Microsoft-Forscher Dave Brown streicht über ein mannshohes Display, das vor ihm in einem Konferenzraum am Hauptsitz des Softwaregiganten in Redmond nahe Seattle aufgebaut ist. Wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm fliegen Tausende weißer, roter und gelber Punkte auseinander, um sich neu zusammenzusetzen. Gerade haben sie noch die geografische Verteilung von Wirbelstürmen über den USA in den vergangenen 30 Jahren dargestellt. Nun zeigen sie in einer dreidimensionalen Wolke deren Heftigkeit. All das ist blitzschnell gegangen. Die Daten stammen aus einer simplen Excel-Tabelle. Die neue Anordnung hat ein Algorithmus vorgeschlagen. Ihre Optik ist phänomenal.
Brown arbeitet nun seit 15 Jahren für Microsoft. Was ihn an der Wirbelsturm-Vorführung erstaunt, ist nicht, dass so eine Auswertung so schnell möglich ist – sondern dass sie mittlerweile bei Microsoft möglich ist.
Die Daten, die optische Aufbereitung, die Präsentation – in der alten Microsoft-Welt wären über all diese Punkte die großkonzernüblichen Grabenkämpfe ausgebrochen: Welche Sparte darf die Neuentwicklung präsentieren, welche darf sie nutzen, wo kommen Kompetenzen und Geld her, sie weiterzuentwickeln? Nun aber sagt Brown, er könne nicht nur mit verschiedenen Abteilungen kooperieren, sondern auch selber auf diese zugehen. Das ermögliche Dinge, die bisher unmöglich schienen. Jedenfalls nicht in diesem Tempo.
„Es zählt nicht mehr, wer andere überflügelt hat, sondern was als gemeinsames Produkt herauskommt“, sagt Julie Larson-Green, seit Kurzem Chefin von Microsofts Bestseller Office. Statt wie früher Einzelkämpfer zu belohnen und Abteilungen untereinander auszuspielen, wird nun befördert, wer die konzernweite Zusammenarbeit vorantreibt. „Der Gewinner ist nicht mehr das Individuum, sondern Microsoft und damit letztlich der Kunde“, sagt Larson-Green.
Und das hat viel mit ihrem Chef zu tun: Seitdem Satya Nadella vor zwei Jahren antrat, Microsoft zu führen, ist bei dem einst etwas langweilig gewordenen Windows- und Office-Unternehmen wenig geblieben, wie es war. Dem schmächtigen Ingenieur aus Hyderabad ist ein Kunststück gelungen, das ihm kaum jemand zugetraut hat. Microsoft gilt wieder als hip, wird als dynamisch, aufgeschlossen, experimentierfreudig und innovativ wahrgenommen. Statt um Windows oder Word geht es um virtuelle Realität, künstliche Intelligenz, vernetztes Produzieren.
Damit hat Microsoft 2015 am meisten umgesetzt
Der Gesamtumsatz von Microsoft im Geschäftsjahr 2015 betrug 93,6 Mrd. Dollar.
Quelle: Microsoft
Ganze 41 Mrd. Dollar des Gesamtumsatzes entfielen auf Softwarelizenzen für Unternehmen wie die Datenbank-Management-Software SQL Server oder die Unternehmenssoftware Dynamics.
15 Milliarden Dollar kamen aus Softwarelizenzen für PC-Hersteller und Endkunden.
"Sonstige" Unternehmenserlöse (etwa die Cloud-Plattform Azure, das Cloud-Paket Office 365) brachten dem Konzern 11,1 Milliarden Dollar Umsatz.
10,2 Milliarden Dollar Umsatz generierte Microsoft aus dem Verkauf von Computer- und Spiele-Hardware (Xbox-Spielkonsole, Surface-Tablet)
Der App-Shop Windows Store und das Cloud-Paket Office 365 etwa, also sonstige Geräte- und Endkundenerlöse, brachten Microsoft 8,8 Milliarden Dollar Umsatz.
Die Lumia-Smartphones, also Microsofts Mobiltelefone, trugen 7,5 Milliarden Dollar zum Umsatz bei.
Mit drei Schritten hat Nadella das geschafft: Er hat intern Strukturen aufgebrochen, er hat nach außen Feindbilder abgebaut und den Konzern für Kooperationen geöffnet, und er hat ein klares Bild von der Zukunft entworfen, was mit der Vergangenheit allenfalls noch in Teilen der Bilanz zu tun hat: „Mobil zuerst, Cloud zuerst.“
Wie anders war die Welt bei Nadellas Amtsantritt im Februar 2014. Zwar hatte Vorgänger Steve Ballmer den Umsatz des Konzerns verdreifacht. Doch Microsoft galt als Dinosaurier, der von den verblichenen Erfolgen seiner Kernprodukte Windows und Office zehrte. Das Boomgeschäft Smartphones hatte man Apple und Google überlassen. Die Suchmaschine Bing war von Google abgehängt. Im Cloud Computing hatte sich Amazon breitgemacht.
