Publizistik-Preis für Handelsblatt-Redakteur Würde Tucholsky twittern?

Edward Snowden und die NSA, das Elend der Globalisierung und die Macht der Internet-Riesen – eine Mahnung an die digitale Gegenwart. Eine Lobrede auf Handelsblatt-Redakteur Sönke Iwersen.

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Der Schriftsteller Kurt Tucholsky lebte von 1890 bis 1935. Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergab den mit 5.000 Euro dotierten Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2017 an den Handelsblatt-Journalisten Sönke Iwersen. Quelle: Hulton Archive/Getty Images

Berlin Am Sonntag erhielt Handelsblatt-Redakteur Sönke Iwersen in Berlin den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2017. Ausgezeichnet wurde sein Report „Edward Snowden – Schutzengel ganz unten“, der die Helfer des NSA-Enthüllers beschreibt. Sein Kollege Thomas Tuma hielt die Laudatio – und spannte einen großen Bogen. 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Tucholsky-Gesellschaft und -Freunde und -Förderer und alle, die wenigstens irgendwann mal im Schulunterricht oder bei YouTube den Namen gehört haben....                     

wenn ich schon mal eine Laudatio halten darf, dann möchte ich Sie einladen, kurz mit mir in den Redaktionsalltag des Handelsblattes einzutauchen. Die Themen Wirtschaftspresse und literarische Publizistik sind im Tagesgeschäft ja doch so ausreichend weit voneinander entfernt, dass man sich an einem Festtag wie heute auch mal ein bisschen gegenseitig kennenlernen darf. 

Ich kann mich nicht mehr an den genauen Tag erinnern, aber irgendwann im Jahr 2016 stand Sönke Iwersen in meinem Büro, druckste ein bisschen herum (ich hoffe, es war ihm selber peinlich) und fragte, ob ich ihm einen Reiseantrag unterschreiben könne. Er wolle ein paar Slumbewohner in Hongkong besuchen. 

Ich war natürlich aus dem Stand hellauf begeistert und sagte: „Aber klar, Slum in Hongkong, tolle Idee, flieg bitte mindestens Business - schon wegen der Trombosegefahr auf allzu langen Flugreisen - und fühl dich nicht verpflichtet, irgendeine Geschichte mitzubringen.“ 

Ganz so war‘s natürlich nicht. Und dass ich ihn überhaupt fliegen ließ, hatte allenfalls mit meiner vagen Hoffnung zu tun, er könnte vielleicht doch mit einem weltexklusiven Snowden-Gespräch zurückkommen, was er mir allerdings gar nicht versprechen wollte. Dem NSA-Snowden. Dem Weltenthüllungs-Snowden. Versprechen könne er nur, dass er mit jenen armen Seelen reden werde, die Edward Snowden nach seiner Flucht aus den USA und vor seiner Weiterreise nach Russland wochenlang versteckt gehalten hatten. 

Es wird jetzt ein bisschen profan, aber so eine Reise ins Elend kostet ein paar tausend Euro. Ich muss mir das auch als Mitglied der Chefredaktion des renommierten „Handelsblattes“ aus Düsseldorf durchaus überlegen, denn das Geld sitzt uns Medien längst nicht mehr so locker, wie das früher mal war. Es sitzt eigentlich überhaupt nicht, sondern hat sich verflüchtigt. 

Wir Medien haben vieles eingebüßt: finanzielle Möglichkeiten, politische Relevanz und damit einhergehende Macht, aber leider auch Glaubwürdigkeit und also Treue unserer Leser, von denen wir uns ja gelegentlich schon anhören müssen, wir seien alle nur „Lügenpresse“. 

In den USA wie in anderen Staaten gleicht die Medienlandschaft mittlerweile einer Wüste. Auch in Deutschland haben viele Redaktionen längst kein Geld mehr für aufwändige Recherchen wie die, die heute ausgezeichnet wird. 

Meine Damen und Herren, wir feiern hier den Ausnahmefall: die akribische, unabhängige Suche nach der Wahrheit. Nach Echtheit. Nach Einordnung. Dieser Ausnahmefall hat die Wahrheit nicht gepachtet, aber er strebt nach ihr. Das wird immer seltener. 

