Software einfach selber machen 14 Apps fürs Deutsche Rote Kreuz – ohne Programmierkenntnisse

Deutsches Rotes Kreuz Lünen Quelle: PR

Neue Software lässt oft Jahre auf sich warten. Beim Deutschen Roten Kreuz schrieb ein genervter Abteilungsleiter die benötigten Apps deshalb einfach selbst. No-Code-Software macht es möglich.

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Dennis Hertel zeigt auf seinen Aktenschrank, der die Wand schmückt. Wohl mehr als 20 Ordner stehen dort ordentlich aufgereiht nebeneinander – allein für jedes der acht Fahrzeuge, die er verantwortet, fiel lange Zeit jeden Tag ein DIN-A4-Blatt an. Dazu eines für jeden Mitarbeiter pro Tag für die Corona-Tests, eines für jedes gegebene Medikament, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Und das war nicht einmal das quälendste: Jeden Tag musste die Büroangestellte diese Akten auswerten, um zu sehen, ob es Handlungsbedarf gab – eine Nachbestellung eines Medikaments oder eine Wartung am Rettungswagen.

Hertel, 44 Jahre, hatte genug von dem Papierkram. Seit fünf Jahren leitet er den Rettungsdienst des Deutschen Roten Kreuzes im nordrhein-westfälischen Lünen und arbeitet meist im Büro statt auf dem Einsatz. Doch auf neue Software wollte er nicht länger warten. Die wird zwar speziell für das Rote Kreuz geschrieben, doch oft geht es nur langsam vorwärts: Die Implementierung der neuen Dienstplansoftware beispielsweise dauert nun schon ein halbes Jahr. Der Abteilungsleiter nahm die Digitalisierung deshalb selbst in die Hand: „Wir brauchen ja gar nicht etwas so Umfangreiches.“

Die digitale Revolution in Lünen aus Hertels Hand macht eine neuartige Software möglich. Mit der kann jeder fertig programmierte Bausteine zu einer App zusammensetzen: Low-Code/ No-Code-Programmieren (LCNC). Im Unterschied zu No-Code erfordern Low-Code-Lösungen zumindest ein Basiswissen beim Programmieren. Die Idee ist aber die gleiche: Die IT-Abteilungen entlasten und Digitalisierung und Automatisierung vorantreiben.

Lange hatte jeder Rettungswagen seinen eigenen Aktenordner. Dann hatte Dennis Hertel (rechts) die Nase voll. Quelle: Privat

So digitalisierte Hertel in fünf Tagen die lästigen Fahrzeug-Fragebögen. Seine Sanitäter sind begeistert: Statt die lästigen Fragebögen auf Clipboards auszufüllen, klicken sie nun die Boxen auf Apps auf ihrem Handy an. In eineinhalb Wochen schrieb Hertel insgesamt 14 verschiedene Apps: „Ich habe das alleine gemacht, und zwar neben meiner normalen Arbeit“.

„Citizen Developer“ nennen sich Leute wie Hertel – Menschen, die ihren Arbeitsplatz einfach selbst digitalisieren. 96.000 IT-Stellen sind derzeit in Deutschland unbesetzt. Das verstärkt den allgemeinen Fachkräftemangel, weil zeitsparende Digitalisierung nicht stattfindet. 

Selbst in personell gut ausgestatteten Unternehmen stauen sich die Aufträge in der IT-Abteilung. Erst kürzlich forderte der Deutsche Beamtenbund 300.000 neue Beamtenstellen. 

„Statt immer mehr Menschen in schlechte Systeme zu stopfen, sollten wir an den Systemen selbst ansetzen und sie effizienter gestalten“, sagt Andreas Syska, Professor für Produktionswirtschaft an der Fachhochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Laut McKinsey kosten ineffiziente Behörden die deutschen Steuerzahler jährlich sechs Milliarden Euro. Gezielte Digitalisierung zeitraubender, sich wiederholender Prozesse hilft Wunder. Und LCNC bietet einen Weg, den Knoten zu lösen.

Das Problem der Schatten-IT

In kleineren Umgebungen können sich selbstgebaute Apps besonders lohnen. In größeren Unternehmen aber haben IT-Abteilungen nicht selten etwas dagegen, wenn Abteilungen mit selbstgebauten Ansätzen Ineffizienzen zu lösen versuchen. Oft ist auch nicht klar, ob Laien von selbst auf die eleganteste Lösung kommen. Und wenn eine App mit den firmeneigenen Softwareprogrammen Hand in Hand laufen muss, wird es schnell eine Frage für Experten. 

