Streaming Wars Hat Netflix doch noch ein entscheidendes Ass im Ärmel?

Die Geschäftsprognosen von Netflix haben Anleger zuletzt enttäuscht. Nun könnte das US-Unternehmen neue Wege gehen. Quelle: REUTERS

Schwache Zahlen, trübe Perspektiven: Netflix macht die wachsende Konkurrenz zu schaffen. Um sich zu behaupten, könnte der Streaming-Marktführer künftig vermehrt neue Wege gehen – fernab von Filmen und Serien.

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„Du kommst mal wieder zu spät“, pampt Lucas seinen Kumpel Mike an. Die beiden Teenager stehen vor einer Einkaufsmall in einer Kleinstadt im Mittleren Westen Amerikas. Frisuren und Kleidung lassen keinen Zweifel: Die Szene spielt in den Achtzigern. „Du hast wieder mit deiner Freundin rumgeknutscht, nicht wahr?“, stichelt Lucas. „Sehr erwachsen“, hält Mike dagegen. Zumindest tut er das in der Eröffnungsszene der dritten Staffel von „Stranger Things“. Aber was wäre passiert, wenn er an dieser Stelle stattdessen „Du bist eifersüchtig“ erwidert hätte?

Seit November können Android-Nutzer das herausfinden. Dann, wenn sie in der Netflix-App nicht die dritte Staffel von „Stranger Things“, sondern „Stranger Things 3: The Game“ anwählen – und die Dialoge der Serienfigur Mike somit als Spieler selbst kontrollieren können. Denn was eigentlich eine der berühmtesten Netflix-Serien ist, ist inzwischen auch ein Videospiel, das Netflix-Nutzer sich auf ihr Smartphone herunterladen können. Und damit vermutlich der Vorbote für eine ganz neue Richtung, die der Streaming-Marktführer in Zukunft verstärkt einschlägt. Und wohl auch einschlagen muss, wenn er seine Marktstellung behaupten will.

Denn neue Geschäftsperspektiven sind bitter nötig: Erst am Donnerstag enttäuschte Netflix seine Anleger mit schwachen Zahlen und noch schlechteren Prognosen. Im vierten Quartal verfehlte der Unterhaltungskonzern die Zahl der angepeilten Neuabonnenten knapp – 8,3 Millionen statt der angekündigten 8,5 Millionen Neukunden kamen dazu. Für das laufende Quartal erwartet Netflix nun nur noch 2,5 Millionen Neukunden. Das habe selbst die pessimistischen Prognosen noch verfehlt, schreibt ein Barclays-Analyst, Netflix sei „ein schwer zu verteidigender Titel“.

Der Konkurrenzkampf am Streaming-Markt wird durch neue Wettbewerber immer stärker, die Preise für Drehbücher und Produktionen steigen, je mehr Anbieter Inhalte produzieren wollen. Schon länger steht die These im Raum, dass der Streaming-Markt auf eine Übersättigung zusteuert. Netflix fällt es mittlerweile offenbar sogar schwer, mit Serienhits wie zuletzt „Squid Game“ neue Abonnenten anzulocken. Höchste Zeit also, das Geschäftsmodell auszuweiten und sich neue, lukrativere Märkte zu suchen. Wie etwa das Gaming-Geschäft, das gerade boomt wie nie – und von einer Übersättigung weit entfernt ist.

Netflix' erste Ausflüge in den Gaming-Bereich begannen vor einigen Jahren mit interaktiven Filmen und Serien. So etwa mit dem 2018 erschienen Film „Black Mirror: Bandersnatch“, einem Zusatz zur auf Netflix beliebten Serie „Black Mirror“, bei dem die Zuschauer wie in einem Entscheidungsbuch an bestimmten Stellen selbst auswählen können, wie sich der Protagonist entscheidet und die Handlung weitergeht. Zum letzten Halloween brachte Netflix den interaktiven Film „Escape the Undertaker“ heraus, in dem Wrestling-Stars in einem Spukhaus umherwandern. Auch zu einigen Kinderserien hat der Konzern interaktive Angebote entwickelt.

Mittlerweile geht das Unternehmen noch weiter und will mit „Netflix Games“ ein eigenes Spieleimperium aufbauen. Damit steigt der Streamingdienst in einen stark wachsenden Markt ein: Allein in Deutschland wuchs der Umsatz im Games-Markt laut Zahlen des Verbands der deutschen Gamesbranche zwischen 2019 und 2020 um 32 Prozent auf 8,5 Milliarden Euro. Weltweit liegt das Marktpotenzial bei 200 Milliarden US-Dollar. Corona befeuert die Gaming-Industrie indes. „Die Potenziale von Computerspielen sind in der Pandemiezeit einfach noch mal besonders deutlich geworden“, sagt Felix Falk, Geschäftsführer des Verbands der deutschen Gamingbranche.