Ich will hier gar nicht ins Jammern geraten. Medien und Journalisten haben zumindest in Deutschland heute weit weniger Probleme als Kurt Tucholsky und die „Weltbühne“ zu ihrer Zeit. Andererseits können auch ökonomische Probleme existenziell werden. Und damit sind wir dann wieder gar nicht so weit weg von Edward Snowden, seinen allmächtigen digitalen Gegnern, aber auch unserer Gegenwart: In der Türkei werden Journalisten inhaftiert, weil sie ihren Job gemacht haben. Auf Malta wurde aus dem gleichen Grund jüngst eine Kollegin erschossen. 

Freie Medien sind ein Luxus geworden. Etwas merkwürdig Nostalgisches, was irgendwie des Schutzes bedarf, den wir uns dann nicht immer aussuchen können: Amazon-Gründer Jeff Bezos zum Beispiel hält sich mittlerweile die stolze „Washington Post“ wie andere Leute eine Taubenzucht. Geschichte geht noch ironischer: Glen Greenwald, der 2013 Snowdens Enthüllungen startete, ist heute Angestellter der publizistischen Website „The Intercept“, gegründet von dem E-Bay-Milliardär Pierre Omidyar. Vergangene Woche stockte der Großinvestor/Spekulant George Soros die Mittel seiner Stiftung „Open Society“ um 18 Milliarden Dollar auf. Ihr Ziel: die Verteidigung der Meinungsfreiheit. 

Waren da nicht noch ein paar andere Institutionen, die sich zumindest in westlichen Demokratien dieser Aufgabe verpflichtet fühlen müssten? 

Andererseits: In den USA regiert seit knapp einem Jahr ein Präsident, der sich darin gefällt, seine medialen Kritiker zu beschimpfen und zu diffamieren. Ein Präsident, der ausdauernd jene Fake News produziert, die er anderen vorwirft. Exekutiert wird heute nicht mehr mit Guillotinen, sondern mit 140 Zeichen auf Twitter oder den Spionage-Programmen der NSA, womit ich den Kreis zu Edward Snowden schließen möchte, denn der junge Amerikaner konnte sich nach Enthüllung seines Insiderwissens nur noch dort sicher fühlen, wo kein Kameraauge, kein WLAN und keine Handy-Daten hinreichen. Und das ist in diesem Fall ganz unten. In den Slums von Hongkong. 

Sönke Iwersen zeigte erst mir und dann Ihnen allen, seinen Lesern, wie Snowden sich erst aus dem Netz der NSA-Spinne riss und dann viele Tage lang – eher zufällig als gesteuert – untertauchte in dieser Welt, die nicht unsere ist. Eine Passage möchte ich Ihnen daraus noch einmal kurz vorlesen: 

Nadeeka erkannte Edward Snowden nicht, als sie ihn zum ersten Mal sah. Der junge Mann stand vor ihrer Wohnungstür, mit einer Baseballmütze auf dem Kopf und nichts weiter als einer blauen Plastiktüte in der Hand. Neben ihm stand Robert Tibbo. Der Anwalt, dem Nadeeka ihre Freiheit in Hongkong verdankte, hatte sie kurz zuvor angerufen. Es gebe da jemanden, der Schutz brauchte, hatte Tibbo gesagt. Würde Nadeeka helfen? In dieser Nacht schlief Edward Snowden dort, wo sonst Nadeeka und ihre Tochter schliefen. In einem knapp zehn Quadratmeter großen Raum mit nackten Betonwänden auf einer alten Matratze. Nadeeka und ihre Tochter Sethumdi schliefen auf dem Boden im Korridor. 

Am nächsten Morgen bat Snowden seine Gastgeberin, ihm eine Zeitung zu kaufen. Als Nadeeka die „South China Morning Post“ aufschlug, traf sie fast der Schlag. Der Mann, dessen Bild sie da sah, saß zu Hause auf ihrem Bett. Nadeeka beherbergte den meistgesuchten Mann der Welt. 

