ab Ende des Jahres in Datenzentren die Klimaanlagen ersetzen. Zwar kostet es mehr, aber dafür soll es den Strombedarf um 40 Prozent und den Raumbedarf um mehr als 50 Prozent sinken, sagt ein Ingenieur.

Doch beim Großteil der Präsentationen handelt es sich um Anwendungen: der Erkennung verschiedenster Verkehrsteilnehmer, der Beobachtung von Menschen- und Verkehrsströmen in Städten, Datensicherheit, vollständigen digitalisierten Fabriken, mehrsprachigen Übersetzungsprogramme für Touristen, die nach dem Weg fragen oder mit Ärzten kommunizieren wollen.

Im Wettbewerb mit den vermeintlich agileren amerikanischen Herausforderern sind die Japaner nicht chancenlos, meint Reger. Denn mit dieser Kombination aus Hard- und Software geht für ihn in Japan, aber auch in Deutschland ein Denken einher, das in der nächsten Stufe der Revolution ein Wettbewerbsvorteil sein könnte: die Zusammenarbeit zwischen Kunden und Anbieter oder im Fujitsu-Jargon die „digitale Co-Creation“.

Die USA hätten mit ihrem Risikokapital und Zentren wie dem Silicon Valley zwar eine Innovationsszene, die andere Länder nicht einfach nachbauen könnten. Die Firmen gingen auch sehr viel disruptiver vor und würden wie Amazon oder Uber davon träumen, global ganze Industrien zu erobern.

„Aber nur wenige dieser Start-ups wollen Co-Kreation“, meint Reger. Und gerade auf die kommt es seiner Meinung nach gerade in Herstellernationen wie Deutschland oder Japan an. „Es ist ja nicht die Hauptaufgabe, bestehende Industrien zu zerstören“, sagt Reger. Vielmehr geht es beiden Ländern darum, durch die Digitalisierung bestehender Unternehmen den Wohlstand zu erhalten.

Deutschen Firmen hilft dabei in Japan, dass die Japaner mit großem Respekt nach Deutschland schauen. „Industrie 4.0 ist ein Wertbegriff hier in Japan“, sagt Reger. Aber wie Japans großer Auftritt auf der deutschen Messe Cebit in diesem Jahr zeigte, suchen die Unternehmen in Europa nicht nur nach Partnern, sondern auch nach Kunden.

Weit über 100 japanische Firmen stellten in Hannover aus. Und sie haben das Zeug dazu, auch in der neuen Zeit wieder zu Rivalen für deutsche Firmen zu werden. „Japans Unternehmen haben sich schon lange nicht mehr so schnell geändert wie in den letzten Jahren“, meint Reger, „und das bedeutet Gutes für Japan.“

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