Veraltete IT Die Geißel deutscher Unternehmen

Deutsche Unternehmen zögern Investitionen in neue IT überdurchschnittlich hinaus und riskieren, den Anschluss zu verlieren. Alte Computer, schlecht vernetzte Systeme und zusammengestrickte Software werden zum Problem.

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Elektronische Datenverarbeitung in den Sechzigerjahren Quelle: Getty Images

Oliver Bäte will, was derzeit alle Manager wollen: im Internet vorankommen. Gleich nach seinem Amtsantritt im Mai hat der neue Chef der Allianz die Digitalisierung der Versicherung zum Kern seiner Strategie erklärt. Kunden sollen Policen künftig im Internet abschließen und ihre Verträge online verwalten können.

Doch wie schnell Bäte das erreicht, ist offen. Als die Allianz im vergangenen Herbst mit großem Tamtam in München ihre neuen Online-Angebote vorstellen wollte, tat sich ein Problem auf: Die Bildschirme und Leinwände im gut gefüllten Foyer blieben dunkel. Grund waren, wie der Konzern einräumen musste, „Probleme beim Hochfahren aufgrund alter Programme“.

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von Florian Zerfaß

Für einen langjährigen Allianz-Manager kam der peinliche Aussetzer wenig überraschend. Die IT des Konzerns sei „zum Teil veraltet“, sagt er. Das mache es schwierig, den von Bäte gepriesenen Online-Vertrieb „in die Systeme hineinzubekommen“. Besonders die Vertreter bekommen die Rückständigkeit zu spüren. Ständig liefen in ihren Agenturen Fehlermeldungen auf, berichtet ein Betroffener. Wer die behoben haben wolle, müsse eine Hotline in Polen anrufen und pro Anfrage fünf Euro bezahlen. Dabei hat die Allianz in Deutschland in den vergangenen drei Jahren schon 80 Millionen Euro in Digitalisierung investiert. Und weitere 100 Millionen sollen folgen, zum Gutteil, um die vorhandenen IT-Systeme aufzurüsten.

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Mit seinen Problemen steht der Konzern nicht allein. Auch andere deutsche Konzerne geben sich modern, doch hinter der Fassade sieht es anders aus. Da behindern alte Computer, schlecht vernetzte Systeme und zusammengestrickte Software nicht selten die Modernisierung des Geschäfts. In Banken und Fluggesellschaften, Versicherungen und Industriekonzernen verrichten vielfach Rechner und Programme ihren Dienst, die längst ins Museum gehörten. Statt die Systeme auszumustern und massiv in den digitalen Aufbruch zu investieren, verwalten viele Unternehmen den Mangel. Solange die veraltete IT irgendwie läuft, halten die Verantwortlichen an ihr fest und programmieren lieber mehr als schlecht um.

Mehr Ausgaben für Hard- und Software

Die Gefahr, nicht nur bei der Allianz: Mittelfristig drohen die Unternehmen bei Trends wie Cloud Computing (Bereitstellung von Software übers Internet), Big Data (blitzschnelle Analyse sehr großer Datenmengen) und Industrie 4.0 (Verschmelzung traditioneller Industrie mit der Digitalwelt) hinter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Im Digital Density Index, mit dem die IT-Beratung Accenture die Digitalisierung der Unternehmen anhand von 50 Kriterien misst, liegt Deutschland nur im Mittelfeld. Von 17 Ländern belegen deutsche Firmen hier nur den neunten Platz, hinter den Niederlanden, den USA und Schweden.

Zwar will die Mehrzahl der deutschen IT-Verantwortlichen künftig mehr Geld für Hard- und Software ausgeben, ermittelte gerade die Beratung Lünendonk im bayrischen Kaufbeuren. Doch die geplanten Ausgaben nehmen sich im internationalen Vergleich eher gering aus. Nach einer Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY wollen deutsche Unternehmen nur 0,8 Prozent ihres Umsatzes in die Digitalisierung investieren – in der Schweiz, Schweden und Südkorea ist es fast doppelt so viel. Die US-Marktforschungsfirma IDC erwartet, dass deutsche Unternehmen ihre Investitionen in IT zwischen 2013 und 2018 jährlich um 3,1 Prozent steigern, gegenüber 3,8 Prozent im weltweiten Durchschnitt.

Die Gründe für die Zögerlichkeit sind durchaus nachvollziehbar. Viele Unternehmen scheuen die teilweise immensen Risiken, die mit einer Totalumstellung verbunden sind. So entschied der für das Fracht- und Speditionsgeschäft der Deutschen Post zuständige Vorstand Roger Crook, seiner 15 Milliarden Euro Umsatz schweren Sparte aus zugekauften Firmen eine komplett neue Software von SAP zu gönnen.

Das Projekt sollte durch Vereinheitlichung und Automatisierung von Abläufen die Kosten senken, die dafür geplanten 750 Millionen Euro schienen gut angelegt. Doch die Daten ließen sich nicht so einfach wie erwartet übertragen. Die unerwarteten Mehrkosten drückten trotz leichten Umsatzwachstums den Gewinn vor Steuern um fast 40 Prozent auf 293 Millionen Euro. Die Veränderung sei „herausfordernder als erwartet“, musste die Post einräumen – und Vorstand Crook seinen Posten räumen.