Als Sönke Iwersen aus Hongkong zurückkehrte und mir ein paar Tage später die Geschichte lieferte, war ich erstmal fasziniert von der nüchternen Sprache, die hier eine viel lyrischere Kraft entwickeln kann als alle stilistischen Kapriolen. Dann begeisterten mich all die Hintergründe, die er mitlieferte. Er hatte eben nicht nur mit Snowdens „Schutzengeln“ gesprochen. Er hatte sich auch in deren Lebensläufe und Geschichte eingegraben. Er hatte die politischen Bedingungen in Sri Lanka ebenso studiert wie das Asylrecht in Hongkong. Kurz: Er lieferte mir ein ebenso großes wie facettenreich-filigran zu Papier gebrachtes Gemälde eines Teils der Welt, die ich in meiner westlichen Ignoranz sonst kaum zur Kenntnis nehme. 

Das ist nicht die dritte, sondern eine vierte Welt, die da entstanden ist. Und das in einer Zeit, in der uns doch ausdauernd die Segnungen von Globalisierung und Digitalisierung suggeriert werden. Und dieses Elend rückt uns ja neuerdings näher, als uns lieb ist. Mit jedem Boot, das auf dem Mittelmeer kentert. Mit jedem Syrer oder Somalier, der im Wasser oder Schleuser-Laster verreckt. Man kann das leider nicht anders sagen. 

Dass die Welt ein Dorf geworden ist, bedeutet nicht immer nur Gutes. Und die Digitalisierung, die ich vorhin schon angesprochen habe, hat eben auch zwei Seiten: Sie ist der Boden, auf dem allmächtige Geheimdienste wie die NSA big-brother-gleich die totale Überwachung herstellen können, wenn Leute wie Snowden nicht ihr Gewissen entdecken. Und sie ist auf der anderen Seite iPhone-Bequemlichkeit, Navi, Shoppen bei Amazon und PokemonGo. 

Das Handyspiel sammelt übrigens mehr Daten über jeden Spieler, als es die NSA je könnte. Die dahinterstehende Firma Niantic war ein Start-up von Google, das immer noch an dem Unternehmen beteiligt ist. „Don’t be evil“, war das Motto der beiden Google-Gründer Larry Page und Sergej Brin. Und auf geradezu perfide Weise halten sie sich bis heute daran. Sie sind nie böse, sondern umgarnen uns spielerisch mit Werkzeugen der Bequemlichkeit: 

Google ist die größte Suchmaschine der Welt. Facebook ist das engmaschigste soziale Netzwerk des Planeten mit bald zwei Milliarden Usern. Amazon ist das weltgrößte Kaufhaus, in dem wir immerhin noch Geld bezahlen für Tucholsky-Bücher, Heckenscheren oder frische Avocados. Ansonsten bezahlen wir mit unseren Daten. Wir sind das Produkt. 

Ist das so schlimm? Tut doch niemandem weh. 

In den nächsten Jahren werden komplette Industriezweige verschwinden. Millionen von Menschen werden ihre Arbeit verlieren, weil die Disruption wie ein Wirbelsturm über uns kommt. Die Marktkapitalisierung der Big Four aus den USA liegt bei rund zwei Billionen Dollar, das ist etwa doppelt so viel wie der gesamte deutsche Aktienindex Dax wert ist. Allein Google und Facebook kontrollieren heute 70 Prozent des digitalen Werbevolumens, womit wir verrückterweise wieder bei Sönke Iwersen landen und den Kosten seiner Hongkong-Reise. 

Wenn es so weiter geht, werden wir Medien uns unsere Arbeit bald nicht mehr leisten können. Der Gegner von Edward Snowden heißt NSA. Unsere Freunde und Feinde zugleich sind Google, Facebook & Co. Die machen keine Gefangenen, nur Businesspläne. Für die sind wir das Gleiche wie für uns die Slum-Bewohner Hongkongs: unbekannt und irrelevant. Das wäre zu verschmerzen, wenn es nur uns etablierte Medien träfe. Aber im gleichen Maße, wie wir verschwinden, wachsen neue Kommunikationsformen: Trumps Twitter, Fake News bei Facebook, Bilderdienste wie Instagram. Ein selbstreferentieller Resonanzraum ist entstanden, in dem mittlerweile ein ohrenbetäubender Lärm herrscht, Hass, Lügen, sprachliche Gewalt. 

„Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter“, sagte Kurt Tucholsky, „als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und LAUT zu sagen: Nein!“ Oder wie es ein anderer Aphoristiker als journalistischen Imperativ auf den Punkt bringt: „Widersprechen statt Wiederholen!“ Wissen Sie, wer das derzeit auf Plakatwände schreibt? Die Werbeagentur der „Bild“-Zeitung. Wie gesagt: Man kann sich seine Konfidenten nicht immer aussuchen. 

Würde Kurt Tucholsky heute twittern? Oder gegen das Oligopol aus Google, Amazon, Facebook und Apple anschreiben? Die Welt ist sehr kompliziert geworden. Sönke Iwersen hat mir wenigstens EIN Fenster zu ihrem Verständnis geöffnet. 

Seine Geschichte hat ein globales Echo erfahren. Viele andere Medien sind den Spuren seiner Recherchen gefolgt. Ein Happy End hat die Geschichte dennoch nicht. Die Welt ist nicht besser geworden. Edward Snowden lebt im russischen Exil. Die NSA spioniert vier Jahre nach ihrer Ent-Deckung wahrscheinlich präziser und akribischer als je zuvor. In Deutschland, wo der Geheimdienst sogar das Handy der Kanzlerin abgehört hat, blieb die Affäre ohne Konsequenzen... für die Hauptakteure der Geschichte „Schutzengel - ganz unten“ gab es diese Konsequenzen leider sehr wohl. 

Die Behörden in Hongkong beschuldigen den Anwalt Robert Tibbo, gegen die Standesregeln verstoßen zu haben. Sie wollen ihm die Zulassung entziehen. Außerdem erhält er schon seit mehr als einem Jahr kein Vergütung mehr für die Asylverfahren, die er betreibt. Das Geld müsste eigentlich von den Behörden bezahlt werden. Eigentlich. Wird es aber nicht. Aus finanziellen Gründen ist Tibbo inzwischen in seine Heimat Kanada zurückgekehrt. 

Vor allem: Die Schutzengel, die Edward Snowden in Hongkong vielleicht das Leben gerettet haben, sind mittlerweile selbst bedrohter denn je. Viele Jahre hatten sie vor ihrem kurzen Ausflug in die Weltgeschichte darauf gewartet, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden. Plötzlich ging alles ganz schnell. Mittlerweile steht ihnen die Abschiebung bevor... in die gleichen Länder, aus denen sie einst vor Verfolgung und Folter flohen. 

Hätte Sönke Iwersen ihre Geschichte also nicht aufschreiben sollen? Würde es ihnen dann heute besser gehen? Es sind manchmal unangenehme Fragen, die wir Journalisten uns selbst stellen müssen. Und wir müssen uns heute mehr als je zuvor immer wieder auch selbstkritisch fragen, welche Konsequenzen unsere Arbeit haben kann. Für uns, aber immer auch und vor allem für die, über die wir berichten. 

Geschichten wie die über die „Schutzengel - ganz unten“ müssen aber auch künftig aufgeschrieben werden. Gerade jetzt. In Zeiten von Fake News, die bis in weltmächtige Regierungsspitzen hinein gesellschaftsfähig geworden sind. In Zeiten gigantischer PR-Stäbe und IT-Konzernriesen braucht es mehr denn je den unabhängigen Blick. Das professionelle Auge. Die unbestechliche Genauigkeit des Reporters. 

Ohne Iwersens Report hätten wir nie etwas erfahren über das Schicksal der Näherin Nadeeka und Supun, ihren Freund aus Sri Lanka, die Philippina Vanessa. Sönke Iwersen war für uns ein paar Tage auf der dunklen Seite der Globalisierung, wo Terror, Missbrauch, Gewalt und Willkür die Regel sind. 

Wir können nur das ändern, wovon wir wissen, dass es existiert. Dabei helfen uns weder NSA noch Google, wohl aber Leute wie Sönke Iwersen. 

Und um zum Schluss noch mal in unseren Redaktionsalltag zurückzukehren: Wissen Sie, diese Investigativen können wahnsinnig anstrengend sein. Dauernd brauchen sie Geld oder Personal oder Rückendeckung. Das Nervige an ihnen: Sie sind schrecklich unbequem. Das Tolle an ihnen: Sie sind schrecklich unbequem. Wir müssen uns das leisten. 

Danke Sönke! Danke meine Damen und Herren!

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