Twitter vor radikalem Schnitt Tod der 140 Zeichen – Leben für das Einhorn?

Im Getriebe des Silicon Valley knirscht es. Das zeigt sich an Twitter: Das „Unicorn“ schreibt Verluste, die Nutzerzahlen stagnieren. Eine Entscheidung könnte den Charakter des Kurznachrichtendienst radikal verändern.

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Der Kurznachrichtendienst stellt die 140-Zeichen-Einschränkung in Frage. Quelle: dpa

San Francisco/Düsseldorf Einhörner sind ebenso wundersame wie mythische Gestalten. Niemand hat jemals eines leibhaftig gesehen. Doch im Märchenwald des Silicon Valleys findet man diese „Unicorns“ mittlerweile zuhauf. So werden dort jene Start-ups genannt, die mit über einer Milliarde Dollar bewertet werden. Zuletzt kam im Schnitt alle paar Tage ein neues dieser „Unicorns“ hinzu.

Da stehen sie nun, dicht gedrängt, an den Futtertrögen der Risikokapitalgeber oder werden, angemessen angefüttert, an der Wall Street durch den Ring geführt. Auf dass Anleger die magischen Wesen ihren Züchtern abkaufen. Geld verdienen sie nicht, viele machen nicht mal Umsatz. Aber was macht das schon? Es hat doch bisher auch funktioniert.

Doch „bisher“ zählt nicht mehr, seit die Krise über Twitter hereinbrach. Im Oktober verkündete das einstige kalifornische Vorzeigeunternehmen, acht Prozent seiner Mitarbeiter zu entlassen. Der mit Ach und Krach durchgedrückte Börsengang des Kurznachrichtendienstes zeigte bereits vorher, dass es knirscht im im Getriebe des Valleys.

Und spätestens jetzt scheint klar, dass mit dem bisherigen Geschäftsmodell kein Geld zu verdienen ist: Twitter rückt von der Einschränkung auf 140 Zeichen ab.

Mitgründer und Chef Jack Dorsey warb am Dienstagabend dafür, längere Nachrichten zuzulassen. Die einst auf SMS-Basis eingeführte Grenze animiere zwar zu Kürze und Kreativität, schrieb er. Aber Nutzer wollten auch längere Texte veröffentlichen und luden jetzt als Ausweichlösung Screenshots hoch.

Wenn man ihnen erlauben würde, die Passagen direkt als Text zu posten, könnte man sie zum Beispiel durchsuchbar machen, gab Dorsey zu bedenken. Twitter werde Dinge ausprobieren, die Nutzer haben wollten. Wenn eine getestete Funktion tatsächlich eingeführt werden sollte, werde Twitter Software-Entwickler rechtzeitig unterrichten. Er veröffentlichte seine lange Erklärung demonstrativ als Screenshot in einem Tweet.

Das „Wall Street Journal“ schrieb unter Berufung auf Quellen bei Twitter, die Obergrenze solle auf 10.000 Zeichen hochgesetzt werden. Seit Sommer gilt dieses Limit bereits für direkte Twitter-Nachrichten von Nutzer zu Nutzer. Dabei würden in einem Nachrichtenstrom wie bisher nur 140 Zeichen angezeigt. Um den Rest zu sehen, müssten Nutzer den Tweet anklicken. Ähnlich funktionieren bereits Dienste wie Twitlonger, die Nutzern helfen, längere Texte zu veröffentlichen.

Dorsey will Twitter für Einsteiger attraktiver machen, um das schwächelnde Wachstum der Nutzerzahlen anzukurbeln. Zuletzt war die Zahl der User, die sich mindestens einmal im Monat bei Twitter einloggen, binnen drei Monaten nur um vier Millionen auf rund 320 Millionen gestiegen.

Und bisher ist völlig unklar, wo zusätzliches Wachstum für Twitter überhaupt herkommen soll. Die Verluste werden nicht weniger. Der Aktienkurs ist im Keller. Mitgründer Dorsey ist ans Ruder zurückgekehrt – und will quasi nebenbei den Turnaround schaffen. Schließlich ist er auch noch Vorstandschef der von ihm gegründeten Firma Square, die an die Börse will.