Das ist Satya Nadella
Satya Nadella wurde 1967 in der indischen Großstadt Hyderabad als Sohn eines hochrangigen Beamten geboren. Nach der Schulausbildung studierte er zunächst Elektroingenieurwesen in Indien, dann Computer Science und Management in den USA.
Bevor Nadella 1992 zu Microsoft wechselte, arbeitete er als Elektroingenieur beim Silicon-Valley-Urgestein Sun Microsystems. Das Unternehmen wurde später von Oracle übernommen.
Nadella war bei Microsoft maßgeblich an der Entwicklung der Suchmaschine Bing sowie des Bürosoftwarepakets Office beteiligt. Bevor er zum CEO aufstieg, leitete er beim Softwarekonzern das wichtige Cloud- und Unternehmensgeschäft.
Nadella ist verheiratet und hat drei Kinder. Mit seiner Familie lebt er in Bellevue im US-Bundesstaat Washington. Medien beschreiben ihn als einen Mann der leisen und überlegten Töne.
In diesen einstigen Problemmärkten punktet Nadella nun. Die Microsoft-Aktie, die 15 Jahre vor sich hindümpelte, hat wieder fast die Rekordsphären von Ende der Neunzigerjahre erreicht, dem Höhepunkt des Windows- und Office-Monopols. Zwar ist der Gewinn wegen hoher Investitionen und niedriger Margen im Geschäftsjahr 2015 auf 12 Milliarden Dollar gesackt, zehn Milliarden weniger als im Jahr zuvor. Doch der Umsatz legte im gleichen Zeitraum von 86,8 Milliarden Dollar auf 93,5 Milliarden Dollar zu. Läuft alles nach Plan, könnte Microsoft im nächsten Jahr die 100-Milliarden-Dollar Grenze beim Umsatz überspringen.
Nach Vorlage der jüngsten Quartalszahlen brach der Kurs dennoch um rund zehn Prozent ein, nachdem der Umsatz des Hoffnungsträgers Cloud-Sparte um drei Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen war. Der Ausreißer zeigt, dass auch unter Nadella nicht alles glattläuft. Er selbst sieht die Reaktion der Börse eher gelassen: „Ich kümmere mich bei einzelnen Quartalsberichten nicht so sehr um die Marktreaktion, sondern ich möchte unseren Investoren zeigen, dass wir gut in den neuen Geschäftsfeldern unterwegs sind“.
Aktive Unterstützung
„Gemessen an den derzeit bekannten Produkten, halte ich Microsoft momentan sogar für innovativer als Apple“, lobt Patrick Moorhead. Der Branchenanalyst, ehemals Strategiechef des Halbleiterherstellers AMD, ist nicht nur von Microsofts Datenbrille Hololens angetan, die Gegenstände in den Raum projiziert und möglicher Nachfolger des Smartphones sein könnte. Sondern auch von Microsofts Surface. Der Tablet-PC, der gleichzeitig als Notebook fungiert, war als Antwort auf Apples iPad gedacht. Lange galt er als Rohrkrepierer, unverkaufte Exemplare mussten mit 900 Millionen Dollar abgeschrieben werden. Nadella hielt trotzdem an ihm fest.
Unter dem deutschen Chefdesigner Ralf Groene gelang eine unerwartete Wende. Apple musste nachziehen, bietet mit dem iPad Pro nun ebenfalls einen Zwitter aus Tablet und Notebook an. „Der iPad Pro ist bei uns abgekupfert“, frotzelt Microsoft-Konzernsprecher Tim O’Brien. Beim alten Microsoft hätte das Wutanfälle ausgelöst, schon der Besitz eines iPhones galt dort als illoyal. Im neuen Microsoft freut man sich nicht nur über die Anleihen, sondern unterstützt sie sogar aktiv. Als Apple-Chef Tim Cook sein iPad Pro vorstellte, stand ein Microsoft-Topmanager mit auf der Bühne. Er präsentierte stolz eine auf Apples neues iPad-Flaggschiff angepasste Variante des populären Bürosoftwarepakets Office, wichtige Voraussetzung für Apple, um geschäftliche Nutzer zu gewinnen.
Die Entscheidung, Office auch auf den konkurrierenden Mobil-Plattformen Apple iOS und Google Android zu offerieren, war die erste öffentliche und wichtigste Amtshandlung Nadellas. Sie entsprang der Erkenntnis, dass es keinen Sinn mehr machte, Office exklusiv für Windows Mobile zu reservieren.