Hohe Kosten für Wartung und Instandhaltung

Ein anderer Grund für die veralteten Systeme liegt im Beharrungsvermögen deutscher IT-Verantwortlicher. „US-Unternehmen haben vielfach eine stärkere Wegwerfmentalität und sind eher bereit, Altsysteme auszumustern“, sagt Axel Oppermann, Gründer des IT-Analysehauses Avispador in Kassel. Bei deutschen Banken und Energieversorgern sei mehr als die Hälfte der aktuell verwendeten Programme älter als zehn Jahre, das Durchschnittsalter verbreiteter Office-Anwendungen von Microsoft wie Word und Excel liege über alle Branchen bei sieben Jahren.

Damit sparen die Unternehmen zwar bei Neuanschaffungen und Schulungen. Im Gegenzug müssen sie aber mehr ausgeben, um die Systeme funktionsfähig zu halten. Rund 40 Prozent des IT-Budgets gehen für Wartung und Instandhaltung drauf, schätzt die Consultingfirma Capgemini. Berater Hansjörg Leichsenring aus Lütjensee in Schleswig-Holstein geht bei Banken sogar von „weit mehr als 60 Prozent“ aus. Das Geld fehlt für Neuinvestitionen, die einen wirtschaftlicheren Betrieb ermöglichen würden.

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So könnten Luftfahrtgesellschaften ihre Kosten mit moderneren Rechnern um zwei Prozent drücken, heißt es Lufthansa-intern. Das ist ein beachtlicher Betrag bei einer Umsatzrendite von vier Prozent, die die Airlines auch in guten Zeiten bestenfalls erreichen. Flugunternehmen müssen ihre Tickets inzwischen auf mehr als 100 verschiedenen Online-Plattformen anbieten, gegenüber früher in drei oder vier Reservierungssystemen der Reisebüros. Die Lufthansa etwa, die sich zu einer Mischung aus klassischem und Billigflieger zu wandeln versucht, muss sich mit über 90 Datenbanken herumschlagen, die Angaben über die Passagiere speichern.

Experten sehen darin ein großes Hemmnis. „IT ist für alle Airlines eine wesentliche Bremse, wenn sie ihr Geschäftsmodell modernisieren wollen“, sagt Gerd Pontius, Geschäftsführer der Beratung Prologis aus Hamburg. Das gilt umso mehr, als die in anderen Branchen üblichen Standardprogramme fehlen. „Für die Softwareindustrie sind wir ein Nischenmarkt“, klagt Roland Schütz, oberster IT-Verantwortlicher des Lufthansa-Fluggeschäfts. Der Kranichlinie und ihren Wettbewerbern bleibt deshalb nur, Software aus anderen Branchen umzustricken und mit Eigenentwicklungen aufzurüsten. Froh, dass die Anlagen wie erwünscht laufen, halten die IT-Verantwortlichen dann ihre Kreationen oft über Jahrzehnte in Betrieb.

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Von den negativen Folgen können auch andere Branchen berichten. Weil kaum noch jemand weiß, wie die vielen Programme aus alten Zeiten zusammenhängen, müssen dies bisweilen Ruheständler richten. So gibt es im Bankengewerbe Rentner, die als Experten für 2000 Euro pro Tag von einem Institut zum anderen ziehen, da nur sie die Programmiersprache Cobol aus den Achtzigerjahren beherrschen.

Gerade die IT von Banken ist berüchtigt für Puzzles aus Datenbanken, Produktinformationen und Nutzeroberflächen. Banken müssen den Zahlungsverkehr ununterbrochen am Laufen halten und können ihre Systeme daher nicht (wie Industriebetriebe etwa in den Werksferien) für große Überarbeitungen abschalten.

Mehrere Hundert Millionen Euro Einsparungen

So wartete die Commerzbank nach dem Kauf der Dresdner Bank 2008 rund drei Jahre, bis sie deren Kundendaten auf ihre eigene IT überspielte. Statt die Chance für einen Neuanfang zu nutzen, setzt die Bank jedoch weiter auf ihr leidlich erprobtes und angepasstes System.

Diese Vorsicht hält die betrieblichen Kosten hoch. Zudem drohen die Institute hinter digitale Angreifer zurückzufallen. Direktbanken im Internet haben mit moderner Software bereits Marktanteile erobert. Nun tauchen Start-ups auf, sogenannte FinTechs, und bringen mit ihren Systemen Angebote auf den Markt, zu denen Institute mit ihrer alten IT nicht in der Lage sind. Ein Beispiel ist das Berliner Portal Zencap, bei dem Privatanleger Geld in Firmenkredite investieren können.

Zu denjenigen, die einen Schlussstrich unter ihre IT-Vergangenheit ziehen wollen, zählt ThyssenKrupp. Der Essener Stahl- und Technologiekonzern will in den kommenden fünf bis acht Jahren pro Jahr einen dreistelligen Millionenbetrag in seine IT investieren, um das heillose IT-Durcheinander zu beenden. Rund 550 vielfach zugekaufte Tochterfirmen gehören zum Konzern. Die IT wurde nie harmonisiert, den Aufwand haben die Essener bisher stets gescheut.

Nun lässt Vorstandschef Heinrich Hiesinger weltweit fünf eigene Rechenzentren für alle Betriebe bauen. Die konzernweit einheitliche IT soll Arbeitsabläufe automatisieren und so das ganze Unternehmen schneller und effizienter machen. Erhoffte Einsparungen und Mehreinnahmen: schätzungsweise mehrere Hundert Millionen Euro pro Jahr.

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