Jüngst gab Microsoft bekannt, den Spielehersteller Activision Blizzard für knapp 70 Milliarden US-Dollar kaufen zu wollen – der größte Deal der Gaming-Industrie jemals. Er reihe sich ein „in eine Reihe großer Dynamiken, was Käufe, Zukäufe und Fusionen in der Games-Branche angeht“, sagt Falk. Denn auch Amazon, Google und Facebook haben hier zuletzt ordentlich zugekauft.

Von diesen Rekordsummen könnte jetzt auch Netflix mit seinem Einstieg ins Gaming-Geschäft profitieren: Mit passenden Videospielen, die zu beliebten Eigenproduktionen – wie etwa „Stranger Things“ – entwickelt worden sind, könnte Netflix die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer noch länger halten. Die insgesamt 222 Millionen Abonnenten, die Netflix derzeit für seine Filme und Serien hat, sind eine große Basis für den Ausbau des Spielegeschäfts. Sie werden durch das zusätzliche Angebot, wenn sie es erst einmal nutzen, noch stärker an Netflix gebunden.

Verlässliche Zahlen, wie viel Zeit die Abonnenten durchschnittlich auf der Streamingplattform verbringen, gibt es nicht, in einigen Online-Publikationen ist die Rede von 30 Minuten am Tag, in anderen von über drei Stunden täglich. Fakt ist: Der Streamingdienst macht keinen Hehl daraus, dass die sogenannte „comsumer screen time“ – also die Zeit, die Nutzer tatsächlich vor dem Netflix-Angebot verbringen – für ihn inzwischen als wichtigster Messwert gilt. „Wir konkurrieren mit (und verlieren gegen) Fortnite mehr als gegen HBO“, hieß es hierzu Anfang 2019 im Geschäftsbericht des Streaminganbieters. Fortnite ist ein beliebtes Online-Videospiel, HBO ein US-amerikanischer Bezahlfernsehsender. Die Marschroute war mit diesem Statement klar.

Im September vergangenen Jahres hat Netflix den Spieleentwickler „Night School Studio“ aufgekauft. Bekannt wurde er mit dem 2016 veröffentlichten Computerspiel „Oxenfree“, einem Adventure-Game, das das Schicksal von fünf Teenagerfreunden in die Hände der Spieler legt. Das Entwicklerteam arbeitet derzeit an einer Fortsetzung, die 2022 erscheinen soll. Dass das Spiel exklusiv bei Netflix erscheinen wird, ist noch nicht bestätigt – aber naheliegend. Auch eine Filmadaption des ersten „Oxenfree“-Teils war zeitweise geplant – und könnte nun exklusiv bei Netflix landen.

Damit baut sich Netflix eine Art Crossmarketing auf: Neben den Serien, gibt es dann auch noch Videospiele zu den Serien und natürlich die passenden Marketingprodukte – das ganze Universum der Netflix-Welten also. Mitte vergangenen Jahres launchte das Unternehmen seinen eigenen Online-Shop, hier können Fans etwa Sonnenbrillen der Netflix-Serie „Emily in Paris“ für 260 bis 300 US-Dollar kaufen oder Pullis, Ketten und kleine Figuren namens Funko Pop! zum Serienerfolg „The Witcher“. Netflix ist also dabei, sich ein eigenes Ökosystem rund um seine Filme und Serien aufzubauen.



Ob die Gaming-Pläne von Netflix für ein zweites Standbein neben dem Streaming reichen, bleibt abzuwarten. Zumindest sei „auf dem Gamesmarkt noch immer Platz“, sagt Felix Falk vom Verband der deutschen Gamingbranche – „sei es in der Nische oder, wenn die Angebote ansprechend sind, auch in der Breite“. Die Frage sei nur, worauf Netflix genau abziele. Es sehe bislang so aus, als ob das Unternehmen „erst einmal Erfahrungen sammelt und Dinge ausprobiert.“

Klar ist: Wer sich mit Videospielen wie Fortnite messen will, kann das nicht mit Serien- oder Filmpaketen. Spieleentwickler schaffen nun mal keine abgeschlossenen Erzählungen, sondern „virtuelle Welten, in denen es Spaß macht, sich aufzuhalten“, sagt Branchenvertreter Falk. Und genau solche Welten sind es, die auch Netflix seinen Kunden bieten muss. Zumindest dann, wenn der Streamingdienst seine Anleger nicht mehr enttäuschen will.

Mehr zum Thema: Trotz eines üppigen Streaming-Angebots und Hits wie „Squid Game“ hat Netflix sein Wachstumsziel zum Jahresende verfehlt. Die Prognose für das laufende Quartal fällt noch mauer aus. Anleger sind schockiert.

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