Der neue Konzernchef hat sogar einen draufgesetzt und mit der Tradition gebrochen, Software unter keinen Umständen gratis zu offerieren. So wie beim Betriebssystem Windows 10, das Käufer von Vorgängerversionen kostenlos erhalten, fördert Microsoft auch bei den iOS- und Android-Versionen von Office die Verbreitung durch das Freemium-Modell. Die Grundversionen der Software sind kostenlos, für weiter gehende Funktionen muss ein Abo abgeschlossen werden. Getrieben von Smartphones und Tablets, wächst Microsoft Office kräftig.
Das Zeitalter der Netzökonomie ist ein Zeitalter der Zusammenarbeit, daran lässt Nadella keinen Zweifel. So ermuntert er seine externen Entwickler sogar, für andere Plattformen zu schreiben. Zugleich offeriert Microsoft eine Vielzahl von Schnittstellen, damit Entwickler auf künstliche Intelligenz wie Bild- und Spracherkennung zugreifen können. „Hauptsache, überall ist ein Stückchen Microsoft dabei“, erklärt Holger Mueller von Constellation Research aus San Diego. Denn da mittlerweile alle Programme mit dem Internet vermählt sind, kann Nadella so seine zweite große Initiative nach Office vorantreiben: Microsoft soll führender Anbieter von Cloud Computing werden. Momentan ist Amazon dort Platzhirsch.
Microsoft macht mittlerweile mit seinem Angebot namens Azure Boden gut. Der Softwarekonzern hat renommierte Kunden wie BMW für sich gewinnen können. In diesem Jahr rechnet Nadella, mit Azure rund zehn Milliarden Dollar umsetzen zu können, bis 2018 sollen es mindestens 20 Milliarden Dollar sein.
Auch an anderen Stellen öffnet Nadella den einst eigenbrötlerischen Konzern. Das alternative Betriebssystem Linux etwa wurde von Vorgänger Ballmer als „Krebs“ verunglimpft. Unter Nadella wird die Alternative zu Windows nicht nur geduldet, sondern sogar unterstützt. Microsofts Datenbank SQL Server, eines der wichtigsten Produkte des Konzerns für Unternehmenskunden, läuft künftig auch auf Linux. Microsofts Ingenieure sollen lernen, was der Markt besser macht.
Entlassungswelle
Frieden hat Nadella neben Apple auch mit Google geschlossen. Zunächst einigte man sich darauf, sich nicht mehr mit Patentstreitigkeiten zu bekriegen. Nun verzichtet Microsoft auch darauf, die Wettbewerbshüter mit Argumenten und Material über die vermeintlich wettbewerbsfeindlichen Aktivitäten von Google zu versorgen. Aus dem Lobbyverband FairSearch, der in Brüssel Politik gegen das Suchmaschinen-Monopol von Google machte, hat sich Microsoft kürzlich zurückgezogen.
Obwohl Nadella dafür gepriesen wird, auch zuhören zu können und sich für ein besseres Arbeitsklima einzusetzen, hält ihn das nicht vor harten Entscheidungen ab. So wickelte er das unter Vorgänger Ballmer für 9,5 Milliarden Dollar gekaufte Mobiltelefongeschäft von Nokia ab. Weitere Einschnitte folgten: 25.800 der einst 128.000 Jobs wurden in seiner Amtszeit gestrichen, die größte Entlassungswelle in der Geschichte des Konzerns. Ohne Skrupel entledigte er sich auch möglicher Rivalen wie Marketingchefin Tami Reller, Ex-Skype-CEO Tony Bates und dem ehemaligen Nokia-Chef Stephen Elop.
Wie Windows wurde, was es ist
Der Urahn des inzwischen meistgenutzten PC-Betriebssystems kam im November 1985 auf den Markt. Damals war Microsoft noch ein Außenseiter, während der Platzhirsch IBM und der Aufsteiger Apple den Kampf um den PC-Markt auszufechten schienen. Anfangs arbeitete sich Windows nur mühsam ins Geschäft – denn Microsoft verzichtete zunächst angesichts eines jahrelangen Patentstreits mit Apple auf grafische Bedienungselemente.
Mit dieser Version lernte Windows 1992, Videos abzuspielen, bekam die ersten integrierten Spiele und neue Schriften. Die Grundansicht mit den überlappenden Fenstern und einem Desktop für Programm-Symbole blieb – mit einigen Design-Änderungen – lange erhalten.
Parallel zu den Consumer-Versionen von Windows entwickelte Microsoft nach dem Scheitern des OS/2-Projektes mit IBM eine Windows-Version mit einem neuen Programm-Kern („Windows New Technology“). NT wurde mit Windows 2000 fortgeführt und ging später in Windows XP auf.