Thomas Davenport, Professor für IT am Babson College in Massachusetts, warnt, dass Citizen Developers oft Applikationen bauen, die sich nicht gut skalieren lassen und sie dann später ohnehin der IT-Fachabteilung übergeben: „Schatten-IT verkompliziert die Arbeit schon seit Jahrzehnten. Verwalten Experten die Arbeit von Citizen Developers nicht sorgfältig, droht sich dieses Phänomen zu intensivieren.“

Marktführer für LCNC-Software ist die vom früheren SAP-Chef Bill McDermott geführte ServiceNow mit ihrer Now-Plattform, Microsoft offeriert stattdessen Power Plattform. Und dann ist da SmapOne, ein deutsches Start-up, das seit 2014 No-Code-Tools zum Bauen von Apps für jedermann anbietet. Es handelt sich um eines von nur ganz wenigen europäischen Angeboten. Das Marktforschungsunternehmen Gartner schätzt, dass schon 2025 70 Prozent aller Apps mit No-Code oder Low-Code-Technologien gestaltet werden, 2020 waren es gerade einmal 25 Prozent.

Auch SmapOne wuchs in den vergangenen fünf Jahren jeweils um zwischen 50 und 70 Prozent, inzwischen arbeiten mit 130 Mitarbeitern mehr als doppelt so viele für das Unternehmen wie vor zwei Jahren: „Wir verstehen uns als Hilfe zur Selbsthilfe“, sagt Gründer Sven Zuschlag. Großunternehmen wie Vonovia und Dachser zählen genauso zu ihren Kunden wie Mittelständler und Kleinunternehmen. 220.000 Apps wurden auf der Plattform schon programmiert. Für Non-Profits wie das Rote Kreuz steht der App-Baukasten kostenlos zur Verfügung.

„Das geht so intuitiv wie bei Lego“, sagt Hertel. Es gibt fertige Elemente für die Stellen, wo der Nutzer in der App Zahlen oder Text eintragen soll oder ein Kreuzchen macht – und ein Feld für eine Unterschrift. „SmapOne bietet sich am besten für Digitalisierungsprozesse an, die das ersetzen, für das man bisher Stift und Papier nutzt“, sagt Moritz Hesse, ein technischer Consultant bei SmapOne, der Kunden bei komplexeren Problemen zur Seite steht, „also jegliche Art von Übergabeprotokollen, Abnahmen oder Checklisten“.

Digital unterwegs in Landratsamt und Schule

Hertel ist nicht der Einzige, der dank LCNC das Programmieren entdeckt und sein Büro effizienter gestaltet hat. Ein Landratsamt in Baden-Württemberg, das nicht konkreter genannt werden möchte, hat sich seit 2022 mit SmapOne digitaler aufgestellt. Jetzt werden dort Kontrollen von Gebäuden und Außenanlagen elektronisch dokumentiert, dasselbe gilt für das Schornsteinfegerwesen und die Denkmalpflege.

Selbst ein 13-jähriger Schüler konnte SmapOne nutzen, um die Prozesse in seiner Schule zu verbessern. Dank seiner App gehen die Krankmeldungen an seiner Schule jetzt schon digital bei den Lehrern ein. Auch die österreichische Volkshilfe, die eine mobile Pflegebetreuung anbietet, digitalisierte diverse Prozesse wie Einstellungsverfahren oder Schadensprotokolle mit LCNC ohne großen Aufwand.

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von Nele Husmann

Hertel beim Roten Kreuz in Lünen jedenfalls findet vollen Zuspruch bei seinen Mitarbeitern. Die deuten schon auf ihre dicken, kiloschweren 3000 bis 4000 Euro teuren Dell-Laptops, die eigentlich für den Einsatz in Kriegszonen konzipiert wurden und nun auch an Bord eines jeden Rettungswagens mitfahren. In ihnen erfassen sie ihre Rettungseinsätze. „Darin gibt es einiges, das ich auf Anhieb verbessern könnte“, sagt Hertel. Auch die Sanitäter hoffen, dass die teuren, klobigen Geräte künftig überflüssig werden könnten: „Ein Handy oder ein Tablet ist einfach viel bequemer.“

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