Es ist schon erstaunlich, wie leidenschaftlich das gesamte Silicon Valley die Annahme ignoriert, dass Twitter womöglich ein für die ganze Branche exemplarisches Problem haben könnte.


Zinswende wird das Valley treffen

Viele Zahlen legen indes nahe, dass die Tech-Euphorie zurzeit deutlich an Kraft verliert. Da ist die Aktie des Kameraherstellers Gopro. Nach raketenhaftem Anstieg bis auf 86 Dollar ist der Kurs bis auf 17 Dollar abgestürzt. Vom Schnäppchendienst Groupon oder von der Spieleaktie Zynga wollen wir gar nicht mehr reden. Fatale Anlegerflops.

Bei vielen dieser Unternehmen zieht sich ein roter Faden durch ihre bislang kurze Lebensgeschichte: Es war nicht immer klar, ob sie eigentlich nur ein „One-Trick-Pony“ sind oder ob sie überhaupt einen dauerhaften Sinn haben. Erst war es der Hype um soziale Netze, jetzt ist es der „On demand“-Trend, der die mit billigem Geld am Leben gehaltene Börsenhausse befeuert. Lieferdienste für alles und jeden, „Sharing Economy“ oder Produktideen, programmiert von reichen 20-Jährigen für Probleme von reichen 20-Jährigen.

Jungunternehmen wie Postmates oder Instacart liefern das Sushi nach Hause oder die Zahnstocher ins Büro. Das Problem dabei ist: Sie alle machen immense Verluste und werden nur durch das ständig nachfließende Risikokapital am Leben gehalten – was in der Praxis heißt: Die Nutzerzahlen steigen. Das Geld fließt, weil am Ende ja ein lukrativer Börsengang lockt.

Doch die Investoren werden ängstlich, und diese Angst hat einen Namen: Janet Yellen, Chefin der Notenbank Fed. Sie hat zuletzt die Zinsen angehoben. Amerika und die Weltwirtschaft laufen nicht mehr im Notfall-Modus. Die Folgen der Zinswende werden auch im Silicon Valley spürbar. Wo jetzt aus Mangel an Alternativen kostenloses Geld in jede noch so skurrile Idee gepumpt wird, könnte bald der Nachschub ausgehen. Denn die Aussichten auf die große Belohnung nach dem großen Risiko werden nicht besser. Die Wall Street ist an eine Decke gestoßen, und Neuemissionen haben es schwer.

Die Neuausrichtung von Twitter mit ehemals 20 Milliarden Dollar Börsenwert ist jetzt der Lackmustest für die Funktionsfähigkeit des Silicon Valleys. Bislang ist nicht zu sehen, woher das Wachstum kommen soll, um den Zwitscherdienst vor dem Absturz in die Irrelevanz zu bewahren.

Ob bis zu 10.000 Zeichen die Lösung bringen? Das 140-Zeichen-Limit prägte seit dem Start von Twitter im März 2006 auch den Charakter des Dienstes, in dem es eben eher einen Internet-Link oder ein Bild statt vieler Worte gibt. Außerdem entstand dadurch das Phänomen des Tweetsturms – wenn Nutzer dicht aufeinander Tweets zu einem Thema veröffentlichen, weil sie mehr zu sagen haben. Schon als vor einigen Wochen Gerüchte über eine mögliche Abschaffung der Obergrenze auftauchten, bildeten sich zwei große Lager von Befürwortern und Skeptikern. Twitter könnte mit der einschneidenden Veränderung viele Nutzer verprellen.

Gelingt die Operation nicht, kann sich damit der Himmel für viele Start-ups mit Milliardenbewertungen sehr schnell verdüstern. Weniger Geld, weniger Börsengänge. Dann nimmt die Geschichte im Märchenwald Silicon Valley kein gutes Ende.

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