Die radikale Erneuerung von 1995 brachte in Grundzügen das Windows, das heute praktisch jeder kennt. Unter anderem wurde der „Start“-Knopf mit dem Balken am unteren Bildschirmrand eingeführt. Nachdem nachträglich der Web-Browser Internet Explorer zum Windows-Grundpaket hinzugefügt wurde, setzte sich Microsoft zum Ärger der Wettbewerbshüter in diesem Bereich gegen den Pionier Netscape durch. Auf die Version folgten die kleineren Aktualisierungen Windows 98 und ME.
2001 brachte Microsoft die bisher langlebigste Version seines Betriebssystems auf den Markt. Mit Windows XP wurden viele visuelle Effekte hinzugefügt, ebenso wie wichtige Funktionen wie etwa schneller Benutzerwechsel, eine integrierte Firewall für mehr Sicherheit und verbesserter Medienwiedergabe.
Das Betriebssystem Windows Vista sollte XP verdrängen, wurde von den Nutzern aber weitgehend ignoriert. Die 2007 veröffentlichte Version bot zwar neue Bildschirmansichten, aber eine für viele Nutzer verwirrende Rechteverwaltung für Benutzerkonten. Erst mit der Vorstellung von Windows 7 im Oktober 2009 konnte Microsoft die Anwender wieder überzeugen.
Mit Windows 8 rüstet sich Microsoft für den Wandel der Computer-Welt: Die neue Kacheloberfläche ist für Touchscreens ausgelegt und eignet sich damit auch für Tablet-Computer – äußerlich ähnelt das System damit dem Smartphone-Betriebssystem Windows Phone. Microsoft stellte Windows 8 im Oktober 2012 vor. Gerade an der neuen Bedienung wurde jedoch schnell viel Kritik laut.
Ein Update für Windows 8 kam im Oktober 2013 auf den Markt. Das kostenlose Windows 8.1 soll die größten Kritikpunkte an dem Vorgänger ausräumen. So können Nutzer direkt auf den Desktop starten und so die Kacheloberfläche umgehen. Zudem kehrt der Startknopf zurück, wenn auch nicht das klassische Startmenü.
Mit Windows 10 bietet Microsoft eine einheitliche technische Plattform für PCs, Tablets und Smartphones an. Das von Nutzern ersehnte Start-Menü kehrt auf den Desktop zurück. Am 29. Juli 2015 stellte der Softwaregigant das jüngste Betriebssystem vor. Ein Jahr lang war das Upgrade auf Windows 10 für Computer mit Windows 7 und 8.1 kostenlos. Was das neue System bringt und für welche Nutzer es sinnvoll ist, lesen Sie hier.
Nadella hat ohne Frage weit mehr erreicht, als man ihm zugetraut hat. Doch noch ist es zu früh, seine Ägide zu bewerten. Bei den Smartphones und Tablets hat Microsoft weiter eine offene Flanke. Die mit neuer Technik zu beheben könnte noch Jahre dauern. Beobachter wie Moorhead meinen deshalb, dass Microsoft wie schon im Tablet-Markt mit Surface doch noch mit eigenen Smartphones punkten muss.
Nadella hat auch schon Hinweise geliefert, wie das möglich sein könnte. Er setzt auf die sogenannte Continuum-Funktion, mit der sich Windows-Smartphones mit Tastatur, Maus und Bildschirm koppeln und so wie Notebooks bedienen lassen. Fraglich ist auch, ob Microsoft seine Offenheit bewahrt.
„Derzeit entspringt sie vor allem der Schwäche“, meint Analyst Mueller. Ob man bei Stärken wie der Hololens dem Wettbewerb genauso liberal Zugriff auf sie bietet, muss sich noch zeigen.
Was auch zur Wahrheit gehört: Viele der jetzigen Erfolgsbringer hat noch Nadellas Vorgänger Ballmer gestartet. Der Vertraute von Microsoft-Gründer Bill Gates stört sich nicht daran, dass sein Nachfolger sich mit ihnen jetzt als Mr Cool von Microsoft inszeniert. Ein neuer Chef, so beschied Ballmer großzügig dem Wirtschaftsmagazin „Businessweek“, sei glaubwürdiger beim Brechen von Traditionen. Als einer der größten Aktionäre von Microsoft hat Ballmer ein Interesse, dass Nadella weiter den Börsenwert nach oben treibt.
Microsoft-Veteranin Larson-Green, die neben Office schon Windows und die Gerätesparte verantwortete, hat in ihren 23 Jahren bei Microsoft alle drei Vorstandschefs erlebt, von Gates über Ballmer bis Nadella. „Bill war sehr Technologie-fokussiert, Steve auf Sales und Marketing, bei Satya sind es eindeutig Produkte.“ Die Chancen, dass Microsoft unter ihm ein neues großes Ding herausbringt, sind also gegeben. Nadella muss sie nur nutzen.